Frühjahrsgutachten

Eine Frage der Einstellung

Während Finanzminister Hans Eichel zur Schaffung neuer Stellen weiter auf rigides Sparen setzt, sind die deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute schon ein bisschen weiter: Die Arbeitslosenhilfe steht zur Disposition.

Immer dasselbe, und das seit 50 Jahren schon: Zweimal jährlich - im Frühjahr und im Herbst - erklären die wichtigsten deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute der Bundesregierung, durch welche steuer- oder konjunktur-politischen Maßnahmen diese die Wirtschaft des Landes am Wachsen gehindert habe. Von Konrad Adenauer über Willy Brandt bis hin zu Helmut Kohl mussten alle Kanzler die Ratschläge der Konjunkturforscher entweder schnell ad acta legen - oder zur eigenen Reputation in den Medien trefflich präsentieren. Und das 99 Mal schon.

Bei der hundertsten Präsentation der halbjährlichen Gutachten war vergangene Woche zwar nicht alles, aber doch einiges anders als im letzten Jahrhundert: Seit internationale Konzerne wie Vodafone oder Wal Mart die Grenzen der Deutschland AG nicht länger respektieren, ist mit der Klage über den deutschen Standort kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Die Wirtschaft wächst - und zwar so kräftig wie seit Anfang der neunziger Jahre nicht mehr. 2,8 Prozent Wachstum stellten die sechs führenden Institute der deutschen Wirtschaft allein für dieses Jahr in Aussicht, und um 2,7 Prozent zulegen soll das Bruttoinlandsprodukt - die Summe aller im Inland produzierten Waren und Dienstleistungen - 2001. Das ist fast doppelt so viel wie im letzten Jahr und macht immerhin zwei Drittel der Steigerungen aus, die auf dem von Finanzminister Hans Eichel (SPD) und anderen Wachstumsfanatikern so hoch gelobten US-amerikanischen Markt erreicht werden.

»Die konjunkturellen Aussichten für die deutsche Wirtschaft sind derzeit so günstig wie seit langem nicht mehr«, jubelten die Wirtschaftsforscher - und auch das Lob in der Rot-Grün-nahen Presse konnte überschwänglicher nicht ausfallen. »Die Bundesregierung kann sich von dem Jahreswirtschaftsbericht der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute geschmeichelt fühlen«, kommentierte die Frankfurter Rundschau. Und die Zeit schrieb den Erfolg gleich dem von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) geführten Bündnis für Arbeit zu: »Gewerkschaften, Arbeitgeber, Regierung - sie haben ihren Anteil am viel versprechenden Konjunkturfrühling.«

Doch aus den Konjunktur-Analysen früherer Tage sind mit dem Auslaufen des deutschen Korporatismus-Modells längst Konzepte für einschneidende politische Maßnahmen geworden. »Wir haben uns überlegt«, erklärte denn auch Eckhardt Wohlers vom Hamburgischen Weltwirtschaftsarchiv (HWWA) bei der Präsentation der Zahlen, »wie systematische Mängel zu beheben sind, ohne dass alles gleich gekippt werden muss.«

Denn bei aller Euphorie plagt einige der Konjunkturforscher zumindest in einem Punkt ihr schlechtes Gewissen: Das Hauptziel der Regierung Schröder-Eichel - die viel beschworene Bekämpfung der Arbeitslosigkeit - soll zwar unter anderem durch Hilfe des kleinen Handy-Booms von derzeit 4,1 Millionen bis 2001 auf 3,5 Millionen Arbeitslose weiter voran gebracht werden, so das Kalkül. Aber erstens ist für den erwarteten Rückgang eher die demografische Entwicklung verantwortlich als die Beschäftigungspolitik der Regierung - und zweitens ist der Aufschwung in Ostdeutschland ohnehin kaum spürbar. Während die Erwerbslosenquote in den alten Ländern Ende 2001 bei 6,8 Prozent liegen werde, bleibe sie im Osten mit 16,8 Prozent annähernd konstant. Für eine wirkliche Wende auf dem Arbeitsmarkt aber müsste die Wirtschaft schon drei bis vier Jahre lang so zulegen, wie jetzt für 2000 und 2001 prophezeit. Gustav Horn vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) räumt denn auch ein: »Die Arbeitslosigkeit bekommen wir so nicht in den Griff.«

Kein schlechtes Gewissen hingegen hat Horst Siebert. Für den Präsidenten des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) ist klar: Dienstleistungen in der New Economy erfordern immer weniger qualifizierte Kräfte, dafür aber viele billige. Die Konsequenz: »Umfassende Reformen des Sozialsystems« müssten schleunigst eingeleitet werden - und da fängt man doch am besten bei der Stütze an. »Die Arbeitslosenhilfe macht im Jahr immerhin 30 Milliarden Mark aus - die Meinung des Sachverständigenrats ist: abschaffen«, so Siebert. Darüber hinaus sollte das Arbeitslosengeld wieder zeitlich begrenzt und die Sozialhilfe derjenigen gekürzt werden, die im arbeitsfähigen Alter sind.

Alles eine Frage der Einstellung: Schließlich könnten sich Arbeitslose auf diese Weise schneller für weniger Lohn entscheiden. Die Einsteigerlöhne würden nach Sieberts Vorstellungen künftig ohnehin um 20 Prozent unter dem Tariflohn liegen. Denn: »Auch das wird Anreiz schaffen, wirklich Arbeit zu suchen«, meint er. In ihrem Bestreben, den Arbeitsmarkt zu deregulieren, nehmen Siebert und die anderen Konjunkturforscher die Reste des Sozialstaats ins Visier.

Das allerdings war der geschmeichelten Regierung dann doch zuviel der guten Ratschläge. »Eine Abschaffung gibt es mit uns nicht, dies wäre eines Sozialstaats nicht würdig«, wies ein Sprecher von Arbeitsminister Walter Riester die Beschäftigungs-Tipps des so genannten Wirtschaftsweisen Siebert vergangene Woche zurück.

Und auch im Bündnis für Arbeit sind längst nicht alle so zufrieden, wie es das Lob der Wissenschaftler glauben lässt. Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) etwa, Olaf Henkel, kritisierte die tarifpolitische Nachgiebigkeit seiner Arbeitgeber-Kollegen, was für den Präsidenten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Dieter Hundt, jedoch nicht mehr war als »neiderfüllte Kritik«. Schließlich sei es gelungen, die Gewerkschaftsführer im Bündnis tarifpolitisch so zu disziplinieren, dass für das kommende Jahr einiges zu erwarten sei.

Mit niedrigen Löhnen hat auch Hundts Bündnispartner, der IG-Metall-Chef Klaus Zwickel, keine Probleme. Lediglich sein Vize, Jürgen Peters, will noch nicht so recht in die New Economy folgen. »In der Umverteilung von Arbeit«, beharrt Peters auf sozialdemokratischen Basics aus dem Rheinischen Kapitalismus, »sehen wir die schnellsten und unmittelbarsten Wirkungen auf dem Arbeitsmarkt.«

Schröder und Eichel werden das sicherlich anders sehen - und sich an Ratgeber halten, die nicht nur lange Gutachten schreiben, sondern durch Zinssenkungen und -erhöhungen die Regierungspolitik immer noch beeinflussen können: an die Bundesbank also. Die nämlich legte letzte Woche ebenfalls ein Gutachten vor, das das der sechs führenden Wirtschaftsforschungsinstitute an Überschwänglichkeit des Lobes noch übertrifft. Und in Eichels Sparkurs den entscheidenden Hebel für mehr Arbeitsplätze sieht: »Die Kurskorrekturen der Finanzpolitik im vergangenen Jahr sind geeignet, die Bedingungen für mehr Wachstum und Beschäftigung in Deutschland signifikant zu verbessern.«