Europa-Meisterschaft 2000

Penetrante Tipperei

Schon vor dem Anpfiff der Euro 2000 steht der Gewinner fest, jedenfalls in Deutschland. Die Titelverteidigung ist schließlich wichtig für die europäische Konjunktur.

Vor jedem großen Fußballereignis muss in jedem Land traditionell zunächst die Prominenz ran. Nicht nur, um mit den Auswahlkickern dusselige Lieder aufzunehmen, sondern um Tipps abzugeben, wie die Chancen der eigenen Nation stehen. Das ist eine verhältnismäßig einfache Aufgabe, denn viel falsch kann man dabei nicht machen. Man muss nur stur behaupten, was das Publikum hören will. Dass die Mannschaft einen überaus geschlossenen Eindruck mache, daher alles ganz wunderbar laufen werde und die Chancen, ins Endspiel zu kommen, noch nie so groß gewesen seien wie dieses Mal - falls es dann nicht klappt, kann man später immer noch in den Nachfolgeumfragen seiner überaus großen Enttäuschung Ausdruck verleihen und personelle Konsequenzen fordern.

In Deutschland ist das nicht anders. Vor der Eröffnung der Fußball-EM wurden auch diesmal gewohnheitsmäßig Promis befragt, mit dem vorhersehbaren Ergebnis. Jan Ullrich zeigte sich »ganz optimistisch: Deutschland kommt in die nächste Runde.« So sieht das auch Wolfgang Clement: »Der Test gegen Tschechien hat gezeigt, dass in der deutschen Mannschaft wesentlich mehr steckt, als manche Kritiker uns einzureden versucht haben. Ich setze auf die Turnierqualität der Mannschaft. Sie wird sich steigern, und wenn dann noch die nötige Portion Glück hinzukommt, ist alles möglich - auch ein Triumph wie in England.«

Boris Becker, der auch diesmal als »Glücksbringer« auf der Tribüne anwesend sein will, sagte, er tippe immer auf Sieg. Michael Schumacher erklärte: »Unsere Jungs haben zuletzt gute Testspiele gezeigt. Ich wünsche, dass sie weiter in der Gewinnspur bleiben und die Pessimisten Lügen strafen. Ich war auch lange einer von denen, hoffe aber, dass ich falsch liege.« Und auch Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl zeigte sich optimistisch: »Wenn unser Team kämpft und sich nicht entmutigen lässt durch das Gerede von selbst ernannten Spezialisten, haben wir gute Chancen, ins Endspiel zu kommen.«

Schwieriger wird die Sache für die Experten, die berufsmäßig mit Fußball zu tun haben und die deswegen wenig Lust verspüren, sich mit einem falschen Tipp zu blamieren. Während Hans-Hubert Vogts sicherheitshalber nichts über den von ihm vermuteten EM-Ausgang sagte, aber gleichzeitig im Handelsblatt erklärte, dass er jederzeit wieder als DFB-Trainer bereitstehe, schließlich sei er »der volksnaheste« von allen gewesen, eierte Franz Beckenbauer in seiner Prognose ziemlich herum. Irgendwie seien alle Beteiligten ganz gut im Kicken: »noch nie konnten so viele Teams Europameister werden.« Das deutsche Team komme aber auf jeden Fall ins Viertelfinale, und die Niederländer, die Engländer und die Franzosen seien auch nicht schlecht. Nur das schwedische Coaching-Modell stört den Mann, der hin und wieder zu seltsamen Gedanken neigt: »Und bei den Schweden interessiert mich, wie das mit ihren beiden gleichberechtigten Trainern läuft. Tommi Söderberg ist für das Denken zuständig, Lars Lagerbäck für das Reden in der Öffentlichkeit. Vielleicht eine gute Arbeitsteilung. Ich kenne so was aber nur von Eingeborenen-Stämmen auf Fidschi ...«

In den anderen an der Euro 2000 beteiligten Ländern hat die örtliche Prominenz zwar auch brav auf die eigene National-Mannschaft getippt, aber dort geht man trotzdem nicht derart penetrant davon aus, dass man gewohnheitsmäßig den Titel gewinnen muss. In Belgien, wo noch vor zwei Jahren bei der WM das eigene Team als ausgesprochene Lachnummer galt und wo Gewerbetreibende in Zeitungsannoncen der Bevölkerung hohe Belohnungen für den Fall versprachen, dass die Nationalkicker mehr als zehn Tore erzielten, möchte man zwar auch Europameister werden, aber ohne großes Aufheben. »Ich würde gern gegen Schweden verlieren, wenn ich wüsste, dass wir die beiden anderen Partien gegen die Türkei und Italien gewinnen«, sagte Trainer Robert Waseige vor dem Eröffnungsspiel gegen Schweden. »Wir wollen etwas schaffen, über das noch in hundert Jahren geredet wird. Niemand wird mehr über uns Belgier lachen.«

Das ist den »rode duivels« immerhin schon gelungen, denn noch nie gab es in einem Eröffnungsmatch - einer traditionell öden Veranstaltung, bei der bisher nie mehr als zwei Treffer erzielt wurden und die meistens 1:1 ausging - so viele Tore und so wenig Grund, sich zu langweilen. Und einen derart blamierten Favoriten wie die Schweden, die ihre Qualifikation souverän mit nur einem Gegentor beendeten und daher fast überall als aussichtsreicher Titelkandidat galten. Mit Häme hielten sich die meisten Journalisten jedoch zurück. Selbst in Norwegen, wo man keine Gelegenheit auslässt, den »süßen Bruder« zu ärgern, beschränkte man sich nach dem Match auf nüchterne Spielberichte und sachliche Fehleranalysen. Immerhin hatten die beiden schwedischen Trainer Söderberg und Lagerbäck zuvor in einem Zeitungsinterview das Team Norge ausdrücklich zum engeren Favoritenkreis gerechnet.

So wurde ihre eher zweideutige Aussage (»Norwegen ist in der Lage, dann mit unerwarteten Resultaten zuzuschlagen, wenn man es am wenigsten erwartet«) jedenfalls in der norwegischen Öffentlichkeit verstanden.

Und die ist ähnlich begierig darauf, positive Prominenten-Urteile über die eigenen Kicker zu lesen, wie die deutsche. Wobei fast alles als positives Voting durchgeht. Als in der vorigen Woche der rumänische Nationaltrainer Emerich Jenei in Bild erklärte: »Deutschland weiß sich während eines Turniers stets zu steigern. Sie können auch mal schlecht spielen und trotzdem gewinnen«, wurde seine Aussage prompt zu den Tipps auf Deutschland als Europameister hinzugerechnet, ohne dass der Mann sich tatsächlich festgelegt hatte. Auch die Prognosen anderer Trainer, in denen es meist nur darum ging, dass die deutsche Elf eine Turniermannschaft und daher alles möglich sei, wurden großzügig als klares Urteil zu Gunsten des nächsten Europameisters gewertet. Was aber, wenn diese sportlichen Experten sich irrten?

Spiegel online legte vor einigen Tagen nach und erklärte das deutsche Titelstreben zur gesamteuropäisch wirtschaftlichen Notwendigkeit: »Deutsche Tore helfen dem Euro!« Der Chefvolkswirt der niederländischen ABN Amro-Bank, Robert van den Bosch, hatte erklärt, der im volkswirtschaftlichen Sinne »günstigste Ausgang wäre der Sieg einer Mannschaft, die eine große Wirtschaft mit schwacher Verbrauchernachfrage hinter sich« habe. Ein Schub für die Wirtschaftsaktivität in der Euro-Zone sei die Folge, wovon auch die Gemeinschaftswährung profitieren könne. 1996, als Deutschland gegen Tschechien die Europameisterschaft gewann, sei dort die Nachfrage nachhaltig angestiegen. Ein Sieg der Engländer sei dagegen extrem ungünstig, da »die heißlaufende britische Konjunktur bereits unter der Sterling-Stärke leidet und bei nationaler Begeisterung und einem Nachfrageboom die Zinsen angehoben werden müssten. Damit gewinnt das Pfund-Sterling noch weiter an Wert und belastet die Konjunktur. Gleiches gilt für einen Sieg des holländischen Teams. Sollten sie gewinnen, würde die steigende Nachfrage die Konjunktur auf ein ungesund hohes Niveau heben.«