Potere Mentale

Vom Subjekt zum Superorganismus

Ein Gespräch mit Franco Berardi über seinen Weg vom Operaisten zum Cybernauten, die mentale Arbeit und die virtuelle Macht

Ich möchte ausgehen von einem Gespräch, das Du im Juli 1977 mit Félix Guattari geführt hast (1) und das mir heute erstaunlich aktuell vorkommt, vor allem, was die Analyse der »postfordistischen« Situation betrifft, die damals bei Guattari und im italienischen Operaismus schon ziemlich weit entwickelt gewesen sein muss. Zunächst aber zu den näheren Umständen dieses Interviews: Warum warst Du damals in Frankreich, wie ist der Kontakt zu Guattari zu Stande gekommen?

Das war im Juli 1977. Damals war der gesellschaftliche Konflikt in Italien stark zugespitzt. Vor allem was Bologna angeht, wo die Polizei mit großer Härte gegen die Bewegung vorgegangen ist und einen Studenten getötet hat, kann man durchaus von einer Art Aufstand sprechen: Vier Tage lang im März gab es Barrikaden im ganzen Stadtzentrum, Hunderte von Verhaftungen usw. Ich arbeitete bei einem Radio, das sich Radio Alice nannte und dessen gesamte Redaktion, 14 Redakteure, in diesen Tagen verhaftet wurde. Deshalb konnte ich nicht nach Bologna zurückkehren und floh nach Paris, wo ich Guattari kennengelernt habe. Guattari hatte große Aufmerksamkeit für das, was in Italien vor sich ging, weil er in diesen Jahren an einer Unterstützungsbewegung, einer Art Roten Hilfe auf europäischer Ebene, teilnahm. Außerdem waren die Themen der Bewegung von Bologna dem Denken Guattaris sehr nahe. Wir hatten damals den »Anti-Ödipus« (2) gelesen, und das hatte uns dazu gebracht, im politischen Kampf eher eine molekulare Bewegung zu sehen als eine leninistische Revolution.

Um dieses Gespräch von 1977 ein wenig in Erinnerung zu bringen: Mir scheint, dass Deine Analyse damals noch sehr stark dem operaistischen Modell verpflichtet war, allerdings mit einigen Einsprengseln einer Theorie der Wunschrevolution und der Mikropolitik. Es gibt in diesem Interview einen unüberhörbaren Dissens zwischen Dir und Guattari: Du legst sehr viel Wert auf die Rolle der Arbeitsverweigerung, die Du nicht nur als pure rebellische Geste betrachtest, sondern unmittelbar zum Motor und zum Subjekt der Geschichte erklärst. Weil das Proletariat die Arbeit verweigert, ist der Kapitalismus zur ständigen technischen Innovation gezwungen. Das brachte für Dich das Problem mit sich, eine Art »idealer Arbeiterklasse« konstruieren zu müssen, die nicht aus den realen Subjekten bestand, die täglich zur Arbeit gehen, sondern aus all den rebellischen Subjekten, die Arbeit verweigern. Damit war Guattari ganz offensichtlich nicht einverstanden: Er bestand darauf, dass die reale Arbeiterklasse genau die integrierte, patriarchale, rassistische usw. Arbeiterklasse ist, wie man sie aus den kapitalistischen und sozialistischen Ländern kannte, und dass jeder Versuch, den Begriff einer reinen, idealen Arbeiterklasse zu retten, bloße Metaphysik sei: der hegelianische Versuch, anhand eines dominanten »Widerspruchs« ein Subjekt der Entwicklung zu konstruieren.

Was diesen Hegelianismus angeht, muss ich eine biografische Bemerkung machen. Mich prägt meine politische Erfahrung bei Potere Operaio. Das war eine politisch-intellektuelle Gruppe, keine Massenorganisation wie Lotta Continua, aber mit einer starken Arbeiter-Komponente. So war die Intervention von Potere Operaio tatsächlich mit der Realität der italienischen Fabriken verknüpft. Es gab viele Arbeiter, bei Fiat, bei Alfa, in Porto Maghera usw., die mit der Organisation verbunden waren. Mehr als mit der Studentenbewegung ist daher mein politischer Werdegang mit der Intervention in der Fabrik verbunden, von 1967 bis 1973, dem Jahr der Besetzung von Fiat-Mirafiori.

Mein Bezug zum Marxismus hat sich damals auf einige starke philosophische Elemente gegründet, wie z.B. die Idee einer Subjektivität, die fähig wäre, die gesamte Gesellschaft zu transformieren. Und für mich war das jene Subjektivität, die sich als Verweigerung der Arbeit definierte. Arbeitsverweigerung heißt in diesem Zusammenhang nicht bloße Faulheit, sondern Intelligenz, Technik. Ich hatte also diese Vision, die, wenn man so will, einen starken hegelianischen Ursprung hatte: die Idee einer Subjektivität, die den Sinn der Geschichte in sich enthält und ihn durch die revolutionäre Bewegung verwirklicht.

Ich habe Guattari nie gefragt, aber meiner Ansicht nach hat er Hegel nie gelesen. Und das ist ein außergewöhnliches Glück. Ich denke, dass mein Problem - und meiner ganzen Generation - darin bestand, sich von Hegel zu befreien. Das heißt: sich von einer Sichtweise der Geschichte zu befreien, in der sich die Sachen gemäß einer unfehlbaren Matrix entwickeln, sodass man sofort, wenn etwas Neues auftaucht, versucht, es auf schon bestehende Kategorien zurückzuführen.

In diesem Sinn hat Guattari damals eine explizit antihegelianische Sichtweise von gesellschaftlicher Veränderung vorgeschlagen: Es handelt sich nicht darum, ein revolutionäres Subjekt zu finden oder zu konstruieren, sondern die Revolution zu verstehen, die ohnehin stattfindet: eine Revolution ohne Subjekt. Vielleicht kannst Du erklären, wie sich diese Umkehrung der Perspektive: vom Subjekt zum Prozess, auf die Analyse der Technik, der Politik und der Ökonomie ausgewirkt hat?

Das ist eine ganze Reihe von Fragen. Was die Ökonomie betrifft, so denkt Guattari schon in jenem Interview von 1977 in den Begriffen, die heute zu jeder Analyse der Globalisierung oder des vernetzten Kapitalismus gehören. 1981 hat Guattari ein Büchlein geschrieben »Plan pour la planète«, das ich damals ins Italienische übersetzt habe. Erinnern wir uns: 1981, das ist die Zeit der nuklearen Aufrüstung, der Pershings und SS 20; in Europa, vor allem in Deutschland, wächst die Furcht vor einem bevorstehenden Krieg, und allgemein, sowohl auf Seiten des Kapitals als auch auf der Seite der Arbeiterbewegung, herrscht die Sicht vor, dass die Welt durch die Rückkehr des Kalten Krieges in zwei Lager gespalten sei. Inmitten von all dem erklärt Guattari: Das ist nur eine optische Täuschung. Die Entwicklung läuft nicht auf eine Verhärtung der Blöcke hinaus, die Tendenz geht hin zur Entstehung eines weltweiten integrierten Kapitalismus. Es handelt sich darum, die molekularen Prozesse, z.B. die Neuzusammensetzung des Arbeitsprozesses, wahrzunehmen, die sich unter der Massivität der Blöcke, der militärischen Gewalt usw. verbergen. Diese Prozesse bringen Konflikte hervor, die sich immer weniger auf die Konfrontation von Ost und West zurückführen lassen. Ich würde sagen, Guattari hat von Globalisierung gesprochen, als alle noch von Kaltem Krieg und der Konfrontation der Systeme sprachen.

Was Guattaris Analyse der Technik angeht, muss man eine Vorbemerkung machen, die das Konzept der Maschine oder des Maschinellen betrifft. Für Deleuze und Guattari bedeutet »Maschine« nicht einfach etwas Mechanisches. Es gibt nicht nur mechanische Maschinen, sondern auch biologische Maschinen, symbolische Maschinen, Maschinen des Unbewussten usw. Also - was ist dann eine Maschine? Maschine ist etwas, das funktioniert. Wenn Teile in einer Relation stehen, die Schnitte in der Realität produziert, dann haben wir eine Maschine.

»Maschine« ist also formal, durch ihr Funktionieren, definiert, und nicht inhaltlich: Die Elemente können irgendwas Beliebiges sein.

Genau. Deshalb stellt das maschinelle Denken von Deleuze und Guattari auch die konventionellen Trennungen permanent in Frage: von Animalischem und Mineralischem, von Biosphäre und Mechanik. Sie sprechen von »agencements»: Verkettungen von Teilchen, die selbst völlig asignifikant sind und deren Bedeutung allein im Funktionieren liegt. Diese ganze Konzeption ist jener Bewusstseinsform sehr nahe, in die wir mit der Digitalität und der Biotechnologie eintreten und die nicht mehr von der Idee der Molarität - der großen Blöcke und der institutionellen Formen - ausgeht, sondern von der Molekularität und den unabsehbaren Verkettungen der kleinsten Teile, eine Idee, die übrigens schon bei Demokrit auftaucht.

Bei Deleuze und Guattari findet sich die Idee, dass sich das gesellschaftliche Spiel über die Semiotisierung dieser Verkettungen und Mechanismen abspielt. So handelt es sich auch bei dem, was man Fortschritt oder Befreiung von Herrschaft usw. nennen könnte, darum, den Raum, der Dich umgibt, so oder so zu semiotisieren, auf diese Weise und eben nicht in einer anderen. All die Diskussionen über die Technik: Die Technik ist gut, die Technik ist schlecht, die Technik schafft Befreiung, die Technik verursacht Herrschaft, all diese Fragen sind bei Guattari ganz einfach gelöst: Es gibt nicht eine Funktionsweise von Technik, es gibt so viele verschiedene wie es semiotische Verkettungen gibt, die man in Bewegung setzen kann.

Mit der Ausdehnung des Internet - und mit seiner Theoretisierung - sind die Begriffe von Deleuze und Guattari unerwartet populär geworden: Immer wenn es um World Wide Web, Chat-Rooms oder Hypertext geht, stößt man auf Begriffe wie Rhizom, Verkettung, Deterritorialisierung, Virtualität usw. Manchmal hat man den Eindruck, dass hier das abstrakte Konzept der Wunschmaschine etwas zu schnell mit der technischen Struktur des Netzes identifiziert wird: So als ob die technische Apparatur alleine schon eine Dezentrierung und Verflüssigung des Subjekts bewirken könnte.

Man muss sich eines vor Augen halten: Guattari ist 1992 gestorben. Und das Netz, so wie wir es kennen, entsteht 1992. Natürlich gab es das telematische Netz schon länger, aber Guattari ...

... hat es nicht benutzt.

Um die Wahrheit zu sagen, er hat nicht mal mit der Schreibmaschine geschrieben. Er war kein Technik-Freak. Das sage ich nur, damit klar ist, dass das rhizomatische Denken schon vor der Verbreitung der Netzkultur entwickelt war. Man könnte vielleicht sagen, dass es sich beim Web um die Konkretisierung eines Modells von nicht-hierarchischem Denken handelt, das Guattari anhand anderer, politischer und ökonomischer Entwicklungen demonstriert hat.

Wenn man Deleuze und Guattari folgen will, kann man jedoch nicht von einer bestimmten Verkettung, nur weil sie einen befreienden Aspekt hat, behaupten, dass sie ausschließlich Trägerin von befreienden oder fortschrittlichen Wirkungen sei.

Es gibt keine direkte Beziehung zwischen der technischen Form und den Produktionen des Inhalts. Hier muss man das Prinzip der Vielheit wörtlich nehmen: Jede Behauptung ist wahr nur im Bezug auf einen Prozess, der sich vollzieht.

Wie Deleuze und Guattari betonen, handelt es sich für die Philosophie nicht darum, die Wahrheit zu sagen. Sie muss Begriffe erfinden. Begriffe zu schaffen, heißt nicht, das wahre Wesen einer Sache zu erfassen, sondern, ganz ähnlich wie ein Fotograf das mit seinem Objektiv macht, einen frame, einen Rahmen zu schaffen, einen Raum zu begrenzen, der es Dir erlaubt, etwas zu sehen, das Du ohne den Rahmen oder den Begriff nicht sehen könntest.

Selbstverständlich kann ein Begriff wie Wunschmaschine das Internet erklären. Er erklärt es sogar sehr gut. Aber das Internet kann auch eine ganze Reihe von anderen Sachen sein.

Du hast das Jahr 1977 als eine »Wasserscheide« in der Entwicklung der neuen Technologien, der Organisation der Arbeit und der Subjektivität bezeichnet. (3) Warum gerade 1977?

1977 ist das Jahr, in dem Juri Andropow, damals Direktor des KGB, einen Brief an Breschnew schreibt: Genosse Generalsekretär, entweder es gelingt uns innerhalb von zehn Jahren, den Vorsprung des Westens auf dem Gebiet der Informatik aufzuholen, oder es ist aus mit der Sowjetunion. Es ist das Jahr, in dem in Silicon Valley Steve Wozniak und Steve Jobs den Apple konstruieren, und in dem in Frankreich Simon Nora und Alain Minc »Die Informatisierung der Gesellschaft« schreiben, ein Buch, in dem schon die Effekte beschrieben sind, die die Datenübertragung in den achtziger Jahren haben wird. Es ist auch das Jahr der Jugendrevolte, der Explosion der Punk-Bewegung in London oder der autonomia creativa in Bologna. Ich betrachte es als das Jahr, in dem das Proletariat zu spüren beginnt und bis in die Formen des gesellschaftlichen Lebens hinein erfährt, dass der klassische Fabrikkonflikt, der die sechziger und siebziger Jahre beherrscht hat, zu Ende geht.

Der Fabrikkonflikt löst sich auf, weil die technologische Revolution mit der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit auch die Arbeiterklasse quantitativ reduziert. In diesen Jahren hat es die Arbeiterklasse versäumt, ihre politische Macht zu nutzen, um einen Diskurs über die Reduktion der Arbeitszeit zu entwickeln, einen Diskurs, der heute, 20 Jahre später, lanciert wird, nachdem sich weltweit das Blatt schon längst gewendet hat.

Es handelt sich 1977 auch um die Wahrnehmung einer neuen Dimension der Arbeit, die damals noch nicht leicht zu definieren ist: mentale Arbeit, kreative Arbeit, später auch digitale Arbeit, virtuelle Arbeit usw. In der italienischen Szene ist diese Wahrnehmung sehr ausgeprägt, vor allem deshalb, weil in diesem Jahr das Phänomen der freien Radios sich ungeheuer ausdehnt. Und diese Radios mit ihrer Idee der kommunikativen Interaktion, der niedrigen Kosten des Kommunikationsmittels usw. bieten eine gute Vorstellung von dem, was später einmal die Internet-Kultur sein wird. Es ist eine Zeit, in der die Kosten der Kommunikationstechnologien ungeheuer sinken: Videoband, Radiosender, Offsetmaschinen, Fotokopierer, später das Desktop-Publishing, all das erleichtert den Zugang zur Produktion von Zeichen in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß ...

Dabei bleibt aber noch das Problem, welche gesellschaftliche Relevanz diese alternative Zeichenproduktion gegenüber den Massenmedien bekommen kann ...

Na ja. 1977 gab es 300 freie Radios in Italien. Es wurde ausgerechnet, dass 1977 in den italienischen Städten Fanzines in einer solchen Menge erschienen sind, dass die Verbreitung und Gesamtauflage der einer großen Tageszeitung entsprach. Jedes Viertel, jede Schule, jede Kaserne hatte ihr eigenes Fanzine und die Leute haben diese Sachen sehr viel intensiver gelesen als die Zeitung. In diesen Jahren gab es tatsächlich die Möglichkeit, sich der Informationsmacht des Kapitals entgegenzustellen. Allerdings nur für sehr kurze Zeit. Dann hat die Welle der privaten Fernsehstationen diese Entwicklung zunichte gemacht. Außerdem gab es noch die Polizei und das Gefängnis. Von 300 linken Buchhandlungen im Jahr 1977 existierte 1991 nur noch die Hälfte. Die anderen 150 wurden von der Polizei geschlossen oder die Buchhändler verhaftet. Dieses ganze Netz ist in drei, vier Jahren zusammengebrochen: das Ende eines Klassenkampfs auf dem Feld der Information.

Von heute aus gesehen kann man sagen, dass diese Verlagerung von der Fabrik zur Information zwei wesentliche Effekte hatte: Sie hat, erstens, auf gesellschaftlicher Ebene die Bedingungen für eine Art Selbstwahrnehmung der produktiven Arbeit geschaffen, die sich damals als »mentale Arbeit« erkennt, und zweitens hat sie auch Formen der produktiven Zusammenarbeit geschaffen -siehe Internet -, die nicht mehr in den Rahmen passen, der die Probleme der industriellen Arbeit definiert hat.

Zur Zeit gibt es in Frankreich, aber auch in Deutschland, so etwas wie eine kleine Renaissance der operaistischen Fragestellungen, vielleicht auch deshalb, weil man merkt, wie deutlich die Theorie der »fabbrica difusa«, des »gesellschaftlichen Arbeiters« und der »Selbstverwertung«, die ja schon in den siebziger Jahren formuliert worden ist, die neuen, »postfordistischen«, »toyotistischen« oder »hollywoodistischen« Formen der Organisation von Arbeit vorweggenommen hat. Innerhalb dieser Landschaft des »brave new work« versuchen Negri und Lazzarato mit ihrem Konzept der »immateriellen Arbeit« die Bedingungen für so etwas wie eine neue revolutionäre Subjektivität zu formulieren ...

Es gibt in dieser Hinsicht, z.B. auch innerhalb der Redaktion von derive/approdi (4), eine gewisse Polemik. Einige schlagen die Gründung einer revolutionären Gewerkschaft der immateriellen Arbeit vor. Für mich ist das ein ungeheurer Blödsinn. Es geht nicht darum, jene Organisationsformen zu reproduzieren, die die industrielle Arbeit begleitet haben. Das sind Formen, die den neuen Formen der Produktivität, die in der mentalen Arbeit auftauchen, überhaupt nicht angemessen sind. Es handelt sich um eine Arbeit, die, im Produktionsprozess selbst, die Modalitäten der Produktion von Kultur, von Politik, von Beziehungen, von Psychismen usw. enthält. Aber es handelt sich dabei um Prozesse, die nicht einfach durch die Rekonstruktion irgendeines antagonistischen Subjekts vereinheitlicht werden können.

In dem Interview von 1977 hat Guattari eine ähnliche Sicht vertreten: Es gibt eine Vielfalt von globalen ökonomischen, technologischen, semiotischen usw. Strömen, aber es gibt kein Subjekt mehr, das diese Prozesse vereinheitlichen könnte. Insofern, sagt Guattari, ist die Politik, wie wir sie kennen (die Politik der Institutionen und Nationalstaaten) am Ende. Dennoch spricht Guattari damals noch von der Möglichkeit und der Notwendigkeit, die Prozesse nicht nur zu analysieren, sondern ihnen auch eine bestimmte Richtung, einen bestimmten Drall zu geben ...

Was kann heute die Politik sein? Ich glaube, man muss gleichzeitig zwei verschiedene intellektuelle Funktionen haben, sozusagen mit zwei Gehirnen denken: Zunächst mal handelt es sich darum, den Prozess zu verstehen. Das ist etwas, worauf wir nicht verzichten können. Wenn wir uns z.B. vergegenwärtigen, dass der Gesichtspunkt des »Humanen«, des »Menschen«, wie er sich seit dem 15. Jahrhundert ausgebildet hat, nicht mehr dazu dienen kann, irgendetwas von dem zu verstehen, was sich heute abspielt, dann besteht unsere intellektuelle Aufgabe darin, dieses überwundene Konzept aufzugeben, um ein anderes zu finden.

Es wäre Blödsinn, vom »Übermenschen«, zu sprechen, aber die Konzeption eines »Überorganismus« oder das Modell des »Netzes« kommt den heutigen Formen der Interaktion sehr viel näher als das des »Menschen« oder des »Subjekts«. Es handelt sich dabei nicht darum, Triumphgefühle zu entwickeln. Ich sage nicht, dass es toll ist, dass es mir gefällt, mich im »Superorganismus« aufzulösen. Es handelt sich darum, die Sache zu verstehen. Das ist die zentrale Aufgabe.

Dann muss man aber noch die Rechnung mit der Welt machen. Wenn Du merkst, es gibt in der Welt, in der Du lebst, zerstörerische Tendenzen, was sollst Du dann machen? Sollst Du den Gesichtspunkt der langen Dauer einnehmen und sagen: Ihr werdet auch noch sterben, also was soll's? Oder soll man den Gesichtspunkt des leidenden Menschen vertreten? Ich glaube, man muss beide Positionen einnehmen. Man muss wissen, dass es mit der Subjektform »Mensch« zu Ende geht, man muss aber auch Schlachten schlagen, in denen man keinerlei Möglichkeit eines Sieges sieht, wenn darin die einzige Möglichkeit liegt, dass sich »der Mensch« auf menschliche Weise auflöst.

Es handelt sich also um eine Übung in doppeltem Denken. Ich habe z.B. keine Sympathien für diesen Wired-Diskurs, der da heißt: Die Welt der Zukunft wird wundervoll sein, wir werden alle glückliche Programmierer usw. Das erscheint mir intellektuell ziemlich armselig. Aber ich teile auch nicht den Stil von Le Monde Diplomatique oder von Il Manifesto, die behaupten, es gebe Werte, die man auf jeden Fall und um jeden Preis verteidigen müsse. Dabei verkennen sie die Realität, deren letzte Instanz nicht die Menschheit und ihre Werte sind, sondern der Prozess.

Die Frage der Werte betrifft noch ein wenig die Rolle des Intellektuellen alten Typs, der angesichts der drängenden Probleme der Zeit seine Meinung sagt, auch wenn das nichts mehr hilft. In deiner Analyse der »mentalen Arbeit« hast Du aber auch angedeutet, welche Bedeutung in der Entwicklung des »planetarischen Superorganismus« die technowissenschaftliche Intelligenz hat, oder das, was Foucault den »spezifischen Intellektuellen« genannt hat. Zeichnet sich da, im Innern des technologisch-ökonomischen Prozesses, eine Intelligenz ab, die in den Sachen drin steckt, sich aber nicht unbedingt mit der Richtung identifiziert, die durch die Bedingungen der kapitalistischen Verwertung oder der militärischen Rüstung vorgegeben ist?

Es gibt ja, von den Anfängen der Frankfurter Schule bis heute, diese alte Diskussion über die Neutralität bzw. die kapitalistische Formiertheit der Technik. Ich würde es vorziehen, den Diskurs auf die Rolle, die Funktion und das Bewusstsein jener Arbeit zu verlegen, die mit der Erfindung dieser Techniken zu tun hat, nämlich die wissenschaftliche Forschung. Ich denke, dass die linken Bewegungen, vielleicht nicht in Amerika, aber auf jeden Fall in Europa, die Rolle der wissenschaftlichen Arbeit und die Bedeutung eines Selbstbewusstseins dieser Arbeit immer zu wenig beachtet haben. Dabei stellt sich das Problem ganz explizit, vor allem was die biotechnologische und militärische Forschung angeht. Da handelt es sich einerseits um den ethischen Aspekt, aber auch um den ganzen Komplex von Macht, Wissen und Gesellschaft, der die technowissenschaftliche Arbeit bestimmt. An dieser Front spielt sich die letzte und vielleicht komplizierteste und gefährlichste Schlacht ab. Ich denke z.B. an die Rolle, die die Biotechnologien in der Zukunft der Ökonomie spielen werden, aber natürlich auch an den Effekt, den sie auf den Begriff des Lebens selbst haben werden. Hier bekommt die Frage nach dem Selbstbewusstsein und der Selbstbestimmung (autogoverno) der wissenschaftlichen Arbeit eine ungeheure Bedeutung.

Auf dieser Ebene, der Beziehung zwischen Kapital und menschlicher Intelligenz, wird heute die Partie um die menschliche Zukunft entschieden. Ich weiß, dass z.B. neun von zehn Biotechnikern ein höheres Gehalt ablehnen würden, wenn sie dadurch gezwungen wären, etwas für sie ethisch Unvertretbares zu tun. Aber einer von zehn akzeptiert das Angebot vielleicht. So muss man im Augenblick sagen, dass die kollektive Intelligenz eine Macht des Kapitals ist. Aber gleichzeitig ist die kollektive Intelligenz auch ein Prozess, in dem das Bewusstsein zirkuliert. Genau darin besteht auch die Ambiguität des Netzes, in dem gleichzeitig kreative Intelligenz zirkuliert und ökonomische Macht.

Vor 20 Jahren konnte man die ökonomische, politische und militärische Macht noch ganz gut mit dem Bild der Festung oder des Bunkers beschreiben, umgekehrt lag es für die aufständischen Bewegungen nahe, ihre Kraft und ihren Vorteil in ihrer extremen Beweglichkeit, Unsichtbarkeit und Ungreifbarkeit zu sehen. Dieses »nomadische« Modell des Widerstands ist in die Krise geraten, seitdem man wahrnehmen muss, dass auch die Macht inzwischen vollkommen deterritorialisiert ist und unsichtbar in den Netzen zirkuliert.

Welche Strategien oder Taktiken lassen sich gegen diese nomadisch gewordene Macht noch in Anschlag bringen, ohne in eine Nostalgie der gesicherten Grenzen, der festen Territorien und des starken National- bzw. Sozialstaats zurückzufallen?

Die Geschichte des modernen Kapitalismus ist eine Geschichte, in der Unterdrücker und Unterdrückte, Macht und Revolte sich auf dem gleichen Territorium befanden. Die Villa des Fabrikdirektors befand sich auf dem gleichen Territorium wie die Arbeiter, die dort hingehen und Krach schlagen konnten. Der Winterpalast befand sich auf demselben Territorium wie die Arbeiter, die ihn besetzen und die bolschewistische Regierung einrichten konnten. Die Macht zu ergreifen, hieß also den territorialen Ort zu erobern, an dem die Entscheidungen getroffen werden. Und dieser Ort der Macht war koextensiv mit dem Ort der Revolte, der Marginalisierung, des Leidens, der Armut, auch wenn er sich dagegen abzuschotten versuchte.

In dieser Hinsicht befinden wir uns heute in einem ganz anderen Universum. Mit der Verbreitung der digitalen Techniken ist das Territorium, auf dem die sich der Prozess der Macht und der Entscheidung abspielt, nicht mehr koextensiv mit dem Alltagsleben des größten Teils der Menschheit und auch nicht mehr mit dem der Revolte. Den telematischen Palast kann man nicht mehr einnehmen wie den Winterpalast. Das Netz ist uneinnehmbar, und genau dafür ist es entworfen worden. Deshalb denke ich, dass Massenrevolten heute überhaupt nichts mehr bringen. Natürlich gibt es auf der ganzen Welt noch Massenbewegungen, aber sie haben allgemein einen eindeutig konterrevolutionären, manchmal sogar faschistischen Charakter. Wenn man an Hamas denkt oder an den islamischen Integralismus, dann muss man sich klarmachen, dass es zig Millionen Menschen gibt, die unter den Effekten des IWF und der Weltbank leiden und denen das Fernsehen und die globale Telekommunikation erlauben, die Repräsentationen der Macht zu sehen. Sie stehen also in einer Beziehung zur Macht, sie haben aber keinerlei Möglichkeit, die Macht anzugreifen.

Eine Art Einbahnstraße.

Klar. Die virtuelle Macht agiert auf dem Territorium. Aber umgekehrt gibt es keine reale Möglichkeit, vom Territorium aus das Netz anzugreifen. Wie soll man in einer solchen Situation agieren? Vergessen wir nicht, dass sich in der virtuellen Zitadelle genau das befindet, was ich virtuelle Arbeit nenne. Ich weiß, dass diese Arbeit von einem verschwindend kleinen Teil der Menschen ausgeführt wird. In den USA sind es vielleicht 20 Prozent, weltweit sicher noch unter ein Prozent. Dennoch liegt der geschichtliche Prozess in gewisser Weise fast vollständig bei dieser kleinen Minderheit. Einen Marxisten bringt so was natürlich völlig durcheinander, aber so ist es eben.

Die virtuelle Klasse wird in erster Linie daran interessiert sein, ihren komfortablen Status als Hightech-Oberschicht zu erhalten. Wie soll man sich auf diesem Feld befreiende Eingriffe vorstellen?

Die ganze Cyberpunk-Bewegung hat sich diese Frage gestellt. Sie verkörpert sozusagen das Bewusstsein der Ambiguität, die in der Virtualität impliziert ist. Diese Ambiguität betrifft auch die Cyberpunk-Bewegung selbst. Man weiß nie so genau, ob sie nun von Orwell inspiriert ist, also von einer erschreckenden Vision der totalen Kontrolle, oder ob sie sich an Steve Wozniak und die kalifornische Cyberkultur anlehnt, die eher ein technologisches New Age verkündet, in dem alles bestens sein wird.

Es stimmt, dass wir weltweit die Kristallisation einer virtuellen Klasse beobachten können. Das betrifft übrigens auch den aktuellen Prozess der Konstruktion von Europa. Auch hier scheint mir das wesentliche Moment die Herausbildung einer virtuellen Klasse zu sein. Die europäische Flagge mit ihrem Blau und den Sternchen, das sieht schon aus wie ein Bildschirm. In Europa herrscht eine Ideologie des Computers, die viel kälter ist als in Amerika, wo in der Cyberkultur noch so eine Art soziales Bewusstsein vorherrscht. Hier bildet sich dagegen eine Cyberbürokratie aus, die im Inneren ein wenig Demokratisierung spielt, nach Außen aber die Trennungen verfestigt: »Europa« als der sich virtualisierende Kontinent und der Rest der Welt als elektronisches Niemandsland.

Das kann man ja ganz gut an den Karten ablesen, die vom Cyberspace gezeichnet werden, eine Geographie der Herrschaft, die sich weitgehend mit der kolonialen Landkarte deckt.

Klar. Es gibt aber auch Gegeneffekte. In Bangalore z.B. haben zehn Prozent der Bevölkerung Informatik studiert, mehr als in irgendeiner europäischen Stadt. In der Geographie der Virtualisierung kann man nicht mehr so einfach zwischen Nord und Süd unterscheiden. Nord und Süd verteilen sich eher wie die Flecken auf einem Leopardenfell über die ganze Welt, wobei die Trennungen allerdings keineswegs weniger starr sind als zuvor. Nehmen wir z.B. Europa: Das dominante Verhältnis zu den Albanern, den Türken oder den Nordafrikanern, die heute über die Grenzen kommen, besteht darin zu sagen: Hauptsache, sie bleiben an den Orten, die wir ihnen zuweisen. Sie können nach Kreuzberg gehen oder nach San Donato (5), entscheidend ist, dass sie nicht an die Orte gelangen, die tatsächlich die territorialen Ankerplätze der Virtualität darstellen.

Auf dieser Segmentierung des Raums beruht das ganze Leben der virtuellen Klasse. Vor einem Jahr war ich in Rio de Janeiro, wo es ganze Wohnanlagen gibt, in die man nur reinkommt, wenn man einem Polizeiposten den Ausweis vorzeigt. Diese Leute sind vollständig mit der Welt verbunden, sie machen ihre internationalen Transaktionen, aber ihre Wohnung verlassen sie nur noch, um Zigaretten zu holen.

Anmerkungen

(1) Félix Guattari: Wunsch und Revolution. Ein Gespräch mit Franco Berardi (Bifo) und Paolo Bertetto. Heidelberg: Verlag Das Wunderhorn, 1978

(2) Gilles Deleuze/ Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, franz. Erstausgabe 1974

(3) »Pour en finir avec le jugement de dieu«. In: Settantasette. La rivoluzione che viene. Roma: Castelvecchi, 1997

(4) Eine post-operaistische Zeitschrift in der neben Berardi auch Maurizio Lazzarato und Toni Negri veröffentlichen.

(5) Vorort von Bologna

Franco Berardi, geboren 1949, begann sein öffentliches Leben mit Versuchen in abstrakter Malerei. 1967 wurde er »wegen operaistischer, anarchistischer und maoistischer Abweichung« aus der Jugendorganisation des PCI ausgeschlossen, wechselte zu Potere Operaio. 1975 gründet er mit anderen die Zeitschrift A/traverso, die wie das Kommunikationsexperiment von Radio Alice zu einem wichtigen Element des »Movimento del Settantasette« wurde, einer Revolte, die sich auf die Verweigerung von Lohnarbeit und die sofortige Befreiung der Wünsche richtete. Eine Vision, die die kommunistischen Stadtväter von Bologna dazu brachte, die Panzerwagen auffahren zu lassen. Polizeilich gesucht »wegen Aufstachelung zum Klassenhass durch Radiosendungen« mußte »Bifo« nach Paris ausweichen, wo er bei Félix Guattari Unterschlupf fand. Nach 1978 reiste er haschischrauchend durch China, Indien, Mexiko, widmete sich der Erforschung der »mentalen Ökologie« und entdeckte schließlich das »telematische Netz«. Es sah alles danach aus, als würde Franco Berardi als »guru del ciberspazio« zur Ruhe kommen. Letztes Jahr jedoch meldete er sich mit Vorträgen über die Veränderung von Arbeit unter den Bedingungen ihrer Informatisierung und Globalisierung in der politischen Diskussion zurück.