Deutsch-französische Vereinbarungen

Doppelpass für Kerneuropa

Der nächste Gipfel hat noch gar nicht begonnen, da reden schon alle vom übernächsten. Der findet im Dezember in Nizza statt und wird die am 1. Juli beginnende französische EU-Ratspräsidentschaft beenden. Nicht zuletzt im Hinblick auf die angestrebte Ost-Erweiterung der EU soll Nizza zum Meilenstein werden. Es wird dort, so der Fahrplan, um die Reform der EU-Institutionen gehen. Reformiert werden soll vor allem das Stimmgewicht der einzelnen Mitgliedsländer im Europäischen Rat und das Prinzip der Einstimmigkeit, das bisher für alle Fragen von Belang festgeschrieben ist. Am Ende der vergangenen Woche verlautbarten die französische und die deutsche Regierung anlässlich ihres Gipfeltreffens in Mainz, man habe sich über die in Nizza zu treffenden Entscheidungen schon einmal vorab und zu zweit geeinigt.

Die Kommentatoren äußerten Verständnis für die Notwendigkeit, Details der Abmachungen erstmal unter Verschluß zu halten. Man müsse, so die FAZ, den Eindruck vermeiden, »alle wichtigen Entscheidungen würden von Paris und Berlin getroffen, bevor die anderen einbezogen würden«. Dafür wurde ausführlich gewürdigt, dass überhaupt etwas vereinbart wurde.

In Anspielung auf die aus Teilnehmerkreisen überlieferte »außergewöhnlich herzliche Atmosphäre« des Mainzer Treffens titelte die Süddeutsche Zeitung »Paris und Berlin: Neue Liaison amoureuse«. Den Ablauf der französischen Präsidentschaft stellt sich der Kommentator so vor: Paris »justiert das Stimmengewicht, sorgt für Mehrheitsentscheidungen, öffnet das Tor für ein Kerneuropa und das alles mit der in Mainz verabredeten stillen Zustimmung Deutschlands. Berlin hingegen entzieht sich dem Scheinwerferlicht, überträgt Paris die Meinungsführerschaft und kann so niemals in den Ruf geraten, als stärkstes Land der Europäischen Union kraftmeierisch aufgetreten zu sein.«

So klingt das Drehbuch für eine möglichst schnelle amtliche Fixierung der Hegemonieverhältnisse in Europa. Die Liquidierung des Prinzips der Einstimmigkeit ist ein altes deutsches Projekt, begründet wird die Forderung nach Abschaffung des bisherigen faktischen Vetorechts für alle EU-Mitglieder meist pragmatisch. Just am vergangenen Samstag erklärte Ex-Verteidigungsminister Volker Rühe, die EU müsse »ihre Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit durch Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen« verbessern. Dass Deutschland als wirtschaftlich und politisch stärkste EU-Macht zur Herstellung passender Mehrheiten im Bedarfsfall sehr nachdrückliche bilaterale Überzeugungsarbeit leisten kann, versteht sich von selbst.

Seit ihn Außenminister Joseph Fischer Mitte Mai aus der Schublade holte, arriviert zudem der Terminus »Kerneuropa« vom Unwort zum Sachzwang. Als Wolfgang Schäuble und Karl Lamers (CDU) den Begriff 1994 erfanden, ging ein Sturm der Entrüstung durch die EU. Angesichts des akuten Drängens der ost- und südosteuropäischen Beitrittskandidaten erscheint jetzt jedoch eine regulierte Entschleunigung ratsam. Die Institutionalisierung unterschiedlicher Integrationsniveaus würde für die EU-Architekten die wichtige Option eröffnen, wirtschaftlich oder politisch bedenkliche Kandidaten an den Rand und gleichzeitig unter Aufsicht der EU-Zentralen zu stellen. Fischers Wort vom »Gravitationszentrum« als »Avantgarde« der EU gehört in diesen Zusammenhang.

Vielleicht passiert aber bis Nizza auch nichts von dem. Es gibt nämlich noch keine Einigung über die künftige Stimmgewichtung der EU-Mitglieder. »Frankreich und Deutschland«, so die FAZ, »müssen deshalb auch darüber sprechen, wer von beiden der Größere ist. Das fällt traditionell den Franzosen nicht so leicht.« Aber immerhin den Deutschen.