Lockerbie-Prozess

Anklage im freien Fall

Von den zahlreichen Mutmaßungen über das Lockerbie-Attentat scheint die einer libyschen Alleintäterschaft die unwahrscheinlichste.

Zu den unzähligen Komplott-Theorien für das Bombenattentat auf den PanAm-Flieger über der schottischen Ortschaft Lockerbie im Dezember 1988 ist jetzt auch noch ein Geständnis gekommen: Ahmad Behbahani, angeblich ein früherer iranischer Geheimdienstkoordinator, der sich in die Türkei abgesetzt hat, erklärte jüngst seine Verantwortung für den Terroranschlag, der 270 Menschen das Leben kostete. In seinem Auftrag, sagt Behbahani, agierte sowohl der Leiter der Volksfront zur Befreiung Palästinas/Generalkommando (PFLP-GC), Ahmed Djibril, als auch eine geheime libysche Gruppe, die für die Operation im Iran 90 Tage lang trainiert wurde. Die Hintermänner des Lockerbie-Anschlags - eine Verschwörungsallianz aus Iranern, Libyern und Palästinensern?

Zwar haben sowohl die Führung in Teheran als auch der palästinensische Hardliner Djibril den Vorwurf zurückgewiesen, jemals etwas mit dem Anschlag zu tun gehabt zu haben. Iran bezeichnete Behbahani als »Räuber« und »Dieb«, der in Wirklichkeit Mitglied der exil-iranischen Volksmudschahedin und nicht Koordinator für Auslandsoperationen des iranischen Geheimdienstes gewesen sei (Jungle World, 25/00).

Auch US-Geheimdienste sehen in Behbahani einen Hochstapler. Doch dafür könnte es eine Erklärung geben: Immerhin stellt seine Aussage die US-Version in Frage, nach der allein die libysche Staatsführung für den Anschlag verantwortlich ist. Ganz neu ist die Variante, dass nicht die Führung in Tripolis, sondern der Iran Pate für den Anschlag stand, allerdings nicht. Unmittelbar nach der Lockerbie-Tragödie konzentrierten sich die Ermittlungen von Briten, Amerikanern und bundesdeutschen Behörden zunächst auf Djibrils von Syrien unterstützte PFLP-GC. Sie wurde verdächtigt, das Attentat im Auftrag der iranischen Regierung ausgeführt zu haben - als Revancheakt für den versehentlichen Abschuss eines iranischen Airbus über dem persischen Golf durch ein US-amerikanisches Kriegsschiff im Juli 1988. Ayatollah Khomeini hatte wenig später Rache geschworen: Es werde Blut vom Himmel regnen, ließ er den »großen Satan« USA nach dem Iran-Air-Abschuss wissen.

Monate vor dem Lockerbie-Attentat hatte das BKA in Frankfurt/M. eine Untergrundzelle der PFLP-GC ausgehoben und dabei auch Bomben eines Typs sichergestellt, der dem Sprengsatz in der Unglücksmaschine PanAm 103 ähnelt. Die Sunday Times berichtete im November 1989, die Lockerbie-Bombe sei von einem Palästinenser in Frankfurt hergestellt und nach Malta gebracht worden, wo sie angeblich von einem Malteser in der Gepäckabfertigung via Frankfurt nach London geschickt wurde. Im Dezember 1989 wurde der der PFLP-GC zugerechnete Abu Talb im Zusammenhang mit dem Anschlag den schottischen Haftrichtern vorgeführt.

Im Februar 1992 erhärtete sich der Verdacht, dass der Lockerbie-Sprengsatz von radikalen Palästinensern einer PFLP-GC-Zelle in Frankfurt gebaut worden war. Die PLO machte Abu Elias, einen Mitarbeiter des Frankfurter PFLP-Kommandos, für die Herstellung der Bombe verantwortlich - eine Behauptung, die von deutschen Polizeidokumenten gestützt wurde.

Eine andere Theorie brachte die CIA und die US-amerikanische Defence Intelligence Agency (DIA) ins Spiel: Nach einem Untersuchungsbericht der PanAm-Luftfahrtgesellschaft sollte die Lockerbie-Bombe eine kleine Einheit von DIA-Beamten treffen, die zuvor einem Drogenring einer im Libanon stationierten CIA-Truppe auf die Schliche gekommen war und dies publik machen wollte. Vor dem Hintergrund des Zweiten Golfkriegs kamen die Ermittlungen zur CIA-Connection oder der Iran-PFLP-Verbindung jedoch nicht recht voran - nicht zuletzt, um die Kriegskoalition gegen Saddam Hussein nicht zu gefährden.

Fortan konzentrierten sich die Ermittlungen auf einen neuen Verdächtigen: Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi. Schließlich hatte auch die libysche Führung wegen der Bombardements in Bengasi und Tripolis durch US-Kampfjets 1986 ein mögliches Motiv für den Terroranschlag. Die Schuldigen waren schnell gefunden: Mitte November 1991 erließen die USA und Großbritannien Haftbefehle gegen zwei hochrangige libysche Geheimdienstbeamte wegen des Verdachts, Urheber des Lockerbie-Attentats zu sein. Gaddafi wurde aufgefordert, die mutmaßlichen Drahtzieher sofort auszuliefern.

Doch die beiden Angeklagten beteuern bis heute ihre Unschuld. Sie sehen sich als Prügelknaben in einem Gerichtsverfahren, das die möglicherweise in den Fall verstrickten Regierungen aus der Verantwortung entlässt. Im derzeitigen Lockerbie-Prozess, der im niederländischen Camp Zeist nach schottischem Recht auf neutralem Boden verhandelt wird, müssen sich die Libyer Ali Mohammed al-Meghrahi und Amin Khalifa Fimah wegen Mordes an 270 Flugzeuginsassen, der Verschwörung zum Mord und der Gefährdung der Luftverkehrssicherheit vor Gericht verantworten.

Den beiden Angestellten der Libyan Arab Airlines wirft die Anklage vor, in Malta einen unbegleiteten Koffer mit einem Plastiksprengsatz an Bord eines Flugzeugs geschmuggelt zu haben, der dann in Frankfurt in die PanAm-Maschine nach New York umgeladen wurde. Die beiden mutmaßlichen libyschen Agenten hätten von der Schweizer Firma Mebo in Zürich elektronische Schaltuhren erhalten, die auch für den Semtex-Sprengsatz in der Unglücksmaschine verwendet wurden. Beide Angeklagten weisen die Vorwürfe von sich.

Die jüngsten Enthüllungen im Lockerbie-Prozess könnten ihnen Recht geben: Ein Hauptbelastungszeuge, ein maltesischer Boutique-Besitzer, der einen der beiden Angeklagten auf Malta gesehen haben will, konnte bei einer Gegenüberstellung die Angeklagten nicht identifizieren. Und der Mitinhaber der Schweizer Waffen-Firma Mebo, Edwin Bollier, hat festgestellt, dass die Mitte der achtziger Jahre an Libyen verkauften elektronischen Timer nicht identisch mit dem in der PanAm-Maschine verwendeten seien. Der Wochenzeitung Die Zeit erklärte der Schweizer, die Beweisstücke seien offensichtlich gefälscht. Die Herkunft des Zeitzünders bleibt nach wie vor ungeklärt.

So steht die Anklage in Camp Zeist derzeit auf tönernen Füßen. Sollte sich überdies herausstellen, dass sich die Bombe doch nicht in einem Koffer im Frachtraum der Maschine befunden hat, könnte die Kofferschmuggel-Theorie der Anklage stürzen. Die Verteidigung argumentiert, der Sprengsatz sei nicht innerhalb, sondern außerhalb des Frachtcontainers detoniert. Dabei stützt sie sich auf die Aussagen eines Mitglieds des Air Investigation Bureau (AIB), Christopher Protheroe. Dieser hatte eingeräumt, dass im ursprünglichen Bericht des Untersuchungs-Teams von 1990 Berechnungsfehler aufgetreten seien und die Bombe nicht im Gepäckraum, sondern außerhalb - d.h. zwischen Container und Außenhülle - explodiert sei.

Sollten weitere Indizien diese Aussagen stützen, müssten die beiden Libyer mit Sicherheit freigesprochen werden. Für Großbritannien und die USA, die den Prozess nie ernsthaft wollten, da sie unangenehme Enthüllungen befürchten, käme ein möglicher Freispruch der beiden Libyer einer völligen Blamage gleich: Nicht nur, weil Libyens Revolutionsführer Gaddafi als eigentlicher Sieger aus diesem bedeutenden Gerichtsverfahren hervorginge, sondern auch, weil damit die Illegitimität der achtjährigen UN-Sanktionen gegen den nordafrikanischen Wüstenstaat bewiesen wäre.