Tarif-Auseinandersetzungen im Öffentlichen Dienst

Umsonst baden

Weht da nach eineinhalb Jahren rot-grüner Regierung ein Hauch von Aufbegehren durchs Land - nach Hans Eichels Steuerreform zu Gunsten von Unternehmen und Besserverdienenden, nach Walter Riesters Vorschlägen zur Rentenreform, die die Alten fürs Altwerden bestraft, die Lohnabhängigen be-, die Unternehmen entlastet und vor allem den Anlage-Fondsgesellschaften dient, angesichts einer absehbaren Gesundheitsreform Andrea Fischers, die den so genannten Eigenanteil der Kranken erhöht, damit Pharma-Industrie und Ärzte weiter absahnen können? Wollen sich nun die Lohnabhängigen nicht mehr alles gefallen lassen? Mitnichten.

Ob im Öffentlichen Dienst gestreikt wird oder nicht, eines ist klar: Wirklich will niemand in den Gewerkschaften diesen Streik, der der erste gegen eine SPD-geführte Bundesregierung seit 1974 wäre: die Führung nicht, die Basis nicht. Herbert Mai, Noch-Chef der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), hatte bereits nach den Tarifverhandlungen den Schlichterspruch als annehmbar bezeichnet. Demnach hätten die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst gerade einmal 1,8 Prozent mehr Lohn und Gehalt bekommen - angesichts wesentlich höherer Abschlüsse in der Metallindustrie ein Affront. Darüber hinaus sollen die Brutto-Einkommen im Osten stufenweise auf lediglich 90 Prozent angehoben werden. Hier ist man in anderen Branchen schon wesentlich weiter, obwohl im Öffentlichen Dienst für gleiches Geld länger gearbeitet werden muss.

Wer nun einen Aufschrei der Gewerkschaften erwartete, wie er etwa in Frankreich die sozialistische Regierung in Bedrängnis gebracht hatte, sieht sich getäuscht, obwohl die populären Taktiken des Dienstleistungsproletariats bekannt sind: freie Fahrt mit Bus und Bahn, keine Eintrittsgelder in Schwimmbad und Museum, keine Strafzettel, keine Zölle. Dass die Funktionäre der ÖTV-Tarifkommission den Schlichterspruch ablehnten, hatte aber eher organisationsinterne Gründe. Sie wollten ihrem Chef eins auswischen, der die von so manchen abgelehnte Mega-Fusion mehrerer Gewerkschaften vorantreibt. Anfang nächsten Jahres sollen sich ÖTV, die Angestelltengewerkschaft und die eher linken Gewerkschaften im Medien-, Post- sowie Handel- und Bankensektor zu einer neuen Riesengewerkschaft mit dem affektierten Namenskürzel ver.di (Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft) zusammenschließen.

Auch an der Basis ist Kampfeslust Fehlanzeige. Dass der Staat kein Geld habe, und man deswegen bei einem Streik nicht viel mehr als 1,8 Prozent herausholen könne - diese Haltung ist weit verbreitet. Dem »neoliberalen Dogma« (Bourdieu) wird nicht widersprochen - obwohl selbst das nicht einmal besonders radikal wäre, sondern der Vorstellung entspräche, dass der gesellschaftliche Reichtum zwischen Kapital und Arbeit gerecht aufgeteilt werden könnte.

Bezeichnend sind die Ergebnisse der Urabstimmung unter den Gewerkschaftsmitgliedern. Die für einen Streik nötigen Mehrheiten wurden nur knapp erreicht - und dass, obwohl alle GewerkschafterInnen wissen, dass ein Nein zum Streik sie und die ganze Organisation lächerlich macht. Im Osten wurde die nötige Mehrheit bei den meisten Abstimmungen sogar verfehlt. Das lässt nur eine Interpretation zu: Viele OstlerInnen sind zu autoritätshörig und feige, für das bisschen Recht, gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu bekommen, ein paar Tage oder Wochen - von der Streikkasse unterstützt - nicht zu malochen.

Damit steht - Streik hin, Streik her - ein Ergebnis der Tarifgespräche: Die mangelnde Streikbereitschaft im Osten hat zur Folge, dass die Frage der Ostlöhne nur noch am Rande verhandelt wird. OstlerInnen! - Warten, warten, nochmals warten! Leuten, die sich gern als »Deutsche zweiter Klasse« bezeichnen und Hungerlöhne bei Nichtdeutschen natürlich finden, geschieht das ganz recht.