Mainstream der Minderheit

Sozialdemokratie oder Bedeutungslosigkeit: Nach Gysis Abgang als PDS-Fraktionschef wird die Luft für Parteilinke noch dünner werden.

August Bebel, Mitbegründer der SPD und kein Freund der radikalen Parteilinken, hat als Reichstagsabgeordneter einmal einen Ausspruch getan, der auch für Gregor Gysi von Interesse sein könnte: »Ich habe Beifall von Rechts, habe ich etwas Falsches gesagt?«

Von dem PDS-Fraktionsvorsitzenden, der sich zur Zeit vor Beifall kaum noch retten kann, hört man so etwas nicht. Dabei hat sich in den letzten Tagen eine wahre Einheitsfront rechts von der PDS zusammengefunden, die ihm Schützenhilfe gab, um die Politikfähigkeit der PDS zu sichern. Selbst das Angebot einer SPD-Mitgliedschaft, ausgesprochen durch den ostdeutschen Bundestagsabgeordneten Mathias Schubert, blieb dem Sozialisten nicht erspart: »Wir bieten denen, die sozialdemokratisch orientiert sind, sich politisch engagieren wollen und das in der PDS nicht mehr können, eine politische Heimat an«, offerierte Schubert.

Gysi lehnte postwendend ab. Dabei ist die PDS, glaubt man dem von ihm selbst verbreiteten Bild nach dem Münsteraner Parteitag, auf dem besten Wege, eine Partei zu werden, die mit dem, was die bisherige Parteiführung wollte, nichts mehr zu tun hat. PDS-Vordenker Thomas Falkner hat sein Horrorszenario bereits dem Spiegel mitgeteilt: »Eine Parteivorsitzende Sylvia-Yvonne Kaufmann an der Kette der Fundamentalisten in kommunistischer Plattform und marxistischem Forum.«

Kommt also der Bolschewismus wieder, wie es die CDU im Wahlkampf in Sachsen-Anhalt 1994 vorhergesagt hat? Ein untrügliches Indiz dafür hat die erzürnte Parteispitze bereits entdeckt: Die störrische Mehrheit der PDS-Basis hat der Fraktion ihre Zustimmung zu einer Revision des PDS-Programms verweigert. Für die Fraktion heißt das, dass sie auch zukünftig nicht im Einzelfall prüfen kann, ob eine Zustimmung der PDS zu Kriegseinsätzen nach Kapitel VII der UN-Charta denkbar wäre.

Und es heißt mehr: Mit dem Nein von Münster sind die Träume des Bundesgeschäftsführers und bisherigen Kronprinzen der Partei, Dietmar Bartsch, die PDS bis zum Jahr 2002 auf Bundesebene koalitionsfähig zu sein, aller Voraussicht nach wie eine Seifenblase zerplatzt. In der Öffentlichkeit sorgte diese Tatsache für breites Unverständnis. Der Tenor: Es kann nicht sein, dass eine Partei nicht allzeit bereit ist, jede Politik unter allen Umständen mitzuverantworten, von Natur aus nicht.

Was es im parlamentarischen System der Bundesrepublik bisweilen bedeuten kann, wenn sich die eigenen politischen Positionen nicht mit denen der anderen Parteien als kompatibel erweisen, hat am deutlichsten der SPD-Generalsekretär Franz Müntefering ausgesprochen. Er benannte die PDS kurzerhand in die »Partei der Sektierer« um.

Die Vorlagen dafür freilich bekam Müntefering frei Haus aus den Chefetagen des Karl-Liebknecht-Hauses in Berlin-Mitte geliefert. Denn dort übte man sich in ungehaltener Maßregelung der Basis und stigmatisierte die stellvertretende Vorsitzende Sylvia-Yvonne Kaufmann bzw. generell die parteieigenen Antimilitaristen als ewiggestrige DDR-Eliten und Dogmatiker, die die von Gregor Gysi mühsam errichteten Brückenköpfe zur Gesellschaft sprengen - ewiggestrige Kriegsgegner sozusagen.

Der Parteitag von Münster zeigt, dass die PDS-Führung längst da angekommen ist, wo man sie je nach Standpunkt schon immer oder noch nie haben wollte: im politischen Koordinatensystem eines Gerhard Schröder, das der Bundeskanzler mit der Feststellung, es gebe zur Politik der Bundesregierung keine Alternative, treffend zusammengefasst hat. Auch für die PDS beginnt Veränderung längst nicht mehr mit Opposition, sondern mit der Niederlassung in den Sesseln der Macht.

Politikfähigkeit schreibt sich für die PDS-Spitze Koalitionsfähigkeit, also die Fähigkeit, jene Exekution vermeintlicher Sachzwänge zu betreiben, für welche die Grünen schon vor über zehn Jahren den Begriff der »Realpolitik« generiert haben, um die radikalen Positionen der Parteilinken als irreal, weltfremd, versponnen usw. zu denunzieren. Dass der, der sich in die Realpolitik begibt, auch darin umkommt - und manchmal kommen andere Menschen tatsächlich um -, zeigt nichts deutlicher als die Verrenkungskunst der Grünen, deren damalige Bundesgeschäftsführerin Heide Rühle im Oktober 1999 selbst die Kriegsdrohung der Nato gegen Jugoslawien noch als »Pazifismus unter den aktuellen Bedingungen« bezeichnete. Die Berliner Landesvorsitzende Petra Pau jedenfalls beschwerte sich nach dem Waterloo von Magdeburg prompt: »Die Politikfähigkeit der PDS ist gefährdet.« So einfach ist das heute: Wer gegen Militär ist, kann keine Politik machen.

Die PDS-Spitze tut alles, um den von ihr erkannten Missstand zu beseitigen. So wurde das unschickliche Verhalten einiger Mitglieder des Hamburger Landesverbandes auf dem Parteitag systematisch zum Symbol für die antimilitaristische Position der Parteimehrheit aufgebaut, als ob nicht nur die Handvoll Delegierten aus der Hansestadt, sondern gleich alle Opponenten sich geschmacklos benommen hätten. Und wenn sich die eigene Meinung nicht als mehrheitsfähig erweist, wird auch schon einmal über einen »symbolischen Akt« (Gysi) gegen Mitglieder nachgedacht, die sich gegen den PDS-Konsens stellen.

Es blieb dem Neuen Deutschland überlassen, dies zu übersetzen: »Offenbar« seien »Ausschlüsse im Gespräch«. Gysi, dem einst bei seinem Antritt in der SED-PDS ein Besen überreicht worden ist, hat seine Nachfolger aufgefordert, sich »nicht mehr alles bieten zu lassen«. Will heißen: Der Nächste soll gründlicher als er mit dem eisernen Besen auskehren, um eine klare Profilierung der PDS zu ermöglichen.

Die Partei muss wohl angesichts der Niederlage der Reformer von 219 zu 126 Stimmen bis zum nächsten Sonderparteitag im Herbst mit einem fürchterlichen Mitgliederschwund rechnen. Und so ist auch in der PDS nichts für die Ewigkeit. Lothar Bisky hat unmissverständlich klargestellt, dass man sich als Vorstand einer Mehrheit zwar unterordnen, ihre Entscheidungen aber nicht für richtig halten müsse. Gysi ergänzte, er sei überzeugt, dass der Tag kommt, »an dem wir das korrigieren«.

Eine Grundlage dafür bietet der Anhang, den der Ehrenvorsitzende Hans Modrow unter allgemeiner Zustimmung dem unter Tränen vorgetragenen Antrag der stellvertretenden Vorsitzenden Sylvia-Yvonne Kaufmann beigefügt hat. Zwar muss demnach die Fraktion UN-Militäreinsätze kategorisch ablehnen, prüfen, ob sie eigentlich gerne zustimmen würde, darf sie aber trotzdem. In der anstehenden Programmdebatte wird diese Vorlage noch von Bedeutung sein. Und mit der Frage nach den Nachfolger für die scheidenden Shooting-Stars Gysi und Bisky wird ohnehin der innerparteiliche Linienstreit forciert. Ein zweites Mal will man sich beim Marsch in die Institutionen bestimmt kein Bein mehr stellen lassen.

Ë propos Realpolitik: Die Frage nach dem politischen Gebrauchswert einer PDS, die der abgehende Parteivorsitzende Bisky nach den Wahlen in Schleswig-Holstein für den Westen aufgeworfen hat, könnte sich allerdings noch einmal ganz anders stellen, wenn sich die Vorstandsmehrheit durchsetzt. Oskar Lafontaine, der mit den Problemen der Sozialdemokratie durchaus vertraut ist, hat schon einmal darauf hingewiesen, dass Deutschland eigentlich keine zwei sozialdemokratische Parteien braucht. Auch in dieser Hinsicht, der Frage der Unterscheidbarkeit im Parteiensystem, ist die Entwicklung der Grünen lehrreich.

Aber bis es so weit kommt, kann sich die PDS ja noch auf ihre sozialistischen Ursprünge besinnen. Wie wäre es zum Beispiel mit Mao Tse Tung? »Probleme ideologischen Charakters oder Streitfragen, die im Volke entstehen, können nur mit der Methode der Demokratie, mit der Methode der Diskussion, Kritik, Überzeugung und Erziehung, nicht aber durch Zwangs- und Unterdrückungsmaßnahmen gelöst werden.« (»Über die richtige Behandlung der Widersprüche im Volke«, 27. Februar 1957) Wenn das zu dogmatisch ist, gibt es immer noch Angela Merkel und ihre Regionalkonferenzen. Letztere, das hat der PDS-Landesvorsitzende von Mecklenburg-Vorpommern, Helmut Holter, klargestellt, kommen für die PDS nicht in Frage: Den Vorschlag macht immer der Vorstand.