Polen sehnt sich nach den Siebzigern

Vorwärts in die Vergangenheit

Polen hat Sehnsucht nach den Siebzigern. Eine Umfrage zeigt die Probleme des Landes seit der Wende.

Billige internationale Waren, offene Grenzen und Coca-Cola - mit solch profanen Dingen lassen sich die Polen nach Meinung der Gazeta Wyborcza neppen. Die größte polnische Tageszeitung stellt fest, dass »ein subjektives Gefühl von Wohlstand den Leuten wichtiger ist als Freiheit«.

Anlass für das kritische Urteil ist eine Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts OBOP. Danach glaubt die überwältigende Mehrheit der Polen, dass ausgerechnet in den siebziger Jahren die Leute »am besten gelebt« haben. Dagegen halten nur 20 Prozent die letzten zehn Jahre für die besten des vergangenen Jahrhunderts. Sollte etwa der große Freiheitskampf, zu dem die Wende in der polnischen Öffentlichkeit stilisiert wird, umsonst gewesen sein?

Ein Aufschrei ging durch die antikommunistische Intelligenzija. Ein »kurzes Erinnerungsvermögen« bescheinigt Prof. Miroslaw Maroda den Polen in der Gazeta Wyborcza. Der Soziologe Andrzej Rychard vermisst bei seinen Landsleute das nötige Abstraktionsvermögen: Sie seien nicht in der Lage, das Wohl der Nation von ihrer individuellen Vergangenheit zu trennen.

Doch was macht die siebziger Jahren so besonders? Warum erinnern sich heute derartig viele Polen so positiv an dieses Jahrzehnt? Alles begann mit den Protesten und Demonstrationen vom Dezember 1970, die durch die drastische Erhöhung der Lebensmittelpreise ausgelöst worden waren. Es kam zum Führungswechsel innerhalb von Staat und Partei. Das Politbüro wurde verjüngt und Edward Gierek als neuer erster Sekretär eingesetzt. Nach ihm werden in Polen die Siebziger auch als die Ära Gierek bezeichnet.

Der neue erste Mann wurde mit Symphatie begrüßt: Er galt als »wenig ideologischer« Wirtschaftsfachmann, verständigte sich mit der katholischen Kirche und widerrief die Preiserhöhungen. Die Sowjetunion half mit Produktionsmitteln aus, Konsum und Wohnungsbau florierten. Autos und Eigentumswohnungen wurden erschwinglich, der Westexport nahm zu und die Reallöhne stiegen stark an.

1975 erhielt Polen Kredite aus der Bundesrepublik und aus Frankreich. Zusätzlich wurden die Sozialversicherungsbeiträge zurückerstattet, die polnische Zwangsarbeiter während des Krieges in Deutschland hatten zahlen müssen. Auch die Banken in Westeuropa, insbesondere in Deutschland, sahen ihre Chance und kreditierten den polnischen Gesamtkapitalisten.

Doch wie es eben so ist mit Investitionen in die Zukunft: Sie sind riskant. Erdölkrise, Rezession im Westen, zwei Missernten und die Unmöglichkeit, an den Lebensmittelpreisen zu rühren - all das trübte die Finanzlage Polens zusehends. Die Rückzahlung der Kredite wurde immer schwerer und noch heute stottert Polen seine Schulden an westliche Gläubiger ab.

Entsprechend tönt es nun aus der postsolidarischen Ecke, die volksrepublikanische Propaganda habe verschwiegen, dass alles auf Pump war. Die Kommunisten hätten damals Geld ausgegeben, das das heutige Polen mühsam abbezahlen müsse. Der Soziologin Jadwiga Staniszkis erscheint gar das ganze Leben während dieses Jahrzehnts als ein großer Kredit.

Der Wirtschaftsberater der derzeitigen Solidarnosc-Regierung, Waldemar Kuczynski, relativiert das Umfrage-Ergebnis: Das Bewusstsein der Massen sei eben »selektiv«. Denn eigentlich wären nur die Jahre 1971 bis 1973 bessere Jahre gewesen. Er gibt zu bedenken, dass zu den Folgen der damaligen Schuldenmacherei auch die späteren Finanzprobleme und die daraus resultierenden Unruhen in den achtziger Jahren gehören. Nach seinen Einschätzungen werde man noch bis 2020 an diesen Schulden zu tragen haben.

Die postkommunistische Linke habe mit diesem Umfrage-Ergebnis im wahrsten Sinne des Wortes auf ihre Kosten einen diskursiven Sieg errungen, beschwert sich die regierende Rechte. Schließlich bezahlt sie heute jene Schulden zurück, die die Kommunisten einst »völlig verantwortungslos« aufgenommen hatten, nur um die »Ruhe im Land« zu wahren. Die Nachfolger der kommunistischen Schuldner halten ihrerseits den Repräsentanten des derzeitigen Systems vor, die Leute würden sich nach sozialer Sicherheit, kostenloser Bildung und einer Welt ohne Arbeitslosigkeit sehnen. Mit ihrem Kreuzchen hätten sie gegen den »enthemmten Kapitalismus« protestiert.

Also vorwärts in die Vergangenheit? Nur unter Vorbehalten: Natürlich ist man mächtig stolz darauf, den Kommunismus besiegt zu haben, stellten die Meinungsforscher fest. All die erkämpften Rechte und Freiheiten inklusive der ebenso freien Marktwirtschaft würden im Herzen eines jeden Polen ganz hoch im Kurs stehen.

Die Gründe seines Stolzes sind gleichzeitig jene seiner größten Scham: Armut und Arbeitslosigkeit, den geringen Lebensstandard und die fehlende soziale Sicherheit halten viele für eine nationale Schande. Sie wiege ebenso schwer wie die Sünde, 45 Jahre lang den Sozialismus ertragen oder sogar mitgetragen zu haben.

Mit Genugtuung blickt man dagegen, wie aus der Umfrage hervorgeht, auf die außenpolitische 180-Grad-Wende inklusive Nato-Beitritt. Stolz sind die Befragten auch über den Sieg im zweiten Weltkrieg, der - etwas untertrieben ausgedrückt - »mit Unterstützung« jener Kräfte errungen wurde, die man heute zum Teufel wünscht. Denn auf »Unabhängigkeit und Souveranität« - selbstredend von »Moskau« - bildet man sich ebenfalls etwas ein.

Insgesamt scheint die nationale Stimmung gut. Nationalbewusstsein legt man selbst bei heikleren Themen an den Tag. So gedenken viele gerne des »Wunders an der Weichsel«, des Sieges im polnisch-sowjetischen Krieg 1919/20, der von Polen ausgegangen war. Dieses Umfrage-Ergebnis verwundert nicht sonderlich: Des Kriegsherrn und Militärdiktators der Zwischenkriegszeit J-zef Pilsudski wird in jeder größeren Stadt mit einem Straßennamen oder einem Denkmal gedacht.

Auch Papst Johannes Paul II. sorgt für nationales Behagen: 18 Prozent der Befragten gaben an, man könne »als Pole« stolz sein, dass 1978 ein Landsmann Papst wurde. Die Bekämpfung des Analfabetentums halten dagegen weniger als ein Prozent für erwähnenswert.

Und was stört die Polen an ihren Landsleuten? »Faulheit, Trunksucht, Streitsucht, Neid und Eifersucht« nannte jeder Zehnte als die beklagenswerten »nationalen Nachteile«. Na dann Prost!