»El Valley Centro«

Meditation für Materialisten

35 Blicke ins kalifornische Great Central Valley. James Benning ordnet das Land neu.

Gleich die erste Einstellung trifft einen mit der vollen Wucht des Nie-Gesehenen: Zwei Drittel der Leinwand sind gefüllt mit der Wasseroberfläche eines Sees, der obere Bildstreifen zeigt in weiter Ferne bergiges Ufer. Vom Vordergrund aus, mitten in diesem See, beherrscht ein kreisrundes Loch von etlichen Metern Durchmesser das Geschehen, in das sich die abfließenden Wassermassen mit einem Tosen hineinstürzen. Darauf schaut man zweieinhalb Minuten lang, hypnotisiert und auch entgeistert von diesem Zeugnis menschlichen Eingreifens in Natur. Das braucht kein Identifikationsdrama mehr, um dramatisch zu sein, kein Floß mit hilflosen Helden drauf muss vom Strudel in die Tiefe gerissen werden.

Die Zeit für Gedankenausflüge, die bekommt man hier. Das Element der Dauer bringt in Erinnerung, dass dieses Land reihenweise Film-Kulissen hergegeben hat. Benning weiß die Kinogänger-Reflexe auch einzusetzen: Ein Flugzeug versprüht Pestizide im Tiefflug über die Kamera hinweg, aber kein Cary Grant weit und breit. Die von Wind getriebenen Gestrüppkugeln, die der Blues rolling stones getauft hat, evozieren Pionierkämpfe beim biblischen Durchqueren von Wüsten, die ein so wichtiger Bestandteil US-amerikanischer Schöpfungsmythen sind. Die wie pickende Riesenhühner aus Stahl wirkenden Ölpumpen sind aus etlichen Roadmovies bekannt. Das isoliert inmitten von modernen Windmühlen in einem kleinen Tal gelegene Gehöft wimmert geradezu darum, von kaltblütigen Psychopathen überfallen zu werden. Am Zaun eines California State Prison, von dem Drillkommandos über einen weiten grünen Acker herüberwehen, wartet man vergeblich auf einen Ausbruchsversuch.

Dieser Film hat 35 solcher Tableaus mit strengem formalem Aufbau: Sie sind alle zweieinhalb Minuten lang und bestehen aus starren Einstellungen. Zentralperspektivisch wird in die Tiefe von Landschaften geguckt. Der Standpunkt (auch) der (Ton-) Aufnahmen ist stets ein distanzierter. Eine markante Horizontlinie unterteilt zwischen Himmel und Erde. Was zu sehen gegeben wird, ordnet sich entweder zur einen oder zur anderen Achse an. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, in denen Diagonalen konstruiert werden, hat man es mit rechten Winkeln zu tun in diesem Film.

Das gilt auch und gerade für die Bewegungen. Diese Bewegungen bilden in der Regel Verrichtungen ab, die sich aus stetigen Wiederholungen zusammensetzen. Das hat etwas Minimalistisches und Serielles, auch im Sinne von Musikalität. Elemente aus einem Bild tauchen in einem anderen variiert wieder auf, Symmetrien und Muster entstehen, Kompositionsprinzipien werden deutlich. Es bewegen sich Maschinen, meist von unsichtbaren Menschen gesteuert, selten sind Menschen allein im Bild.

Wenn Menschen gefilmt werden, entstehen keine Porträts. Beim wortlosen Rodeo-Training zweier Frauen hat Benning seine Apparatur so postiert, dass die reitende Frau verdeckt wird von derjenigen, die eine zu fesselnde Ziege festhält, und obwohl der Vorgang, den man mit ziegenfeindlicher Schadenfreude belächelt, viermal wiederholt wird, springt keine brauchbare Täterbeschreibung für die Tierschützerpolizei heraus. Als ein Unkrautjäter einmal ganz nah an die Kamera herantritt, bevor er hinter ihr wendet und in gegenläufiger Richtung eine neue Feldfurche bearbeitet - so wie sich in anderen Einstellungen schon mehrere landwirtschaftliche Maschinen auf Bennings Kamera zu und wieder von ihr wegbewegt haben -, ist er hinter dem Schirm seiner Basecap zu einer exemplarischen Figur geworden. Im harten Kontrast zwischen hoch stehender Sonne und Schatten spendenden Weintreben bekommt ein Traubenpflücker zwar ein vage wahrzunehmendes Gesicht, aber kein Einzelschicksal. Wie der Jäter auch spricht er Spanisch, das ist schon alles an Zuschreibung.

Als am Ende des Films ein Abspann über die Namen der Orte und die dokumentierten Handlungen Auskunft gibt und vor allem über Besitzverhältnisse aufklärt - der hier gezeigte Grund und Boden gehört zumeist Multis wie Chevron, Texaco, Shell usw. - , ist ein Panorama vervollständigt, das hochmoderne Produktionsweisen und gleich den ganzen globalistischen Kapitalismus in seiner kalifornischen Hochburg zeigt und begreifbar macht.

Diesem Schluss ist eine Musik unterlegt - einzige Entkoppelung von Sicht- und Hörbarem im gesamten Film - , die von einer spanisch singenden Frauenstimme begleitet wird. Auch der hispanisierende Titel, der das innere Kalifornien, das Great Central Valley bezeichnet, sowie die Tatsache, dass die wenigen Fragmente sprachlichen Ausdrucks meist spanische Satzfetzen sind, heben hervor, wie wichtig Benning für seine Bestandsaufnahme der Aspekt der Arbeitsmigration ist. Er verschont den Zuschauer aber mit Entrüstungsjargon und anderen Gesten aus dem Handbuch des Agitators. »El Valley Centro« ist Meditation für Materialisten, seine Einstellungen sind Mandalas für die Kapitalismus-Kritik.

»El Valley Centro«, USA 1999. R: James Benning. Vom 11. Mai an eine Woche Berliner FSK, am Wochenende des 20. und 21. Mai im Künstlerhaus Hannover (Sophienstraße), danach in einigen weiteren Städten in Deutschland