Regierungsbildung in Russland

Eine Marionette für den Kreml

Der neue russische Regierungschef Kasjanow wird mit großer Mehrheit von der Duma bestätigt. In der Regierung sucht Präsident Putin nach einem Gleichgewicht zwischen den rivalisierenden Machtfraktionen.

Eine reine Marionette für den Kreml« - wenig schmeichelhaft fiel die Einschätzung der Moscow Times für den neuen Ministerpräsidenten Russlands, Michail Kasjanow, aus. Kasjanow wurde Mitte vergangener Woche mit eindeutiger Mehrheit in der Duma bestätigt: Nach Angaben von Interfax stimmten 325 für ihn, 55 gegen ihn und 25 enthielten sich der Stimme.

Bemerkenswert war, dass die Zustimmung für den neuen Premier sich quer durch die Fraktionen zog - ein Indiz, dass Russlands Präsident Wladimir Putin vom weitgehend machtlosen Parlament wenig zu befürchten hat. Die Kreml-Partei »Einheit« stimmte mit allen ihrer 80 anwesenden Abgeordneten für Kasjanow. Die Abgeordneten der rechtsextremen Liberaldemokratischen Partei von Wladimir Schirinowski waren ebenfalls eine sichere Bank für den Kreml-Kandidaten. Die Fraktion »Vaterland - Ganz Russland« unter dem Ex-Putin-Rivalen Jewgeni Primakow stimmte einheitlich für Kasjanow, mit einer Ausnahme auch die ultraliberale Union der rechten Kräfte mit Ex-Premier Sergej Kirijenko und Boris Nemzow. Die Kommunistische Partei zierte sich ein wenig: 28 Pro-Stimmen, unter ihnen Duma-Vorsitzender Gennadi Selesnjow, der seinen Posten einem Deal mit Putin verdankt, und 36 Contra-Stimmen, darunter auch Parteichef Gennadi Sjuganow - 77 ihrer Abgeordneten waren zur Abstimmung nicht erschienen. Die liberale Jabloko-Partei gab sich uneinheitlich: vier pro, acht contra, vier Enthaltungen. Sowohl Jabloko wie KPRF müssen schließlich auch Opposition simulieren.

Dass der neue Premier Kasjanow in erster Linie Ausführender der Politik sein wird, die Putin und die Präsidentenverwaltung vorgeben, machte schon seine Antrittsrede deutlich. Da präsentierte er sich als für die Ökonomie zuständiger Technokrat. Das Wiederanspringen der russischen Ökonomie im vergangenen Jahr beruhe auf »fragilen Grundlagen« und sei nicht »irreversibel«, meinte er. Sendepause war bei den Themen Tschetschenien-Krieg, Außenpolitik, Innenpolitik.

Kaum war Kasjanow von der Duma als Premier bestätigt, stellte Präsident Putin Teile der neuen Regierungsmannschaft vor. Die Inhaber der vier Gewaltministerien blieben auf ihren Posten: Innenminister Wladimir Ruschailo, Verteidigungsminister Igor Sergejew, Außenminister Igor Iwanow und der Katastrophenminister Sergej Schoigu sind alte Bekannte aus der Jelzin-Ära. Diese Minister werden direkt vom Präsidenten ernannt, die restlichen, zumindest offiziell, vom Premier.

Als stellvertretender Premier und Finanzminister fungiert ein Verbündeter Putins aus alten Petersburger Tagen: Alexej Kudrin. Er steht Anatoli Tschubais, dem Architekten der mafiosen Privatisierungen und jetzigen Chef der Vereinigten Energiesysteme, nahe. Dasselbe gilt für German Gref, der Putins Think tank zur Erstellung eines liberalen ökonomischen Programms vorsteht und Minister für ökonomische Strategie und Handel wird. Der neue Minister für Steuern wird Gennadi Bukajew, der im vergangenen Jahr von Moskaus Oberbürgermeister Juri Luschkow zum Steuerchef der Hauptstadt gekürt worden war. Eisenbahnminister Nikolai Aksjonenko bleibt auf seinem Posten - er gilt ebenso als Verbündeter des Tycoons Boris Beresowski wie Innenminister Ruschailo und Premier Kasjanow.

Bemerkenswert ist, dass Putin bei der Regierungsbildung auf Verbündete von Tschubais und Luschkow zurückgreift und zugleich alte Minister mit Nähe zu Beresowski recycelt. Einige politische Analysten sehen darin eine Fortsetzung der alten Jelzin-Taktik: Sich auf dem Präsidentenposten als eine Art Schiedsrichter über den rivalisierenden Fraktionen zu installieren. Andere sehen in der Zusammensetzung der Regierung den ungebrochenen Einfluss von Jelzins »Familie«.

Nur mit einem der Oligarchen gibt es Konflikte: Wladimir Gussinski. In der vorvergangenen Woche hatten brachial inszenierte Durchsuchungen in verschiedenen Büros seiner Media Most-Gruppe stattgefunden. Vergangenen Mittwoch versammelten sich etwa 2 000 Menschen zu einer Demonstration auf dem Puschkin-Platz in Moskau, um gegen den Angriff auf dem Kreml unbequeme Medien zu protestieren. Erneut wurde eine Sonderausgabe der Obstschawa Gaseta, einer Gemeinschaftsproduktion von diesmal 62 Zeitungen und anderen Medien-Projekten, verteilt. Nach Angaben der Moscow Times warnte Wselolod Juselowitsch, ein Wissenschaftler, auf der Kundgebung vor antisemitischen Untertönen in der Kampagne gegen Media Most: »Das ist nicht nur ein Angriff auf die Redefreiheit, sondern ein Versuch, verborgenen Antisemitismus in staatlich sanktionierten Antisemitismus umzuwandeln.« Gussinski ist Vorsitzender des Russischen Jüdischen Kongresses und war, so Moscow Times, Ziel antisemitischer Berichterstattung im TV-Sender ORT, der von dem Gussinski-Rivalen Beresowski kontrolliert wird.

»Die Verteidigung des Staates vor den freien Massenmedien ist gegenwärtig ein drängendes Problem.« So hat Presseminister Michail Lesin kürzlich das offizielle Ziel umschrieben. Selbstverständlich existieren die »freien Massenmedien« in Russland so wenig wie im Rest der Welt. Aber bei dem labilen Zustand des russischen Staates erscheinen der Macht schon geringe Abweichungen von der offiziellen Ideologie bedrohlich. Ein Gutes aber hat die endlose Geschichte des Titanen-Kampfes zwischen dem Staat und seiner Vierten Gewalt: Der frühere sowjetische Präsident Michail Gorbatschow hat wieder eine ehrenvolle Aufgabe. Er fungiert nun als Vorsitzender einer »Gruppe zur Beobachtung der Pressefreiheit«, die als unmittelbare Reaktion auf die Durchsuchungen bei Media Most gegründet wurde.

Des Kremls harte Hand zeigt sich seit vergangener Woche auch auf einer anderen Ebene. In einem überraschenden Schritt macht Putin Druck auf die Regionalfürsten, um den Zentrifugal-Tendenzen im russischen Staat entgegenzuwirken. »Wir werden in einem vereinten und starken Staat leben, dem Staat Russlands«, erklärte er vergangenen Mittwoch in einer im Fernsehen ausgestrahlten Ansprache an die Nation. »Das ist die Diktatur des Gesetzes.«

Was es mit dieser im konkreten Fall auf sich hat, verdient genauere Beobachtung. Es geht um einen Macht-Transfer von den Provinzfürsten zum Präsidenten, um den Zugriff der Moskauer Zentrale auf die 89 Subjekte der russischen Föderation. Die Provinzfürsten hatten Boris Jelzins altes Verdikt »Nehmt Euch so viel Souveränität, wie Ihr vertragen könnt« wörtlich genommen und teilweise ein beachtliches Maß an Autonomie erlangt - auch im Hinblick auf die Kontrolle der lokalen Steuereinnahmen und der Bodenschätze, die sie und ihre korrupte Umgebung oftmals reich gemacht haben.

Mit Dekret vom 13. Mai hat Putin sieben Verwaltungsbezirke eingeführt, in denen Statthalter des Kreml eingesetzt werden, um den Regionalfürsten auf die Finger zu schauen. Die sieben Bezirke decken sich weitgehend mit den bestehenden Militärbezirken, und ihre Hauptquartiere befinden sich in denselben Städten wie die militärischen Kommandozentralen. Die Statthalter werden ausschließlich Putin Bericht erstatten und dafür Verantwortung tragen, dass föderale Gesetze eingehalten werden.

Darüber hinaus hat Putin Gesetzesvorstöße angekündigt, die in der Duma kaum auf Widerstand stoßen werden: Nicht mehr die 178 Gouverneure oder Republikpräsidenten sowie die Vorsitzenden der Regionalparlamente sollten im Föderationsrat sitzen, sondern vielmehr ständige Vertreter. Damit würde jenen die parlamentarische Immunität entzogen. Außerdem will Putin das Recht, Regionalfürsten ihres Amtes zu entheben und Regionalparlamente aufzulösen, die Gesetze beschließen, die mit dem föderalen Recht nicht zu vereinbaren sind.

Am Freitag wurden die sieben Statthalter für die Verwaltungsbezirke des Kreml vorgestellt: General Viktor Kasanzew, der die russischen Truppen seit Oktober 1999 in Tschetschenien kommandiert, wird den gesamten Nord-Kaukasus leiten; General Konstantin Pulinowski, bekannt aus dem ersten Tschetschenien-Krieg, den Fernen Osten; Wiktor Tscherkessow, die Nummer zwei des Inlandsgeheimdienstes FSB, den nordwestlichen Distrikt mit Petersburg; zwei Leute aus dem Innenministerium den Ural und das Zentrum; schließlich Ex-Premier Kirijenko die Wolga-Region und ein früherer Diplomat Sibirien.

Der Militär-Analyst Pawel Felgenhauer sieht schwarz. Sinn mache die Einsetzung der sieben Kreml-Statthalter nur in einem bestimmten Szenario, schrieb er in einem Artikel mit der Überschrift »Anzeichen für einen finsteren Putschplan»: bei der Errichtung eines militärisch unterstützten Polizeistaates.