Polizeiübergriffe am 1. Mai

Arbeitsgruppe Hooligan

Gefährliche Orte CIV: Wenn Berliner Polizisten sich am 1. Mai austoben, gibt es kein Entkommen. Auch nicht für unbeteiligte Passanten.

Der ausgestreckte Mittelfinger Marke Stefan Effenberg ist zuviel. Eben noch reckte der junge Punk am Spreewaldplatz/Ecke Ohlauer Straße, beide Hände in Richtung der Polizisten.

Dann geht alles ganz schnell: Mindestens fünf behelmte, mit Brustpanzern ausgerüstete Polizisten der Bereitschaftspolizei stürzen sich auf den Demonstranten, reißen ihn zu Boden. Einer der Beamten drückt den Kopf des Mannes mit dem Knie auf den Asphalt und sorgt so dafür, dass in den nächsten Sekunden kein Schmerzensschrei aus dessen Mund dringen kann. Einer seiner Kollegen ist über den Rumpf des Opfers gebeugt und donnert mehrfach mit der rechten Faust eine Gerade in die Magengrube. Ein dritter Grün-Uniformierter tritt mit dem Fuß in die Nierengegend.

Die übrigen umstehenden Polizisten schirmen den Vorfall vor den Blicken der Umstehenden ab und versuchen, die Demonstranten zurückzudrängen. Einer von ihnen appelliert in hilfloser Wut an die Beamten. Auch er geht daraufhin zu Boden. Auch er wird mit Tritten eingedeckt. Polizisten zerren an seinem Bein, deutlich sieht man das schmerzverzerrte Gesicht des Jugendlichen, ein Schuh bleibt kurzzeitig auf dem Gehweg zurück.

Andere Demonstranten werfen daraufhin erste Flaschen und Steine auf die Polizisten. Nach nicht einmal einer Minute ziehen sich die Beamten zurück, ihre Opfer flüchten in die Menschenmenge hinter ihnen. Eine Identifizierung der Polizisten ist unmöglich. Auch ihre Gegner bleiben unbekannt. Es ist der Abend des 1. Mai in Berlin-Kreuzberg, kurz nach 19 Uhr.

Das Deeskalationskonzept für den 1. Mai hat die Polizeiführung schon Tage vorher aufgekündigt. Der Direktor der Landesschutzpolizei, Gernot Piestert, hat den Entschluss begründet: »Wir haben die Hand gereicht und die Faust zurückbekommen.« Jetzt heben einige Beamte ihre Faust.

Bis zum Ort der Abschlusskundgebung bleibt die revolutionäre 1. Mai-Demonstration friedlich. Dann stürmt am Oranienplatz eine Abteilung der Bereitschaftspolizei unvermittelt in die Veranstaltung. Einmal, zweimal, dreimal, immer wieder. Erst daraufhin beginnen die Straßenschlachten.

Am späten Abend des 1. Mai nimmt die Protestveranstaltung auch für Clemens G. ein abruptes Ende. In der Nähe des U-Bahnhofes Görlitzer Bahnhof stürmen plötzlich Zivilbeamte auf den 31jährigen zu. Er wird festgenommen und in einen silbernen VW-Bus gebracht.

Dann ereignet sich nach Angaben seines Anwalts Ullrich von Klinggräff folgendes: Nach fünfminütiger Fahrt, während der G. den Kopf stets gesenkt halten muss und so das Fahrtziel nicht erkennen kann, zwingen ihn die Zivilpolizisten an einer abgelegenen Stelle zum Aussteigen. Dann dreschen sie mehrere Minuten lang auf den Friedrichshainer ein. »Das ist erst der Anfang, danach geht's weiter«, rufen die Beamten dem Mann zu.

Einige sind vermummt, andere haben ihre T-Shirts oder Jacken über das Gesicht gezogen. »Wir brechen Dir gleich die Knie, danach kannst Du nicht mehr laufen«, heißt es. Anfangs sagt G. noch: »Das ist also Euer Aha-Konzept.« Aha - »Aufmerksamkeit, Hilfe, Appell« - ist die Bezeichnung für das öffentlichkeitswirksam vorgestellte Deeskalationskonzept der Sicherheistbehörden im Vorfeld des 1. Mai. Die Antwort der Peiniger ist deutlich: »Du wirst gleich Dein Aha-Erlebnis haben.«

Irgendwann stellt sich Clemens G. ohnmächtig. Die Beamten kneifen ihn in die Brustwarze, um eine simulierte Ohnmacht auszuschließen. Dann bringen sie ihn zur medizinischen Behandlung in die Feuerwehrwache Wiener Straße, später zum Bereitschaftsgericht am Tempelhofer Damm.

G.s Rechtsanwalt von Klinggräff stellt bei einem Besuch in der Untersuchungshaft fest: »Das ganze Gesicht ist übersät von Verletzungen, insbesondere Schürfwunden. Er hat überall Hämatome, beide Augen sind angeschwollen.« Zeugen bestätigen später, dass G. vor seiner Festnahme unverletzt gewesen sei. Die Polizei beschuldigt ihn, nach dem Ende der Demo einen Stein geworfen zu haben. G. bleibt in Untersuchungshaft. Ihm wird schwerer Landfriedensbruch vorgeworfen.

In der Haftanstalt Moabit wird Clemens G. mit einem anderen Häftling zusammen in eine Zelle gesperrt, der mit der Hautkrankheit Skabies (Krätze) infiziert ist, einer Krankheit, in der Milben Eier unter der Haut ablegen und so nässende, teils chronische Ekzeme mit Eiterbildung verursachen. G. wird deshalb der Hofgang sowie ein Besuch des Anwalts verweigert. Die Begründung: Infektionsgefahr. Eine Verlegung ins Haftkrankenhaus wird abgelehnt.

In der Nacht zum 2. Mai, kurz nach Mitternacht, rennen sieben mit Tonfa-Schlagstöcken bewaffnete Männer plötzlich im Bereich der Kreuzung Mariannenstraße / Reichenberger Straße auf am Straßenrand stehende Passanten zu. Sie prügeln wie wild auf ein Paar ein und laufen dann weiter. Wenig später ruft ein anderer Umstehender den Tonfa-Trägern »Zivis« hinterher. Die siebenköpfige Gruppe wendet sich dem Mann zu, schlägt ihm in den Magen und entfernt sich wieder.

Bei der Truppe in Zivil handelt es sich um vier Angehörige der Abteilung Personenschutz im Landeskriminalamt sowie drei Mitglieder der »Arbeitsgruppe Hooligan« der Polizeidirektion zwei. Die Personenschützer sind an diesem Tag mit der Bewachung von Polizeipräsident Hagen Saberschinsky beauftragt gewesen. Nachdem sie ihren Chef sicher nach Hause gebracht haben, kehren sie nach Kreuzberg zurück und mischen mit.

Doch zwei Aufklärer des Landeskriminalamts beobachten das Treiben ihrer Kollegen. Und werden daraufhin bedroht: »Wenn ihr uns anzeigt, dann kriegen wir Euch«. Sätze wie »Da sind sie ja wieder, die Gefahrensucher« fallen.

Ein Bereitschaftspolizist des zweiten Zuges der 23. Einsatzhundertschaft begrüßt die Zivilen freundschaftlich mit Handschlag und bestätigt den LKA-Aufklärern, dass es sich um Polizisten handelt. Erst vier Tage später erstatten die LKA-Beamten Anzeige gegen ihre Kollegen.

Polizeipräsident Saberschinsky sagt daraufhin, die Verdächtigten hätten »deutlich und glaubhaft dienstlich erklärt, dass diese ungeheuerlichen Vorwürfe auf sie nicht zutreffen«. Die Staatsanwaltschaft teilt mit, dass die Beamten eingeräumt haben, zum besagten Zeitpunkt an dem Ort des Geschehens gewesen zu sein, und beschlagnahmt ein Polizeivideo.

Die Personalien der Opfer sind bisher nicht bekannt: Als sie bei einem Polizisten Anzeige gegen seine Kollegen erstatten wollten, wurden sie von diesem an einen Polizeiabschnitt verwiesen. Die Polizei geht davon aus, dass es sich bei den Geschädigten um ein Paar aus Westdeutschland handelt.

Nach Angaben der beiden LKA-Aufklärer waren die Geschlagenen ganz offensichtlich nicht an den Straßenschlachten zwischen Polizei und Demonstranten beteiligt.

Unter den rund 400 Personen, die am 1. Mai festgenommen werden, ist auch ein Polizist aus Leipzig. Kurz nach Beginn der Straßenschlacht auf dem Oranienplatz hat er eine Sektflasche auf einen Wasserwerfer geworfen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm schweren Landfriedensbruch vor. Der Mann begründet seine Tat damit, dass er zuvor bei einem Polizeieinsatz geschlagen worden ist.

Die Veranstalter der 1. Mai-Demonstration sprechen in einer Bilanz von über 200 Verletzten. Ganze elf Anzeigen liegen gegen Polizeibeamte im Zusammenhang mit dem 1. Mai vor.