Ein deutsches Chromosom

Das Chromosom 21 ist entschlüsselt. Forscher und Politiker feiern den deutschen Sieg im Wettlauf um die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts. Dass dieser Erfolg die vorgeburtliche Jagd auf Behinderungen verschärfen wird, stört niemanden.

Es war ein Meilenstein in der Geschichte des Human Genome Project (Hugo) und ein Freudentag für die deutsche Wissenschaft. Deutsche Forscher des Projektes haben Anfang letzter Woche mitgeteilt, das Chromosoms 21 vollständig entschlüsselt zu haben. Zum ersten Mal waren sie dem US-amerikanischen Celera-Chef Craig Venter zuvorgekommen.

»Heute sehen die Amerikaner ziemlich alt aus«, verkündete Ulrich Wickert in den ARD-Tagesthemen den Erfolg der deutsch-japanischen Kooperation. »Wenigstens einmal hat Deutschland gewonnen«, kommentierte auch die Zeit trotzig einen Wettlauf, der deshalb so ungleich ist, weil die mit solider Forschung-Ehik beschwerten Deutschen gegen einen Konkurrenten antreten, der im Labor stets mit Seitenblick aufs Patentamt forscht und darum keine Moral kennt. Ein Gegner, der ausschließlich die Verwertungs-Gelüste der Pharma-Riesen bedient und mit allen Mitteln um jede Gen-Sequenz kämpft.

Einen »Tag der Freude« rief darum auch Hugo-Mitarbeiter Helmut Blöcker von der Gesellschaft für Biotechnologische Forschung in Braunschweig aus. Schließlich konnte Celera bisher kein vollständig entziffertes Chromosom vorlegen. Und das, obwohl sich die Amerikaner in ihrer unheimlich rasanten Geheimforschung auch auf die Daten von Hugo gestützt hatten. Nach fünfjähriger Arbeit war also das Chromosom 21 in sichere Obhut und gute Hände gelangt. 33,5 Millionen Basenpaare, die die unverwechselbare Gestalt dieses Gen-Containers ausmachen, sind nunmehr systematisch sequenziert.

Das Chromosom 21 mit seinen 225 Genen ist das kleinste von den 23 Erbgutträgern, nur rund ein Prozent der menschlichen Erbsubstanz sitzt auf seiner fadenförmigen Struktur. Dem viel größeren Chromosom 22 hatten schon im Dezember 1999 die Briten ihre Fahne aufgepflanzt. Den ganzen April hätte sie kaum geschlafen, berichtete eine Wissenschaftlerin vom Berliner Max-Planck-Institut für molekulare Genetik. 23 Millionen Mark und alle Energie hatten die Deutschen darangesetzt, um der amerikanischen Konkurrenz zuvorzukommen.

Erst am 6. April hatte Craig Venter mit dem vollmundigen Versprechen, seine Firma habe das genetische Geheimnis des Menschen nahezu vollständig gelüftet, die staatlich alimentierten Forscher des internationalen Hugo düpiert. Mit kaltschnäuzigem Pragmatismus im Umgang mit den veröffentlichten Daten anderer Wissenschaftler schien die Lösung des Gen-Rätsels innerhalb von zwei Jahren erzwungen, an der die staatlichen Initiativen schon seit zehn Jahren herumpfriemeln. Nachdem die US-Amerikaner jetzt das Nachsehen hatten, stellte der SPD-Gentechnik-Experte Wolf-Michael Catenhusen eine 50prozentige Erhöhung der staatlichen Zuschüsse für die Genforschung für 2001 und 2002 in Aussicht.

Obendrein hatten die Deutschen nach Meinung André Rosenthals vom Institut für Molekulare Biotechnologie in Jena, das entscheidend am Erfolg mitgewirkt hatte, bessere Ergebnisse als Venter vorgelegt. Dessen Erbgut-Katalog stelle nicht mehr dar als ein wirres Puzzle. Ist das Chromosom 21 also in erster Linie ein Triumph der seriösen Wissenschaft, die keinen Gedanken an eine Verwertung verschwendet und sich dem Dienst an der Menschheit verpflichtet weiß? Ein Sieg der braven deutschen Gen-Pedanten über die amerikanische Cowboy-Mentalität?

Die Sequenz des Chromosoms werde demnächst ins Internet gestellt, betonten die Forscher. Sie gehen davon aus, dass dann - gemäß europäischem Recht - niemand die Gene dieses Chromosoms patentieren lassen könne, weil sie vorab öffentlich dokumentiert wurden. Doch so übersichtlich ist die Sachlage derzeit nicht. Das geplante Biopatent-Gesetz von Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin, das die nationalen Bestimmungen nach der europäischen Richtlinie über den rechtlichen Schutz von biotechnologischen Erfindungen harmonisieren soll, legt fest, dass etwa ein isoliertes Gen patentiert werden kann - auch wenn es dem Aufbau nach mit einem natürlichen Gen identisch ist. Ein Passus, der nach Ansicht von Greenpeace der Industrie grünes Licht für die Patentierung menschlicher Gene gibt.

Auch die 107 Mitgliedstaaten der Weltorganisation für Geistiges Eigentum (Wipo) wollen erst in den kommenden Monaten diskutieren, ob bereits eine Gen-Sequenz patentierbar ist oder ob das Patent eine bestimmte medizinische Anwendung beinhalten muss. Die US-Akademie der Wissenschaft hat unter Rückgriff auf eine Erklärung von Blair und Clinton das Patentieren schlichter Gene - mit unbekannter Funktion - abgelehnt. Pharma-Vertreter verteidigen dagegen vehement diese Patentierung, da es andernfalls kein unternehmerisches Interesse an der Entwicklung von Arzneimitteln geben könne.

Erst vor einigen Wochen führte das Gerücht, Clinton und Blair wollten mit strikteren Patentgesetzen die Biotech-Branche enteignen, an der Börse zu Kurseinbrüchen. Dabei hatte eine kurze Erklärung der Regierungschefs nur die Selbstverständlichkeit enthalten, dass die Rohdaten über das menschliche Genom allen Wissenschaftlern zugänglich sein sollten.

Von einer Endlosliste von Buchstabenfolgen, die lediglich die Bausteine des Genoms versinnbildlichen, ohne deren Wirken zu erklären, verspricht sich ohnehin niemand einen unmittelbaren ökonomischen Nutzen. Erst wer die Bausteine nach Zusammenspiel und Funktion sortiert, eröffnet ein lukratives medizinisches Planspiel um Therapien und Arzneien. Doch so brisant der Patentstreit in Zukunft noch werden wird, die entscheidende Frage wird gar nicht mehr gestellt: welche Gestalt der medizinische Fortschritt mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms annehmen wird.

Schon heute ist mit der Biomedizin eine Wissenschaftslogik hegemonial geworden, die sich von der Reparatur oder dem Austausch von Genen die Erlösung von allem Leid verspricht. Schlechtes Gen raus, gutes Gen rein - diese Vision einer Medizin, die Krebs oder Aids im Lego-Baukastenstil besiegen will, wird ohne Rücksicht auf die realen Ergebnisse beworben. Mit der Entschlüsselung des Genoms werden sich alle Hoffnungen auf diese Gen-Medizin konzentrieren - und damit wird auch der Erfolgsdruck steigen.

Für die Therapie sei die Entschlüsselung des Chromosoms 21 - eventuell - ein großer Tag, behauptete Hugo-Mitarbeiter Blöcker. Auf dem Chromosom liegen Gene, die an Alzheimer, Epilepsie und bestimmten Immunerkrankungen beteiligt sein sollen. Auch verschiedene Formen von Taubheit, eine erhöhte Anfälligkeit für Leukämie und selbst manische Depression verbinden die Forscher mit dem Chromosom. Der wichtige Teil des Wettlaufs steht nun erst an: aus den Daten Therapien entwickeln. Und da erklingt aus den Gen-Labors immer dasselbe Lied: Wenn erst einmal die Entschlüsselung abgeschlossen sei, was Optimisten auf Ende 2001 datieren, sei die Grundlage da für erfolgreiche gentherapeutische Eingriffe. Das Ende von Alter, Krankheit und Behinderung sei nahe, wenn die Gen-Landkarte komplett ausgefaltet sein werde und Forscher erstmals die Möglichkeit hätten, die Vernetzung aller Gene zu studieren.

Tatsächlich werden Gen-Therapien schon seit zehn Jahren am Menschen erprobt. Nennenswerte Erfolge gibt es bislang keine. Dafür häufen sich die Todesfälle bei diesen Versuchen, in denen entschärfte Viren als Transportmittel für die gesunde Kopie des defekten Gens injiziert werden. Für großes Aufsehen hatte im Oktober 1999 der Tod des 18jährigen Jesse Gelsinger gesorgt. Und erst letzte Woche wurde ein neuer Todesfall aus einer Bostoner Klinik bekannt, den die Wissenschaftler wochenlang zu verheimlichen versucht hatten. Dass es weitere Tote geben wird, will Robert McKay vom US-amerikanischen Bundesgesundheitsamt darum nicht ausschließen. Auf einem Kolloquium der Daimler-Benz-Stiftung in Berlin am letzten Mittwoch brachte er die Goldgräberstimmung unter den Genforschern auf den Punkt: »Zu warten, bis wir alles wissen, ist vielleicht auch nicht der richtige Weg.«

Zunächst wird jedoch die Entwicklung neuer diagnostischer Tests im Vordergrund stehen. Schließlich verdankt sich die Prominenz des Chromosoms 21 seiner Rolle bei der häufigsten genetischen Erkrankung: Säuglinge, die mit Down-Syndrom geboren werden, haben das Chromosom dreimal

in den Zellen anstatt doppelt. Heute dient die Fruchtwasseruntersuchung dazu, diese Behinderung im vorgeburtlichen Stadium aufzuspüren. Schon in naher Zukunft könnte der riskante Eingriff von einem harmlosen Bluttest abgelöst werden. Spätestens dann wird die pränatale Diagnostik nicht mehr nur bei schwangeren Frauen ab 35 Jahren zur medizinischen Routine gehören. Man wird alle Schwangeren durchchecken und damit einer eugenischen Gesundheitspolitik den Boden bereiten, die bei der Genforschung so recht niemandem vorschweben will. Aber das sind keine Themen für Jubeltage.