Landlosenbewegung in Brasilien

Rebellen mit Grund und ohne Boden

Im Jubiläumsjahr der Entdeckung Brasiliens will die Landlosenbewegung eine ihrer größten Kampagnen starten. Regierung und Medien halten dagegen.

Die brasilianische Landlosenbewegung hat schon bessere Zeiten erlebt. Weil sie schlechtere Zeiten hinter sich hat. Vor vier Jahren zum Beispiel. Da besetzten die Mitglieder der MST, der Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra, in Eldorado dos Carajás, im Norden des Landes gelegen, eine Bundesstraße. Der Staat ließ die Belagerer mit einem brachialen Polizeieinsatz von der Straße fegen. 19 Landarbeiter wurden bei der Aktion getötet, hinzu kamen 69 Schwerverletzte. Der Aufschrei der Medien war laut - zwar weniger in Brasilien, dafür aber in der westlichen Welt.

Derartige Szenen sichern die internationale Aufmerksamkeit, und die genießt die MST dieser Tage nicht gerade; jedenfalls nicht in erhofftem Maße. Dabei ist das Jahr 2000 für die Bewegung sehr wichtig, vielleicht das wichtigste Jahr überhaupt. Schließlich gibt es ein nationales Jubiläum: Brasilien feiert seine Entdeckung vor 500 Jahren durch den Portugiesen Pedro çlvares Cabral. Ein Ereignis, das von der Regierung derart gepusht wird, dass sich die MST der ausländischen Medienpräsenz in diesem Jahr sicher sein konnte.

Demonstrationen von Indios, MST und anderen sozialen Bewegungen, darüber sollen die Journalisten berichten. Demonstrationen, die von Polizei- und Militärgewalt zerschlagen werden - Krawalle dieser Art sollen der Weltöffentlichkeit nach Ansicht der Landlosenbewegung eines beweisen: Dass sich die Regierung Brasiliens nicht um die Probleme ihres Volkes schere. Dass sie ignoriere, dass nirgendwo auf der Welt die Kluft zwischen Arm und Reich so groß ist. Dass Arbeitslosigkeit, Gewalt, Drogenhandel, Hunger und Schmutz die Städte überwuchern. Dass fast ein Drittel der Brasilianer unterhalb der Armutsgrenze lebt.

Die Proteste gibt es: Zu Tausenden marschieren Widerständler derzeit auf den Straßen oder verbarrikadieren sich bei Landbesetzungen. Die Polizeigewalt gibt es auch: Mit Tränengas, Rauchgranaten, Gummigeschossen und -knüppeln werden die Demonstranten davongejagt. Nur die Journalisten fehlen. Die aus den USA und Europa zumindest; im eigenen Land haben die Protestler genügend. Nur schreiben die nicht unbedingt das, was bei den Zusamenstößen wirklich passiert.

Die bedeutenden Medien Brasiliens haben sich auf einen regierungsfreundlichen Kurs versteift, sind konservativ, selten kritisch. »Warum rebellieren die Landlosen, obwohl ihnen mittlerweile Grund und Boden in der Größe von Belgien, Holland, Österreich und Portugal zusammen gehört?« fragt das Nachrichtenmagazin Veja, das auflagenstärkste Blatt des Landes. Nur kann sich in Brasilien kaum jemand vorstellen, wie groß diese vier europäischen Staaten sind. Somit fehlt die Chance auf einen Vergleich. Und bei dem käme heraus: Das brachliegende Land der Großgrundbesitzer, das in Landlosen-Hand Arbeitsplätze garantieren könnte, übertrifft die Fläche der vier Staaten um ein Vielfaches.

Die Frage nach dem Warum in der Veja ist rhetorisch, eine Antwort darauf wird weder ernsthaft gegeben noch gesucht. Nur einer gibt sie gerne: Fredson Oliveira. Er ist einer der Köpfe der MST, hält die Organisation im Bundesstaat Rio de Janeiro zusammen. »Noch immer haben in Brasilien sehr wenige Menschen sehr viel Macht, und das heißt vor allem: viel Land. Wenn wir Armut und Elend beseitigen wollen, müssen wir das Land anders verteilen.«

Der Großgrundbesitz ist in Brasilien ein historisch gewachsenenes Problem: Mit den Europäern kamen die Kolonialherren, teilten sich das grüne Land auf, verscheuchten die Ureinwohner, töteten sie, wo sie sich widersetzten. Schwarze Sklaven aus Afrika wurden eingeschifft: für Plantagen, auf denen in erster Linie Zuckerrohr, Kaffee, Kakao und Tabak angebaut wurden. Einige der alten Strukturen haben sich bis heute gehalten. Land wurde vererbt und die Besitzrechte überdauerten die Jahrhunderte.

Erst 1988 wurde in der brasilianischen Verfassung eine umfassende Agrarreform festgeschrieben. Demnach kann Land, auf dem nichts produziert wird, durch den Staat enteignet und Kleinbauern zugesprochen werden. Der Besitzer erhält dafür eine Entschädigung in Form von Anleihen. Die Realität sieht anders aus. Die einflussreichen Großgrundbesitzer machen auch heute noch Politik. Eine wirkliche Reform wird so blockiert.

Ein Zustand, den die MST beseitigen will. Sie gründete sich 1984, entstand aus verschiedenen kirchlichen und sozialen Bewegungen. Zu der Zeit verfügten wenige Großgrundbesitzer über fast 80 Prozent der landwirtschaftlich verwertbaren Fläche. Doch genutzt wurde sie nicht. Wenn doch, verdingten sich landlose Kleinbauern als Tagelöhner auf den Farmen. Fast 200 Millionen Hektar Land lagen brach; heute sind es noch immer rund 180 Millionen. Für einen Anspruch auf dieses Land und damit auf Arbeit kämpft die MST seit über 16 Jahren.

Ihr bewährtestes Druckmittel sind Besetzungen. Sie folgen stets dem Motto »besetzen - widersetzen - produzieren«. Dahinter verbirgt sich ein im Laufe der Jahre immer straffer organisiertes Prinzip: Auf brachliegenden Flächen werden in Eile provisorische Zelt- und Hüttenstädte errichtet. Familien ziehen dorthin. Es entsteht in kurzer Zeit eine Infrastruktur: Wasserstellen, Wege, ein Versammlungshaus, in dem gemeinsam über weitere Schritte nachgedacht wird, und Schulen. Gleichzeitig wird das Land bestellt - als Zeichen an die Regierung: Hier ist nutzbares Land, auf dem nicht produziert wurde.

Bei solchen Aktionen sind seit Gründung der MST über 1 000 Landlose ums Leben gekommen - in Auseinandersetzungen mit Polizei, Militär und den privaten Milizen der Besitzer. Die gewünschte abschreckende Wirkung erzielt das harte Durchgreifen des Staates dennoch nicht. Die Bewegung hat großen Zulauf, inzwischen zählt sie weit über fünf Millionen Mitglieder. Damit ist sie neben den Gewerkschaften die größte außerparlamentarische soziale Organisation Brasiliens. Als solche hat sie vor zwei Jahren sogar den alternativen Friedensnobelpreis erhalten.

Dennoch titelte die Veja jüngst mit der Schlagzeile »Rebellen ohne Grund«. So sieht auch die Regierung von Präsident Fernando Henrique Cardoso die Landlosen. Die Protest-Aktionen seien nur Provokationen »einiger unverbesserlicherer Krawallmacher«, war dort zu lesen. Und ein Minister ließ sich in der wichtigsten Tageszeitung Rio de Janeiros O Globo mit den Worten zitieren: »Die Bewegung ist antidemokratisch«.

»Das ist lächerlich«, sagt Fredson Oliveira. Wer schon einmal bei den Demonstrationen dabei gewesen sei, wisse, dass sich dort eher Polizei und Militär als undemokratisch auszeichnen. So wie etwa im Bundesstaat Bahia beim Auftakt der Feierlichkeiten im April. Rund 50 Kilometer vom Jubiläumsort Porto Seguro entfernt gingen Einsatzkräfte auf Demonstranten los - mit dem Kampfruf: »Die Demokratie ist unser Schlagstock!« Eine Szene, die Oliveira im Gedächtnis bleibt; er hat viele davon parat. Seit zwei Jahren koordiniert er die Bewegung mit, ist bei Organisationsfragen einer der Macher im Hintergrund, auf der Straße aber ganz vorne dabei.

Mehr noch als die Straßenschlacht in Bahia ist der Fall José Rainha ein Paradebeispiel, wie Medien und Politiker mit der MST umspringen. Rainha, der Anführer der Landlosenbewegung war des Doppelmordes angeklagt. Der 39jährige sollte angeblich bei einer Landbesetzung im Juli 1989 im Norden Esp'rito Santos den Großgrundbesitzer José Machado Neto und den Polizisten José Narciso getötet haben. In einem ersten Prozess 1997 wurde José Rainha von den 21 Geschworenen für schuldig befunden und zu 26 Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt.

Das Urteil sorgte für internationale Proteste, amnesty international nahm sich des Falles an, weltweit wurden Schreiben an die brasilianische Regierung gerichtet. Warum? Die Zeugenaussagen, auf die sich das Gericht bei seiner Urteilsbegründung stützte, waren vage und widersprüchlich. So wollte der Hauptzeuge Rainha zwar am Tatort gesehen haben, dessen Täterbeschreibung: »klein, dick und ohne Bart« trifft jedoch nicht annähernd auf den Anführer der MST zu. Derartige Aussagen gab es viele.

Dennoch diffamierten die brasilianischen Medien Rainha schon vor dem Schuldspruch als Polizistenmörder. Bei einem zweiten Prozess, der im April zu Ende ging, konnte der Anwalt des Angeklagten Zeugen aufbieten, die aussagten, José Rainha habe sich zum Zeitpunkt der Tat 2 000 Kilometer vom Tatort entfernt im nördlichen Bundesstaat Ceará aufgehalten. Rainha wurde nachträglich freigesprochen.

Dem Freispruch wurde nicht annähernd soviel Aufmerksamkeit geschenkt wie der Verurteilung. »Bei uns in Brasilien sowieso nicht«, sagt Fredson Oliveira. Und etwas resigniert stellt er fest, dass auch die internationale Presse »eben eher auf Randale abfährt«. Von der skandalösen Verurteilung wurde weltweit berichtet, erinnert sich der 28Jährige. Solche Reaktionen habe er sich wieder gewünscht, wenn schon nicht beim Freispruch, dann doch wenigstens bei den Krawallen seit dem Jubiläumsauftakt - um die Regierung unter Druck zu setzen, um Reformen umzusetzen, die soziale Gerechtigkeit bringen.

Darin erkennt Oliveira das momentane Dilemma der Landlosenbewegung. Auf der einen Seite ist das Knüppeln der Polizei gegen Demonstranten genau das, was die MST kritisiert: dass die Regierung Kritik an ihrer Politik mit Gewalt unterdrückt. Auf der anderen Seite braucht man offensichtlich derartige Ausnahmezustände, um im Ausland gehört und unterstützt zu werden

Nun ringt die MST wieder hektisch um Aufmerksamkeit. Im eigenen Land ist ihr die gewiss. Zum 500jährigen Jubiläum hat sie 500 Landbesetzungen angekündigt, um auf »die anderen 500 Jahre« aufmerksam zu machen. Diejenigen, deren Geschichte bei den offiziellen Feierlichkeiten ausgeblendet wird. Konflikte mit der Polizei sind dabei programmiert. Für MST-Aktivisten kann das harte Zeiten bedeuten. Und die wiederum bedeuten ja vielleicht bessere Zeiten.