WTO-Beitritt Chinas

Den Export reiten

Der Streit um den Beitritt zur Welthandelsorganisation macht deutlich, dass China schon längst eine Handelsmacht ist.

Raten Sie den Kandidaten: Es geht um ein rückständiges Bauernland, in dessen Dörfern rund ein Fünftel der Weltbevölkerung lebt. Um ein Land, dessen Wirtschaftskraft pro Kopf kaum mehr als fünf Prozent von der Japans ausmacht. Klar, es geht um China.

Nun raten Sie nochmal. Es geht um ein Land, das als Folge seiner rasanten Entwicklung und seiner Größe mittlerweile zu den zehn größten Exportnationen der Welt gehört und entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Weltwirtschaft hat - und das, ohne Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO) zu sein. Auch das ist China.

Die mit den achtziger Jahren einsetzende Umwandlung Chinas in eine kapitalistische Gesellschaft war von Beginn an auf den Export orientiert. Die chinesische Führung setzte auf die Errichtung so genannter Sonderwirtschaftszonen in den östlichen Provinzen, in denen durch die Kombination aus billigen Arbeitskräften, niedrigen Steuern und umfangreicher Infrastruktur ausländisches Kapital angelockt wurde.

Es waren diese Sonderwirtschaftszonen, die China die weltweit höchsten Wachstumsraten sowohl in der Industrieproduktion als auch beim Bruttoinlandsprodukt (Bip) ermöglichten. Als Folge der zunehmenden volkswirtschaftlichen Bedeutung dieser Zonen stieg auch die Bedeutung der Exporte rasant an. Diese sind in den letzten 20 Jahren beinahe doppelt so schnell wie die gesamte Wirtschaft gewachsen, sodass China heute fast ein Viertel seines Bip exportiert. Zugleich wird die nationale Industrie durch hohe Zollbarrieren geschützt, was große Handelsbilanzüberschüsse nach sich zieht.

Als Japan und die BRD nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer ähnlichen Strategie ihr hohes Akkumulationstempo erzielen konnten, war das wegen einer stark wachsenden Weltwirtschaft kein Problem. Aber seit den siebziger Jahren ist die globale Ökonomie zunehmend von Überproduktion und Überkapazitäten geprägt, zum Teil auch deshalb, weil nicht nur China, sondern fast alle so genannten Entwicklungsländer versuchen, ihre Wirtschaft durch Exportüberschüsse zu dynamisieren.

Die Ursachen für diesen Prozess sind zu großen Teilen in den westlichen Staaten zu suchen. Nicht nur, dass Teile ihrer polit-ökonomischen Strukturen wie IWF und Weltbank zunehmend daran arbeiteten, die Märkte der Entwicklungsländer zu öffnen und diese verstärkt auf den Weltmarkt zu orientieren.

Mindestens ebenso bedeutend ist, dass das internationale Kapital selbst diese besondere Form der Industrialisierung erst ermöglicht hat - zunächst über umfangreiche und gewinnbringende Kredite, seit den neunziger Jahren vor allem über Direktinvestitionen. Allein nach China sind in den letzten Jahren über 40 Milliarden US-Dollar jährlich in Form ausländischer Direktinvestitionen (Foreign Direct Investment, FDI) geflossen, sodass heute rund ein Drittel aller chinesischen Exporte direkt von ausländischen Konzernen produziert werden.

Es waren zu großen Teilen diese FDIs, die die weltweite Überproduktionskrise verschärft haben - mit Folgen, die rückständige Länder wie China hart treffen. Das Hauptproblem sind sinkende Weltmarktpreise gerade für arbeitsintensiv produzierte Waren. Ein Beispiel: Mehr als 16 Prozent aller Exporte Chinas entstammen der Bekleidungsindustrie, womit das Land in dieser Branche ein Viertel des Weltmarktes hält. Genau in diesem Industriezweig sind die Preise in den letzten beiden Jahren aber um zehn Prozent eingebrochen, und das bei etwa gleich gebliebenen Produktionskosten. Wegen der hohen Verschuldung vor allem der staatlichen Wirtschaft ist klar, dass diese weitere Verschlechterung fatale Konsequenzen haben muss.

Der britische Economist schätzt die Gesamtverschuldung des chinesischen Staates schon jetzt auf 100 Prozent des Bip, wobei knapp ein Fünftel des gesamten Steueraufkommens für die aus den Schulden resultierenden Zinsen ausgegeben werden muss.

Der chinesischen Gesellschaft hat die Industrialisierung der vergangenen zwanzig Jahre eine stetige Verbesserung des Lebensstandards für breite Teile der Bevölkerung ermöglicht - die Weltbank schätzt, dass in diesem Zeitraum über 200 Millionen Chinesen aus der absoluten Armut gerissen werden konnten. Andererseits sind vor allem in den letzten Jahren bisher unbekannte soziale Probleme aufgetreten, die die offiziellen Grundsätzen der sozialen Gleichheit in Frage stellen.

Erst kürzlich meldete das nationale statistische Amt Chinas, dass in einigen Staatskonzernen das Einkommen der Spitzenmanager jenes der Arbeiter um das 200fache übersteigt. Noch relevanter scheint das Problem der Arbeitslosigkeit zu werden: Unterschiedliche Schätzungen gehen von fünf bis zehn Prozent aus - obwohl die staatseigenen Konzerne weit mehr Arbeiter beschäftigen, als sie ökonomisch müssten.

Noch - muss hinzugefügt werden, denn im Zuge der kapitalistischen Anpassung und des angestrebten Beitritts zur WTO hat Premierminister Zhu Rongij bereits angekündigt, dass in Zukunft auch die staatseigenen Betriebe verstärkt nach kapitalistischen Kriterien funktionieren werden - und das bedeutet Rationalisierung und Massenentlassungen.

Ungeachtet dieser Schwierigkeiten wird die wirtschaftliche Bedeutung Chinas zunehmen - und, als Folge, auch die politische. Beide Faktoren bilden den Hintergrund der spannungsgeladenen Verhandlungen um den Beitritt Chinas zur WTO. Zwar sucht das internationale Kapital verstärkt profitable Anlagemöglichkeiten und möchte von der Entwicklung Chinas möglichst Nutzen ziehen, wobei über die WTO weitere Liberalisierungsschritte erzwungen werden sollen. Gleichzeitig aber fordern mit der chinesischen Industrie direkt konkurrierende Branchen wie z.B. die Stahl- und Textilindustrie verstärkten Schutz ihrer nationalen Märkte, was durch einen WTO-Beitritt Chinas grundlegend erschwert würde.

Als der unternehmerfreundliche US-Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO 15 000 Mitglieder zum WTO-Kongress nach Seattle mobilisierte, um gegen die Aufnahme Chinas zu demonstrieren, blieb dieses Vorgehen in der kapitalistischen Logik der internationalen Konkurrenz und deckte sich mit den Interessen der Arbeitgeber.

Außerdem würde ein WTO-Beitritt Chinas Rolle als politische Großmacht weiter stärken, was den strategischen Interessen vor allem der USA grundlegend widerspricht. Auch deswegen ist die Frage des WTO-Beitritts mehr als eine temporäre Angelegenheit. Entscheidend für die langfristige Entwicklung Chinas ist sie trotzdem nicht.