The Days After Nightmare

Der rasche Abzug der israelischen Armee aus dem Libanon geht auf Kosten der südlibanesischen Verbündeten. Dennoch kann er eine Basis für die weiteren Friedensverhandlungen sein.

So viel Einigkeit gab es in Israel lange nicht mehr: Meinungsumfragen zufolge stehen über 75 Prozent aller Israelis hinter dem hastigen Abzug der Armee aus dem Südlibanon. Die Meinungsforscher resümieren angesichts der überall spürbaren Erleichterung und Freude, dass der »libanesische Alptraum« nun endgültig beendet sei.

Über 1 000 tote und 2 000 verletzte Soldaten sowie 4 000 Katjuscha-Angriffe auf die im Norden Israels gelegene Grenzsiedlung Kirjat Schmona - so lautet die Bilanz der 1982 von Ariel Sharon angeordneten Militäraktion »Frieden für Galiläa«, die in der Besetzung der so genannten Sicherheitszone im Südlibanon endete. Der Guerillakrieg aber, den die israelische Armee und die mit ihr alliierte Südlibanesische Armee (SLA) mit der - vom Iran und Syrien finanzierten - schiitischen Hisbollah in den letzten Jahren führte, schützte kaum mehr die nördlichen Grenzsiedlungen, sondern artete zunehmend in einen verlustreichen Verteidigungskampf der Truppen selbst aus.

Fast in jeder israelischen Familie gibt es jemanden, der im Libanon seinen Militärdienst geleistet hat. Und so traf die Titelseite des Massenblattes Yedioth Aharonoth wohl am besten die Stimmung dieser Tage in Israel. Unter einem Bild Fahnen schwenkender Soldaten stand die Schlagzeile: »Mütter, wir sind raus aus dem Libanon.«

Nur wenige Tage zuvor hatte die Bevölkerung Israels noch wie gelähmt auf die Fernsehgeräte gestarrt, wo Bilder eines heillosen Chaos aus dem Südlibanon übertragen wurden: Hisbollah-Kämpfer waren da zu sehen, die plötzlich an der israelischen Grenze auftauchten und »Tod Israel« riefen, während Angehörige der SLA, die sich in nur wenigen Stunden als militärische Formation quasi aufgelöst hatte, verzweifelt und unter Beschuss das Land zu verlassen suchten.

Wegen dieser Entwicklung entschied Regierungschef Ehud Barak zusammen mit der Militärführung, den Abzug nicht wie geplant bis Juli aufzuschieben, sondern ihn umgehend zu vollenden. Die Tatsache, dass trotz des heftigen Beschusses bei der Räumung keine israelischen Verluste zu beklagen sind, wird Barak, dessen Ansehen in den letzten Monaten schwer gelitten hatte, sogar als »mutiger Führungsstil« (Ma'ariv) hoch angerechnet. Schließlich hatte ihm das Wahlversprechen, den Libanon binnen eines Jahres zu räumen, bei den Wahlen wohl die meisten Stimmen eingebracht.

Jetzt, in den »Days After«, wie die Zeitungen ihre Kommentare überschreiben, beherrschen, wie die Jerusalem Post schreibt, »drei Gefühle die öffentliche Meinung: neben allgemeiner Erleichterung, Scham und Angst«. Scham vor allem darüber, die SLA hängen gelassen zu haben. Zwar konnten bisher etwa 8 000 Angehörige dieser seit zwanzig Jahren mit Israel verbündeten Miliz nach Israel fliehen, wo sie in Auffanglagern notdürftig versorgt und später wohl eingebürgert werden. Der rasante Abzug allerdings hat Familien auseinander gerissen und den meisten der Flüchtlinge die Möglichkeit genommen, ihren Besitz zu retten.

Die SLA-Angehörigen in Israel klagen nun, im Stich gelassen und verraten worden zu sein, während 1 500 ihrer Mitkämpfer im Libanon, die sich entweder gestellt haben oder gefangen genommen wurden, auf dem Weg nach Beirut sind. Dort soll ihnen der Prozess gemacht werden. Bisher allerdings hat es keine Vergeltungsaktionen der Hisbollah gegenüber ehemaligen SLA-Leuten gegeben, und es scheint, dass die libanesische Regierung ernsthafte Versuche unternimmt, dass dies so bleibt.

Die dunkle Seite der Herrschaft der »Brüder im Kampfe« im Südlibanon - wie die SLA in Israel gerne genannt wird - wurde am Dienstag letzter Woche der Öffentlichkeit präsentiert: Hisbollah-Kämpfer stürmten das Gefängnis Al Khiam, eine SLA-Haftanstalt, die seit langem für ihre »Verhörspezialisten«, für Folterexzesse und miserable Haftbedingungen berüchtigt ist. Israelische und internationale Menschenrechtsorganisationen haben Al Khiam stets als den »übelsten Ort der Region« bezeichnet, der nur noch von den Verhältnissen im Tadmor-Gefängnis des syrischen Geheimdienstes überboten werde. Die Hisbollah plant nun, Al Khiam zu einem »Foltermuseum« umzugestalten, um der Welt das »Wesen des zionistischen Aggressors« zu präsentieren.

Sorgen bereitet vielen Israelis die Ankündigung der Hisbollah, weiterzukämpfen, bis alle Gefangenen und die Schebaa-Ländereien auf dem Golan befreit seien. Auch physische Angst verspüren die Bewohner des israelischen Nordens vor den Libanesen und der Hisbollah, die in diesen Tagen am Grenzzaun ihren Sieg feiern und Katjuscha-Lafetten in Sichtweite der israelischen Grenzsiedlungen aufgefahren haben: Ein Großteil der lokalen Bevölkerung ist in den Süden Israels geflohen.

Schon fürchten Israelis und gemäßigte Palästinenser, dass in der Westbank und im Gaza-Streifen der Erfolg der Hisbollah Nachahmer finden könnte. Überall in der arabischen Welt wird der Rückzug Israels als bedeutender Sieg gedeutet, in der Hisbollah erblickt man jene Kämpfer, die erstmals in der Geschichte des Nahost-Konfliktes die israelische Armee militärisch geschlagen hätten.

Nach den letzten Wochen, in denen illegal bewaffnete Milizionäre der palästinensischen Fatah auf israelische Soldaten geschossen haben und es in der Westbank und dem Gaza-Streifen zu heftigen Unruhen mit vielen Toten und Verletzten gekommen ist, befürchtet man in Israel, dass das libanesische Beispiel Schule machen könnte. Denn schon sieht sich beispielsweise die palästinensische Hamas in ihrem harten Kurs gegen den Friedensprozess gestärkt, während Friedensbefürworter schockiert sind: Ein Menschenrechtsaktivist aus der Westbank fasste es so zusammen: »Wie können wir die Leute davon überzeugen, dass gewaltloser Widerstand sich lohnt, wenn offensichtlich wird, dass bewaffneter Kampf mit Erfolg gekrönt ist, während Verhandlungen scheitern?«

Noch öfter wird zur Zeit die Frage gestellt, ob sich auch Syrien die bewaffnete Option weiter offen hält. Denn die Zukunft des Nahen Ostens liegt jetzt mehr oder weniger in den Händen der Regierung in Damaskus. Dabei dürfte dem syrischen Präsidenten Hafis-al Assad der plötzliche Abzug - trotz aller Freude über die israelische Niederlage - nicht gerade willkommen sein, fürchtet er doch, dass nun seine Besatzungstruppen ebenfalls aus dem Libanon abziehen müssen. Auch hat er am Mittwoch letzter Woche gegen 6.41 Uhr - der letzte israelische Soldat schloss gerade das Grenztor hinter sich - seinen besten Trumpf in den Verhandlungen um die Rückgabe des Golan eingebüßt.

Zudem hat der israelische Generalstab gedroht, dass es bei bewaffneten Übergriffen aus dem Libanon auf die Nordgrenze Israels nicht bei Vergeltungsschlägen auf Ziele im Libanon bleiben würde. Auch syrisches Militär könnte angegriffen werden, ein Krieg mit Syrien wäre wohl die Folge. Wenn aber Syrien und die Hisbollah militärische Eskalationen vermeiden, so hofft man in Israel, wäre der allseits begrüßte Abzug eine solide Basis für neue Friedensverhandlungen.