Steven Soderberghs »Erin Brockovich«

True Stories

Keine trägt Babys und Miniröcke so energisch wie Julia Roberts im Alleinerziehenden-Drama »Erin Brockovich«. Über die Wahrheiten der wahren Geschichte.

Das ist die vorauseilende und möglicherweise gar nicht nötige Verteidigung eines Industrieprodukts, Starvehikels und Auftragswerks. Aber als ich mit einem Freund aus der Pressevorführung von »Erin Brockovich« kam, behauptete er, der Film, die märchenhafte Geschichte einer kleinen Rechtsanwaltsgehilfin, die einen riesigen Konzern in die Knie zwingt, sei ja mal wieder ein klassisches Beispiel für die staatstragende Ideologie der meisten Hollywood-Filme.

Ich kann das - nicht nur in diesem Film nicht - nicht sehen. Was »Erin Brockovich«, wie viele der US-amerikanischen Filme, die hier ins Kino gelangen, transportiert, ist vielleicht die erneute Vergewisserung eines zivilen Grundkonsenses der US-amerikanischen Gesellschaft als eines kollektiven Traums. Oder soll in einem utopischen Sinne moralstiftend sein. Aber nicht als eine dem Staat als Institution hörige Bilder- oder Sinnproduktion. Im Gegenteil: Die Frivolität, mit der im amerikanischen Kino die Regierung und ihre Institutionen von der Polizei über das FBI bis hin zum Präsidenten einer Kritik unterzogen werden, findet im europäischen Kino keine Entsprechung. Nicht im Kino der Autoren (das es in jeder anderen Beziehung zu verteidigen gilt) und erst recht nicht in den aufgeblasenen Staatsaktionen eines Bernd Eichinger. Und dass ernsthaft versucht wurde, einen Popanz von Film wie »Asterix und Obelix« als rebellischen europäischen Widerstandsakt gegen das übermächtige Hollywood-Kino zu verkaufen, zeigt deutlich, wie massiv (auch linke) kulturpolitische Phrasen in vielen Köpfen betoniert sind - und wie sehr sie den Blick verstellen können.

»Eine wahre Geschichte« steht auf einer Tafel zu lesen, dann sehen wir eine Großaufnahme des Gesichts des Hollywood-Stars Julia Roberts. Und das ist schon mal der erste Widerspruch des Films. Es ist wie eine Montage von Godard, wo die Wahrheit und die Schönheit des Kinos im Raum zwischen zwei Behauptungen verborgen ist, die eigentlich einen Widerspruch ergeben. Im Grunde gibt es heute, wo die wahren Geschichten von Spiegel-TV erfunden, von David Lynch gedreht und von Zlatko und Jona gelebt werden, nur noch zwei plausible Gründe, warum ein Film von sich behauptet, eine wahre Geschichte zu erzählen: 1. Als Entschuldigung für eine umständliche und unlogische Entwicklung der Story, also achselzuckend im Sinne von: Die Wirklichkeit richtet sich schließlich nicht nach den Gesetzen des Drehbuchschreibens. 2. Wenn eine Geschichte zwar folgerichtig, aber so unglaubwürdig und klischeehaft daherkommt, dass der Zuschauer denken könnte, das habe sich ein schlechter Drehbuchautor ausgedacht.

Die wahre Geschichte hier ist ein Märchen und handelt von einer gefallenen Schönheitskönigin aus Kansas, die vom zweiten Ehemann mit drei Kindern sitzen gelassen worden ist. Sie hat keine Ausbildung und keine Arbeit und obendrein brettert ihr ein BMW in die Seite ihres rostroten Honda. Den Schadensersatzprozess verliert sie, gerät auf diese Weise aber an einen Frosch, den alten Rechtsanwalt Masry, der schon von den Everglades des Frosch-Paradieses Florida träumt. Dem nötigt sie einen Kuss ab in Form einer Anstellung als Aushilfe in dessen Kanzlei. In einer verstaubten Kiste findet Erin gläserne Schuhe, die sie unverwundbar machen (oder war es ein gläserner Schlüssel?). Es gelingt dem unmöglichen Paar, eine große Volksmenge um sich zu scharen und das dunkle Königreich des Titanen Pacific Gas & Electric zu besiegen bzw. zur Zahlung der höchsten Entschädigung zu bringen, die je in den USA ein Industriebetrieb wegen Verseuchung der Umwelt gezahlt hat.

Die Story des Films dreht sich schwer in den Scharnieren, es ist schließlich eine wahre Geschichte. Und weil der Film sich genau so wenig wie Masry und Brockovich mit PG&E anlegen will, fehlt in der zweiten Hälfte ein wenig das Drama. Die Parteien einigen sich auf einen außergerichtlichen Vergleich, und der Film endet mit einem Scheck auf Erins Schreibtisch. Aber die archetypische Geschichte des amerikanischen Helden - vom Tellerwäscher zum Millionär - ist so, wie der Film sie erzählt, inzwischen nicht mehr vollständig und müsste ergänzt werden: ... und dann wurde ein großer Film gedreht, und Erin Brockovich wurde wirklich unsterblich.

Hier ist die Fortsetzung, die im Kino nicht erzählt wird, es ist die reale Entstehungsgeschichte des Films: Die frischgebackene Millionärin Erin Brockovich verspürt einen Schmerz in der Schulter, sucht eine Chiropraktikerin auf und erzählt dieser ihre Geschichte. Die Chiropraktikerin wiederum behandelt ein paar Tage später die Frau des Hollywood-Produzenten Carlos Santos Shamberg. Der Produzent findet, dass Erin Brockovich das perfekte Rollenmodell für das neue Jahrtausend abgeben könnte, gibt ein Drehbuch in Auftrag und engagiert den teuersten Hollywood-Star für die Hauptrolle und einen klugen Regisseur.

Weil die Geschichte ein wenig zu ausgedacht anmutet, beschließt man, ihr einen dokumentarischen Look zu geben. Man dreht, wo es geht, an Originalschauplätzen mit authentischen Statisten; der Richter, der das Urteil im Film spricht, hat das auch im wirklichen Leben getan, und sogar die echte Erin Brockovich taucht auf. Sie bedient als Kellnerin Julia Roberts, wenn die als Erin zu Beginn des Films in einem Coffeshop ihre letzten Dollars für das Abendessen ihrer Kinder ausgibt. Auf dem Namensschild der wahren Erin steht: Julia. Die Verschränkung von Wirklichkeit und Fiktion geht hier so weit, dass man sich fragt, warum es nicht schon längst einen Oscar für Personen gibt, die ein filmreifes Leben führen.

Zurück zum Anfang: Die Großaufnahme von Julia Roberts gehört zur ersten Szene des Films, der Exposition, einem Vorstellungsgespräch von Erin, der arbeitslosen Mutter dreier Kinder, die sich bei einem Arzt um einen Job als Sekretärin bewirbt. Wir sehen Julia Roberts, die dem Arzt ihr Leben erzählt, die Geschichte ihrer wechselnden Jobs und warum sie sie immer wieder aufgeben musste. Dann sehen wir den Arzt, der ihr zuhört, dann wieder Julia Roberts. Die Szene ist schlicht aufgelöst, Schuss, Gegenschuss, wie in einem Fernsehspiel. Und doch ist dies einer der großartigsten Filmanfänge, die ich in den letzten Jahren gesehen habe, weil er der Intelligenz und Neugier des Zuschauers vertraut und ihn ohne die üblichen Überwältigungsversuche Entdeckungen machen lässt.

Julia Roberts hatte ich bis dahin eher als Idealbesetzung für Cinderella-Rollen wahrgenommen. Sie war eine Prinzessin aus der Unterschicht, vollständig nur mit dem Gemahl, der sie ihrer wahren Bestimmung zuführt, wie Richard Gere in »Pretty Woman«. Ein Star, funktional einsetzbar für bestimmte Rollenklischees, die Julia Roberts perfekt ausfüllt und mit Glanz versieht. Das ist ja schon eine ganze Menge. Und eine Variation dieser Rolle spielt sie auch hier. Aber was sie schon in den paar Minuten, die diese erste komische Szene dauert, an Abgründigem andeutet, wie sie sich hier in ein Scheitern hineinredet, in einem komischen und gleichzeitig verzweifelt verdrehten verbalen Slapstick, und zur selben Zeit dem Zuschauer die komplexe Situation nicht nur dieser speziellen Figur Erin Brockovich deutlich macht, sondern daneben auch aller anderen allein erziehenden Mütter und arbeitsuchenden Frauen in einem misstrauischen System mit einem nur bedingt entwickelten sozialen Netz; mit welcher Klugheit und Vehemenz sie die Miniröcke, ihre Halskrause und ihre Babys trägt, wie sie den Zuschauer auf diese Figur neugierig macht und den Raum dieses Films öffnet - das ist tragisch und komisch und: große Kunst. Und genau hier, in der Leidenschaft und Aufmerksamkeit des Blicks, liegt auch die Wahrheit in diesem Film verborgen, nicht in der Story, die schon als wahre Geschichte eine irgendwie auch langweilige und vorhersehbare Heldengeschichte ist.

Im Forum der diesjährigen Berlinale lief ein pathetischer und etwas dämlicher Dokumentarfilm-Essay über die Geschichte des Cinema Verité, »Defining the Moment« hieß die Arbeit des kanadischen Filmemachers Peter Wintonick, in dem es nur einen wirklich wahrhaftigen Satz gibt, gesprochen von Frederick Wiseman, einem der strengsten Puristen des amerikanischen Dokumentarfilms. Darin bezog er sich auf seine eigenen Filme und auf den Dokumentarfilm überhaupt, auf alle wahren Geschichten und natürlich erst recht auf Hollywoodfilme, und der Satz lautet: »Alles ausgedacht und erlogen.«

»Erin Brockovich«, USA 2000. R: Steven Soderbergh, D: Julia Roberts, Albert Finney, Aaron Eckhart. Start: 6. April