Europa-Meisterschaft 2000

Blitz-Fritz Quits!

England eins, Deutschland null, Kasse stimmt: Im »Oscar Wilde« in Berlin-Mitte haben wir dem Proletariat über die Schulter geschaut.

Engländer, Deutsche, Iren, Schotten, Italiener, Ceylonesen, und bei fast allen bestimmt das Sein das Fan-Bewusstsein. Am Sonntagabend um 18 Uhr ist es noch leer im »Oscar Wilde« in Berlin-Mitte. Vorne, in der Lounge, läuft tonlos das Spiel Portugal gegen Rumänien, es wird kaum beachtet. Im hinteren Raum haben sich einige englische Fans die wenigen Sitzplätze vor der Großbildleinwand gesichert. Nur beiläufig verfolgen sie das Spiel der Gruppenkontrahenten, schließlich kann man kaum weggucken, während man wartet und Bier trinkt, vorzugsweise Newcastle Brown Ale oder Guinness.

Der Irish Pub in der Friedrichstraße ist ein beliebter Treffpunkt aller, die zu Hause Englisch sprechen. Die Restplätze werden von Touristen und ortsansässigen Liebhabern kohlensäurearmen Biers besetzt. Das ist billig, und gewöhnlich werden hier die Spiele der englischen Premier League übertragen. Das Stammpublikum ist proletarisch, viele sind auf Berliner Baustellen beschäftigt.

In der Halbzeitpause läuft der britische Sender Sky Channel: ein Rugbymatch zwischen England und Südafrika. Stimmung kommt auf: England spielt, es geht ordentlich zur Sache, ganz anders als bei Rumänien-Portugal.

Der Raum füllt sich. Die meisten sind Engländer, aber auch Deutsche kommen, die das Team von der Insel favorisieren. Dem Ostberliner Frank gefällt der englische Fußball einfach besser: »Ich komme aus der DDR und habe es mit dem Nationalgefühl ohnehin nicht so«, sagt er. Damit sei er wohl »nicht besonders repräsentativ«.

Auch im »Oscar Wilde« zählt Frank zur Minderheit unter den Deutschen; die meisten halten zur Ribbeck-Truppe. Warum sie sich das Spiel trotzdem in einem Pub ansehen? »Die Stimmung isch einfach bessr«, antwortet Jan aus Waiblingen.

Unterstützung erhalten die Deutschen von einigen Schotten und den zahlreichen Iren. »Ich bin kein Deutschland-Fan« meint Brian, ein Bauarbeiter aus Südirland, »ich bin nur gegen England.« Er fängt an, eine lange Geschichte zu erzählen, die mit der Eroberung Irlands durch Henry II. im Jahr 1171 losgeht. Brian sieht nicht aus, als wäre er für antinationale Argumente zugänglich.

Giovanni ist Italiener, und auch er bestimmt seine Sympathien negativ: »Obwohl ich seit dreißig Jahren hier lebe, bin ich immer gegen Deutschland.« Unter Migranten ist diese Einstellung weit verbreitet. In Großbritannien hingegen, so versichert Vanaka, seien die meisten Einwanderer für England. Ihre Eltern sind aus Sri Lanka nach Großbritannien gekommen, sie studiert in Berlin und jobbt nebenher in dem Pub. »Ich drücke England die Daumen«, sagt sie.

»Hey, I'm English«, ruft plötzlich der Reporter eines lokalen Radiosenders. Er versucht kumpelhaft und really British zu wirken und hält einer Gruppe sein Mikrofon unter die Nase: »I need some people who make ooooaaahhh!«

Der Annäherungsversuch misslingt. Statt des gewünschten Jubel-O-Tons erntet er ein trockenes, aber bestimmtes »Aw, fuck off«. Wenige Minuten später flimmern Randale-Bilder englischer Hooligans über die Leinwand. »Ooooaaahhh«, schallt es nun von jenem Tisch, der eben noch den Jubel verweigerte. Das Vorspiel scheint zu Gunsten der Engländer ausgegangen zu sein, so kann's weitergehen.

Mindestens zwei Fernsehteams, eine Reihe von Radioreportern und eine unbekannte Anzahl von Printjournalisten haben sich im »Oscar Wilde« eingefunden. Alle haben dieselbe Story im Kopf: Gäste englisch, Bier englisch, Stimmung prima, Berlin Weltstadt.

Zu sehen sind nun die englischen Spieler, die »God Save the Queen« mitsummen. Zu hören sind sie allerdings nicht, dafür ist es viel zu laut in dem mit rund 250 Gästen voll besetzten Raum. Nur wenige von ihnen brechen ihr Gespräch zu Ehren der Nationalhymne ab. Richtig laut wird es erst, als das Spiel endlich losgeht: »Come on, England, come on England!«

Aber in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt erst mal der Kameramann von »Spiegel-TV«. Er hat sich frontal vor den Zuschauern platziert und hält seine Kamera mit Schweinwerfer auf die Besucher. Das blendet, nervt alle, stiftet aber Einigkeit. Die Anhänger beider Seiten fordern lautstark, »die Scheißfunzel« bzw. »that bloody headlamp« auszumachen.

Je länger das Spiel läuft, umso gereizter reagieren die Gäste auf das Scheinwerferlicht. »Kameramann - Arschloch«, ruft ein demoerfahrener Gast; zu Beginn der zweiten Halbzeit fliegen die ersten Bierdosen. Das Fernsehteam hat Glück, wenig später fällt das Tor für England, und danach kann gefilmt werden, ohne dass sich jemand daran stört.

»Shearer, Shearer«, tönt es nun in der Kneipe, überall wird auf das Wohl des Torschützen angestoßen. Selbst die Schotten sind übergelaufen. Von den Deutschland-Anhängern ist nichts mehr zu hören. In den letzten Minuten kehrt noch einmal angespannte Ruhe ein. »Das Ding ist noch nicht gelaufen«, kommentiert Sean, »den Deutschen ist alles zuzutrauen.« Aber diesmal geht's gut.

Das »Oscar Wilde« ist ein Spiegelbild des Geschehens in Charleroi. Es gibt nicht allein die beiden Fanblöcke, präsent ist auch der italienische Schiedsrichter Pierluigi Collina: Terry, der Besitzer des Ladens, ist glatzköpfig, muskulös, der unumstrittene Chef. Abwechselnd steht er hinter beiden Theken und kontrolliert, ob seine Angestellten ihre Arbeit verrichten. Er behält die Gruppen im Auge, die man im Polizeijargon als »potenzielle Störer« bezeichnen würde und gesellt sich immer wieder zu den Fans, die am lautesten ihr Team anfeuern - und die meisten Drinks bestellen.

Hinterher grinst Terry zufrieden. »Ich bin Ire«, sagt er, »und normalerweise gegen die Engländer. Aber solange England dabei ist, ist der Laden voll.« Deshalb unterstützt er das englische Team: »It's good for business.«

Antagonistische Interessensgegensätze werden deutlich. Denn die Angestellten des Pubs können die Freude ihres Chefs nicht teilen. Der heutige Abend sei ihr härtester im »Oscar Wilde«, sagt die Kellnerin Gesine. Aber der Stundenlohn sei wie immer, und mehr Trinkgeld gebe es auch nicht. Sie wünscht sich, dass die Engländer bald rausfliegen und setzt nun alle Hoffnungen auf Rumänien. Im Übrigen habe sie einen irischen Vater und sei schon allein deshalb gegen England. 1171 und die Folgen.

Eine Stunde nach Abpfiff scheint der Sieg über Deutschland schon vergessen. Die meisten Fußballfans haben die Kneipe verlassen, Laufkundschaft ist eingekehrt, die Lage hat sich normalisiert. Ein Grüppchen diskutiert über die nächsten Spiele: Am Dienstag geht's gegen Rumänien.

Und am Montag ist Schicht: John aus Middlesbrough, der auf einer Baustelle in Oranienburg arbeitet, sieht dem Wochenanfang mit gemischten Gefühlen entgegen: »Ich werde den Sieg wohl nicht auskosten können«, vermutet er, »denn die deutschen Arbeitskollegen werden so tun, als ob sie sich für Fußball überhaupt nicht interessieren. Aber aus Rache werden sie mich die ganze Woche lang nur die Drecksarbeit machen lassen, kehren, putzen und so«. Das nächste Spiel ist immer das schwerste.