Alex Demirovics »Der nonkonformistische Intellektuelle«

Im Seminar mit Adorno

Wie eine Theorie zur Institution wird - Alex Demirovic hat die Alltagspraktiken des Instituts für Sozialforschung untersucht.

Der Kampf um die Wahrheit ist bei Michel Foucault nicht ein Kampf »für die Wahrheit«, sondern ein Kampf »um den Status der Wahrheit« und um ihre ökonomisch-politische Rolle. Angeleitet durch diesen Begriff der Wahrheitspolitik analysiert der Frankfurter Sozialwissenschaftler und langjährige Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung Alex Demirovic in seiner breit angelegten Studie die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule. Dem Leser wird vorgeführt, wie Horkheimer und Adorno - nach der von ihnen radikal analysierten Krise der Rationalität bürgerlicher Gesellschaften - an einem Neuentwurf von Vernunft und emanzipatorischer Praxis arbeiten. Als Fluchtpunkt ihrer theoriepolitischen Aktivitäten erscheint dabei die Erziehung von nonkonformistischen Intellektuellen, die dem Autoritarismus der prognostizierten vollends verwalteten Welt widerstehen und eine nachhaltige Demokratisierung der politischen Kultur im restaurativen Klima des Adenauer-Deutschland auf den Weg bringen sollen. Trotz anders lautender Gerüchte: Auch nach 1945 ist für Adorno und Horkheimer die Überwindung der bürgerlichen Herrschaftsform das bestimmende Thema.

Diese Erkenntnis scheint heute nicht mehr selbstverständlich, da Horkheimer und Adorno in moderner Lesart als ideelle Mitarbeiter an der Reeducation missverstanden und somit als intellektuelle Gründerväter der BRD national vereinnahmt werden - wie dies Albrecht u.a. in ihrem parallel erschienenen Band über die Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule tun. Vor noch nicht allzu langer Zeit als geistige Paten des RAF-Terrors enttarnt - und heute bereits zum staatstragenden Chef-Ideologen der Bonner Republik gewandelt? Diese Karikatur der Frankfurter Gesellschaftskritiker geht nach der Lektüre des vorliegenden Bandes bestenfalls als Witz der Rezeptionsgeschichte durch.

Anders auch als Rolf Wiggershaus geht Demirovic davon aus, dass die späte Kritische Theorie nicht zum Zierrat der restaurativen Gesellschaft verkommen war und erst durch das politisierte Gelärme der Studenten aus ihrer Agonie geholt wurde. Er begreift die Kritische Theorie der fünfziger und sechziger Jahre als eine Form aktiver Wissenspolitik, die mit Foucault den Impetus teilt, die Vernunft radikal über ihre eigenen Grenzen aufzuklären. Die Fruchtbarkeit der Theorie erweist sich darum, argumentiert Demirovic, in dem erfolgreichen Versuch, die Vernunft zu einer sozialen Kraft zu machen - und widersetzt sich damit implizit der an Habermas orientierten Lesart, wonach die einst streitlustige und empiriegeladene Theorie auf Grund ihrer Aporien, verstärkt aber durch die Erfahrungen des Totalitarismus, in eine negative Geschichtsphilosophie gemündet sei, die nur noch in endlosen und soziologisch unfruchtbaren Variationen das Klagelied vom unwahren Ganzen reproduziert habe.

Freilich nimmt sich die Frühphase des Instituts theoriegeschichtlich weit spektakulärer aus als jene nach dem Krieg: Horkheimers denkwürdige Antrittsrede als Institutsdirektor 1931, in der er eine interdisziplinäre Sozialforschung anmahnt; der so eigenwillige wie theoretisch befruchtende Spagat zwischen undogmatischem Marxismus und Psychoanalyse, maßgeblich initiiert durch Erich Fromm; die große sozialpsychologische Studie über »Autorität und Familie«, die die Ausbildung von Ich-Stärke unter modernen Sozialisationsbedingungen analysierte; schließlich - schon unter dem Eindruck von deutschem Faschismus und Stalinismus - jene gewaltige »Dialektik der Aufklärung«, die alle folgenden Werke der Autoren nur als ebenso kunstvolle wie verschlungene Variationen auf diese düstere Grundmelodie lesen zu lassen droht. Demgegenüber insistiert Demirovic auf die Bedeutung einer eingreifenden Institutionenpolitik, die zeitintensiven und nervenraubenden Bemühungen Adornos und Horkheimers, das Institut aufzubauen und sein Fortbestehen zu sichern - um die Kritik der Gesellschaft dauerhaft einzurichten.

Demirovics vorurteilsloser Blick auf die Kritische Theorie nach der Rückkehr Horkheimers und Adornos aus dem amerikanischen Exil rückt deren intellektuelle (Alltags-)Praktiken, die bislang für eine kritische Würdigung der Theorie keine Rolle gespielt haben, in ein neues Licht. Wir beobachten einen Horkheimer, der als Rektor der Frankfurter Universität Erstsemester zu politischem Engagement in ihrem neuen »Biotop Universität« aufruft, und erleben einen Adorno, der die Studenten nicht schon durch seine bloße Anwesenheit einschüchtert, sondern erfolgreich zur Widerrede animiert. Spuren dieser Seminarkritik lassen sich bis hinein in die »Philosophische Terminologie« finden. Die Sozialisation in die Theorie, das wird hier sehr deutlich, verlief ganz zentral über den Unterrichtsprozess. Denn Theorie wird nie ausschließlich rationalistisch vermittelt; erfahren wird auch, wie sie unmittelbar gelebt wird, und davon gibt das Panorama der bisher nicht publizierten Seminarprotokolle ein schönes Zeugnis: Ein geduldiger, aufmerksamer, selbstkritischer Adorno müht sich manchmal stundenlang an der Erklärung eines einzigen Begriffs ab, unterbrochen von mehr und weniger intelligenten Nachfragen. Mit der Rekonstruktion der Seminardiskussionen entlang zentraler Begrifflichkeiten (Dialektik, Ideologie, Totalität, Vermittlung usw.) hat Demirovic ganz nebenbei ein kleines Lehrbuch der Kritischen Theorie mitgeliefert.

Dass die Studenten in Frankfurt Soziologie studieren und ab 1954 mit einem Diplom abschließen konnten, verdankten sie übrigens dem Engagement ihrer Lehrer in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS). Die Soziologie war ja Anfang der 50er Jahre in Deutschland noch ein schattenhaftes Fach gewesen mit schillernden Inhalten und einem unklaren Berufsbild, dessen Physiognomie je nach Lehrstuhl und Fakultät sehr stark differierte. Im Kampf um die Formierung der Soziologie als eine eigenständige Disziplin mit einem verbindlichen Fächerkanon und einer einheitlichen Diplomprüfung sahen Adorno und Horkheimer die Chance, mit dem neuen Fach auch gleich einen neuen Akademikertyp durchzusetzen. Daher attackierten sie etwa René König oder Helmut Schelsky, die in ihren Augen - wenngleich von unterschiedlichen Positionen aus - die Soziologie ganz im Sinn der Väter als Ordnungswissenschaft entwarfen. Nichts fürchteten die Frankfurter mehr als einen Studiengang, der acht Semester lang den Sozialwissenschaftler zum Klempner für die Reparatur gestörter Kreisläufe in Wirtschaft und Gesellschaft schult. Soziologie als verwissenschaftlichte Form der Sozialpolitik mit statistischen Mitteln - das war die Horrorvision, die zu verhindern Adorno und Horkheimer über Jahre hinweg in die Ausschuss-Sitzungen und Kolloquien der DGS trieb. Sie wollten in der Soziologie das Erbe des Idealismus bewahren und der anspruchsvollen Bildungsidee in der Tradition der deutschen Philosophie eine moderne Gestalt verleihen.

Dass schon bald eine neue Studentengeneration sich die Stichworte für ihre Rebellion bei der Kritischen Theorie besorgte, hat die Institutsmitglieder sicher überrascht. Und nicht nur positiv. Denn als Idealtyp des nonkonformistischen Akademikers haben sie die protestierenden Studenten wohl eher nicht begriffen, auch wenn die Protestbewegung erheblich zur dauerhaften gesellschaftlichen Durchsetzung der Kritischen Theorie beitrug. Gerade Adorno fürchtete, dass die schnelle, oberflächliche Aneignung der Theorie und ihre Reduktion auf Formeln letztlich nur auf Opportunismus und Konformismus der Protestgeneration hinwies. Er erwartete, dass die Theorie dann nur umso entschiedener zurückgewiesen würde, wenn sich die Staatsmacht eben nicht nach einem flotten Dauerlauf durch die Institutionen ergeben würde, sondern ein langwieriger Stellungskampf in den Schützengräben der Zivilgesellschaft um die ideologische Hegemonie sich abzeichnete. Ihre Bemühungen, kritischer Gesellschaftstheorie Tradition zu verleihen, sahen Adorno und Horkheimer von solch einer falschen Inanspruchnahme der Protestierenden, die glaubten, die Theorie unmittelbar für politische Praxis genommen müsste den Bann augenblicklich lösen, um den Erfolg gebracht.

Auch wenn die Flaschenpost schließlich bei der Studentenbewegung angekommen ist - die Kritische Theorie entfaltete ihre Wirksamkeit, weil Adorno und Horkheimer sehr früh erkannten, dass die Wahrheitsproduktion an materielle Bedingungen geknüpft ist. Das hat Demirovic überzeugend nachgewiesen. Der an Foucault, Bourdieu und Gramsci geschärfte Blick auf die intellektuellen Praktiken Adornos und Horkheimers macht diese Institutsgeschichte zum neuen Standardwerk über die späte Kritische Theorie. In einem Marathon durch die Archive hat Demirovic jene Wissenspraktiken rekonstruiert, die die nachhaltige Institutionalisierung der Kritischen Theorie leisteten und die Theorie damit über ihren unmittelbaren Wahrheitsgehalt hinaus stabil halten als Orientierung für das, was Kritik noch heute zu leisten hat. Vernunft - darin bestätigt die Geschichte der Frankfurter Schule Foucault - konstituiert sich eben auch im scheinbar so esoterischen Sonderbereich der Wissenschaft immer nur als eine spezifische Praxis. Mit seiner diskursanalytischen Studie, die die Verwandlung einer Theorie in eine Institution vorführt, hat Demirovic nicht weniger vorgelegt als eine Archäologie der kritischen Vernunft.

Alex Demirovic: Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1999, 983 S., DM 39,80