Erinnerung an Rolf Dieter Brinkmann

Schrotti überalli

Das Papier macht weiter: Am 16. April wäre Rolf Dieter Brinkmann 60 Jahre alt geworden, am 26. ist sein 25. Todestag.

Es gibt schon merkwürdige Zufälle, tragische auch. In »Gras« (1970), Rolf Dieter Brinkmanns letztem, von der Kritik kaum mehr wahrgenommenen Gedichtband vor dem großen Siebziger-Blues und zeitweiligen Verstummen, imaginiert er sein eigenes Ende: »Das Gras ist verblaßt. Jetzt wird es Zeit, sich auf einen Unfall vorzubereiten, der nichts Erschreckendes für mich haben wird!«

Ich glaube ja nicht an Vorhersehungen und Weissagungen, ich glaube ausschließlich an die grauenhafte Willkür des Fatums, aber für einen Moment kommt man doch ins Grübeln, wenn man den Ausriss aus der Bild-Zeitung wieder liest: »Deutscher Dichter / dpa. London, 26. 4. Der 35jährige Dichter Rolf Dieter Brinkmann ('Die Umarmung') ist in London von einem Auto überfahren worden. Er starb.«

Ein Unfall. 1975 war das, kurz bevor »Westwärts 1 & 2«, Brinkmanns damals bekanntester Gedichtband und, wie gesagt, sein erstes Buch nach fünf Jahren, erschien. Nicht gerade ein Rock-'n'-Roll-Tod, schon gar kein Heldentod. Aber wer weiß, wenn ihn damals kein Auto erfasst hätte, dann wäre das Buch vielleicht auch kein Bestseller geworden, hätte man ihm keinen Petrarca-Preis verliehen und vermutlich auch nicht den Heiligenschein der Hochliteratur aufgesetzt. Denn bis zu seinem Tod galt er in der linken Subkultur zwar so einiges, bei Kennern der lyrischen Szene als Geheimtipp und bei Stipendienvergabe-Kommissionen immerhin als durchaus förderungswürdiger Autor, in der breiten Öffentlichkeit aber wurden seine Texte eigentlich nicht wahrgenommen, abgesehen vielleicht von dem kurzen schrillen Feedback Ende der sechziger Jahre, als er zum Stellvertreter der deutschen Pop-Literatur aufstieg, dem gutbürgerlichen Kulturbetrieb mit körnigen Sottisen die Leviten las (»Die Toten bewundern die Toten!«) und bisweilen wegen seiner kruden, unkalkulierbaren Zornesausbrüche für Furore sorgte.

Nachgerade legendär jener Abend im November 1968 in der Westberliner Akademie der Künste, wo er den Literaturkritikern Rudolf Hartung und Marcel Reich-Ranicki mit den Worten »Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, würde ich Sie über den Haufen schießen!« den Abend verdorben und folglich die Diskussionsrunde gesprengt haben soll. Und das, obwohl Reich-Ranicki den hier gemeinten Roman »Keiner weiß mehr« durchaus wohlwollend besprochen hatte.

Mittlerweile geht es dem Brinkmann-Werk wie dem Arno Schmidts: Eine Gemeinde von Addicts schart sich um die Texte, und sogar die Germanistik hat ihn schon inkorporiert. Dabei fielen Brinkmann zu deutscher Grübeligkeit eigentlich nur ganz konkrete Kraftworte ein. Nein, das Profane interessierte ihn, die möglichst authentische, möglichst unmittelbar wahrgenommene Wirklichkeit. Nun weiß der moderne Künstler, der sich wie Brinkmann die Techniken des Nouveau Roman draufgeschafft hat und in seinen frühen Prosapublikationen »Die Umarmung« (1965) und »Raupenbahn« (1966) eisern daran entlangschreibt, dass es Realität an sich gar nicht gibt, dass sie erst in der Brechung durch unseren Wahrnehmungsapparat entsteht. In diesem Fall macht man eben die Not zur Tugend, verschreibt sich einem radikalen Subjektivismus und postuliert: »ein Sehen das nicht zuerst über die kuriosen Balanceakte der Grammatik geschieht (...). Warum lieben Sie nicht Ihre Schuhsohlen? Auf denen Sie doch herumlaufen, und warum werden nicht Gedichte über Schuhsohlen oder Unterhosen oder Lippenstifte geschrieben?«

So scheinbar unscheinbar seine Gedichte auch sind, so kalkuliert sind sie auch. Brinkmann wollte trivial sein: »Ich hätte gern viele Gedichte so einfach geschrieben wie Songs. Leider kann ich nicht Gitarre spielen, ich kann nur Schreibmaschine schreiben, dazu nur stotternd, mit zwei Fingern. Vielleicht ist mir aber manchmal gelungen, die Gedichte einfach genug zu machen, wie Songs, wie eine Tür aufzumachen, aus der Sprache und den Festlegungen raus.«

Kurzum, die Sprache mit ihren Festlegungen sprachlich hinter sich zu lassen, die Einmaligkeit des Augenblicks, der versprachlicht schon wieder einer von vielen ist, trotzdem in Worten festzuhalten, das sind die paradoxen Forderungen an seine, an jede Literatur. »Einübung einer neuen Sensibilität« heißt das Programm, eine Sensibilität, die sich nicht mehr blind auf Worte verlässt, weil sich mit diesen Keksförmchen nur genormte Figuren aus dem großen Teig des Lebens ausstechen lassen.

So ein poetologisches Programm entsteht nicht aus dem Nichts. Brinkmann war affiziert von der amerikanischen Underground- und Pop-Szene, vor allem von jener jungen Literatur, die den propagierten Sensualismus und die Hinwendung zum Alltäglichen und Trivialen schon eine Weile praktizierte. Und er setzte alles daran, ihrer Rezeption in Deutschland den Boden zu bereiten, um die hiesige Mausoleumskultur über kurz oder lang zum Einsturz zu bringen. Und zwar nicht nur mit seiner eigenen schriftstellerischen Arbeit, sondern auch - kurzfristig vielleicht sogar noch wirkungsmächtiger - als Übersetzer und Herausgeber von Anthologien. Vor allem einer Anthologie, die in Kollaboration mit seinem Freund Ralf Rainer Rygulla entstanden ist: »Acid. Neue amerikanische Szene« (1969).

Aber schon bald ist der Spaß vorbei. Der Markt vereinnahmt die »Gegenkultur« und bricht ihre Spitze. Bald darauf marschieren auch die ehemaligen Protestler los, im Gleichschritt durch die Institutionen - und erkennen so langsam die klimatischen, kulinarischen und anderen Vorzüge der Toscana. Vorbei die Hoffnung auf eine Veränderung der Literatur (und langfristig auch der Gesellschaft) durch die Pop-Subkultur. Brinkmann fällt in eine tiefe Depression und zieht sich langsam aus der Öffentlichkeit zurück. Nicht ganz freiwillig, denn viel will die von ihm auch nicht mehr wissen. Aber die Rückbesinnung auf das schreibende Selbst setzt auch eine neue Produktivität frei. Brinkmann experimentiert mit avantgardistischen Schreibweisen, mit Montage und Collage. Es entstehen Mappen und Collagebücher. Das eindrucksvollste dieser erst postum veröffentlichten scrap books, die als Vorarbeiten zu einem neuen Roman angelegt waren, ist wohl »Rom, Blicke« (1979). Hier versucht er in Fotos, Postkarten, Quittungen, Stadtplänen, Collagen, Briefen an seine Frau Maleen sowie an Freunde und Kollegen, Tagebuch- und Lektürenotizen seinen Aufenthalt - er war 1972/73 Stipendiat der Villa Massimo - eins zu eins abzubilden. Eine gewaltige Hasslatte: »Schrotti überalli«. Kaum etwas hält seinem Exekutoren-Blick stand: nicht die Mit-Stipendiaten an der Villa Massimo, nicht die Linksintellektuellen, nicht der Kulturbetrieb, ein paar literarische Solitäre allerhöchstens - und seine Frau, der er seitenlang und beinahe quälend minutiös seine Befindlichkeiten beschreibt.

Quälend auch deshalb, weil er jegliche Stilisierung fahren lässt, ein amorphes Ad-hoc-Protokoll liefert, das auf den Leser keine Rücksicht nimmt (in dieser Form von Brinkmann aber auch nicht zum Druck vorgesehen war). Rom wird zur Großmetapher für die verwesende Zivilisation, ihren äußeren wie inneren Zerfall, für das zum Untergang verurteilte Abendland. Durch Brinkmanns rücksichtsloses und nachgerade dokumentarisches Stenogramm bekommen wir allerdings auch einen detailreichen Einblick in die Kulturszene der sich langsam sedierenden Protestgeneration: Kleidungs- und Diskussionsgebaren, Haartrachten, Strategien der Stipendienakquisition und andere Nichtigkeiten des intellektuellen Alltags, die man in keiner Kulturgeschichte findet.

Ob es aber als Werk wirklich gelungen ist? Beeindruckend, doch, das ist es schon, dieses monomanische, alles, das heißt auch sich selbst sezierende Bewusstseinsprotokoll, aber über weite Passagen eben auch von einer prosaischen Nichtigkeit, einer Durchschnittlichkeit, stellenweise sogar von einer Dummheit und dumpfen Spießigkeit, die man diesem Renegaten und Philisterschreck eigentlich gar nicht zugetraut hätte. Aber gerade, wenn die Lektüre wieder einmal zu enervieren beginnt, landet man bei einer dieser kleinen lyrischen Inseln, die dann doch versöhnlich stimmen: »Ich komme aus dem Moor, ich habe schwarze verkohlte Bahnböschungen hinter mir gelassen, früher Rock 'n' Roll darüber geweht, verbranntes Stangenpulver, ein ausgebleichtes Kornfeld im Sommer mit hineingetretenen verwirrenden Gängen, den Geruch von blühender zerriebener Kamille, und ich bin durch Großstädte geschleift, ich bin in Urinlachen geschwommen und habe allerlei dunkle Dinge gesehen und habe einiges kurz davon gekostet - was also solls, was die 'moderne' Welt mir zu bieten hat?«

Ein bisschen was scheint sie für Brinkmann aber doch noch einmal zu bieten zu haben, in seinem letzten Lebensjahr. Denn die halsstarrig-pauschale Zivilisationskritik wird wieder etwas zurückgenommen und vor allem differenziert. »Westwärts 1 & 2« war ein Neuanfang und trotz der bedrückenden Enge in der Kölner Wohnung, trotz Armut und Existenznot ein durchaus hoffnungsvoller - oder doch zumindest ein standhafter, unbeugsamer, mit zusammengebissenen Zähnen: »Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Rock 'n' Roll-Sänger machen weiter, die Preise machen weiter, das Papier macht weiter, die Tiere und Bäume machen weiter (...).«