Ermittlungen gegen Pinochet

Ein Zirkus guter Absichten

Nach der vorläufigen Aufhebung von Pinochets Immunität soll das Militär Informationen über die »verschwundenen Gefangenen« sammeln

Schritt für Schritt sichert sich das chilenische Militär die Straflosigkeit für seine Verbrechen unter Augusto Pinochet. Nach hundert Tagen an der Macht begrüßte der sozialdemokratische Präsident Ricardo Lagos in der vergangenen Woche das Abkommen des so genannten Dialog-Forums über Menschenrechte, das den Weg zu einem künftigen Schlusspunkt-Gesetz ebnen soll.

Ein Kreis illustrer Chilenen und Chileninnen - Repräsentanten der Armee, des Staates und der Kirche, Zivilisten und Menschenrechtsanwälte - segnete darin eine Art Vertrauensvotum für die Uniformierten ab: Innerhalb einer Frist von sechs Monaten, die aber verlängert werden kann, sollen die Militärs Informationen über den Verbleib der Opfer jenes Staatsterrorismus sammeln, für den sie selbst in den 17 Jahren der Militärdiktatur verantwortlich waren.

In dem Abkommen der leitenden chilenischen Klasse wird zudem bestimmt, dass jene Militärs, die über den Verbleib der »verschwundenen Gefangenen« Informationen liefern, das »Berufsgeheimnis« wahren dürfen - eine Ausdehnung des Sonderrechtes, das in Chile bislang nur für Anwälte, Ärzte oder Beichtväter galt, auf die Mörder und Folterer unter Pinochet. Die Folge: Selbst wenn Überreste »Verschwundener« durch Informationen aus dem Militär auftauchen, wird das »Berufsgeheimnis« jede weitere Untersuchung unmöglich machen - und eine gerichtliche Verfolgung ebenso.

Doch nicht nur Straflosigkeit, auch Vergesslichkeit wird durch die Staatsorgane befördert: So schließt das Schlussdokument jede Verantwortung der militärischen Institutionen aus, da lediglich »Vertretern des Staates« die unter Augusto Pinochet begangenen Gräuel angelastet werden. Und an eine offizielle Entschuldigung von Seiten der chilenischen Militärs wurde gar nicht erst gedacht. Den Militärs öffnet sich damit der Weg zu einer institutionellen Re-Legitimierung, ohne dass sie ihre Verantwortung für die Verbrechen der Vergangenheit anerkennen müssten. Für die Lagos-Regierung ist dies ein Schritt, Reformen im Konsens mit der Rechten anzugehen.

Die Vereinigung der Familien der offiziell 1 198 »verschwundenen Gefangenen« hatte sich strikt geweigert, an dem Dialog-Forum teilzunehmen. Und auch das Abkommen lehnt die Organisation rundweg ab - es handele sich um einen »Pakt, der darauf ziele, die Straflosigkeit der Militärs zu garantieren, die für den Tod oder das Verschwinden von mehr als 3 000 Gegnern der Diktatur verantwortlich sind«. Die Vorsitzende der Vereinigung, Viviana Diaz, fürchtet gar, dass mit dem Abkommen Druck auf den Obersten Gerichtshof ausgeübt werden soll, damit dieser die Immunität Pinochets nicht aufhebe.

Das ist nicht ausgeschlossen. Bereits vor zwei Wochen hatte der Appellations-Gerichtshof von Santiago seine Entscheidung bekannt gegeben, dem »Senator auf Lebenszeit« die parlamentarische Immunität zu entziehen. Die Verteidiger des Ex-Diktators haben dagegen Berufung vor dem Obersten Gerichtshof eingelegt; vermutlich werden sie unter anderem mit dem angeblich schlechten körperlichen oder geistigen Zustand Pinochets argumentieren.

Diesem Zirkus guter Absichten, der zur Verurteilung von Pinochet in Chile führen soll, schließen sich verspätet nun auch die USA an. Nach der Verhaftung des Ex-Diktators im Oktober 1998 in London und den darauf folgenden Auslieferungsbegehren von Spanien, Frankreich, Belgien und der Schweiz flüchteten sich die USA zunächst in eine heuchlerische Pseudo-Neutralität.

Mitte vergangenen Jahres sah sich Washington jedoch zu einer Kursänderung gezwungen - wegen des Drucks von Menschenrechtsorganisationen und Familienangehöriger von Nordamerikanern, die in den traurigen Tagen des Militärregimes »verschwanden«. Hauptgrund indes dürfte sein, dass das schwerste terroristische Attentat, das in der US-Hauptstadt je verübt wurde, weitgehend ungesühnt geblieben ist: Im September 1976 waren Orlando Letelier, Außenminister unter Salvador Allende, und die US-Amerikanerin Ronnie Moffitt in Washington mit einer Autobombe ermordet worden.

Vorsichtig versucht das Weiße Haus, sein wegen der Beteiligung der CIA an dem Staatsstreich vom September 1973 gegen die Unidad Popular Salvador Allendes schlechtes Image aufzuhellen. Am 30. Juni will Washington nun eine Reihe von Dokumenten deklassifizieren, die nach Angaben von Peter Kornbluh, dem Direktor des Chile-Dokumentationsprojekts des National Security Archives, dazu beitragen werden, »die Geschichte der Verwicklung der Vereinigten Staaten und die Geschichte des Pinochet-Regimes neu zu schreiben«. Der Termin für die Veröffentlichung des Materials zu den Morden an Letelier und Moffitt hingegen wurde auf den 15. September verschoben.

In einem Interview mit der chilenischen Online-Zeitung El Mostrador erklärte Kornbluh, dass es bei der Aufarbeitung der Ermordung von Letelier und Moffitt in den USA darum gehe, »Beweise über die geistige Urheberschaft von Pinochet an dem Verbrechen zu erlangen. Finden sich ausreichend Beweise dafür, glaube ich, dass sie ihm den Prozess machen werden, und dann wird die unvermeidliche politische Debatte folgen, ob man auf seiner Auslieferung bestehen wird, in Anbetracht der ganzen Umstände des Falles in London und nun in Chile.«

Gerade für den Fall, dass der chilenische Richter Juan Guzmán es ablehnt, Gerichtsverfahren wegen der mehr als hundert in Chile vorliegenden Klagen gegen Pinochet einzuleiten, könnten die USA dazu beitragen, Druck im Hinblick auf eine späte Auslieferung Pinochets auszuüben.

Rechtsanwalt Samuel Buffone, der die Familien von Letelier und Moffitt in Washington vertritt, erinnert deshalb an eine Erklärung des chilenischen Ex-Kanzlers Juan Gabriel Valdés vom vergangenen August: Darin habe dieser ein Anerkenntnis der chilenischen Regierung gefordert, dass die USA im Fall der Ermordung von Letelier und Moffitt örtlich zuständig seien. Zudem sei es eine Tatsache, dass der Fall Letelier aus dem Amnestiegesetz von 1978 ausgenommen wurde - und schließlich, »dass weder die Gesetzgebung in den USA noch in Chile einen ähnlichen Standard zur geistigen Verfassung eines Angeklagten vorsieht wie den, der von (dem britischen) Minister Jack Straw angewandt wurde«, argumentiert Buffone.

Aber der eigentliche Streit findet zwischen den Verehrern des ehrenwerten Ex-Oberkommandierenden der chilenischen Armee statt. Die Journalistin Patricia Verdugo - Autorin des Buches »Los Zarpazos del Puma«, in dem das organisierte Massaker der »Todeskarawane« in verschiedenen Teilen Chiles angeprangert wird, und die heute versucht, deshalb gegen Pinochet zu klagen - verbreitete kürzlich eine eidesstattliche Erklärung, die vom 27. April 1978 datiert. Sie stammt von Brigadier Pedro Espinoza, der Nummer zwei des gefürchteten Pinochet-Geheimdienstes Dina. Espinoza und Manuel Contreras, der damalige Chef der Dina, sind die Einzigen, die in Chile für das Attentat auf US-Boden verurteilt wurden - zu lächerlichen Strafen.

Aus Espinozas Papier geht hervor, dass General Héctor Orozco, der mit dem Fall Letelier in Chile befasste Militärstaatsanwalt, Espinoza nötigte zu lügen, um General Pinochet zu schützen. So erlaubte ihm Orozco nicht, das aufzuzeichnen, was er sagen wollte: dass General Contreras die Ermordung von Letelier im Auftrag von Pinochet angeordnet hatte. Orozco habe ihn genötigt, sich selbst zu beschuldigen, »die physische Eliminierung« von Letelier angeordnet zu haben, »damit seine Exzellenz, der Präsident der Republik, frei bleibt«, so El Mostrador.

Schon 1997 hatte General Manuel Contreras eine eidesstattliche Erklärung unterzeichnet, um seine Freilassung auf Bewährung aus dem Fünf-Sterne-Gefängnis von Punta Peuco zu erreichen. In dieser versicherte er, immer übergeordnete Befehle befolgt zu haben: »Nur Pinochet, als höchste Autorität der Dina, hatte die Möglichkeit, die Einsätze anzuordnen, die ausgeführt wurden. In meiner Eigenschaft als Beauftragter des Präsidenten habe ich immer strikt das getan, was er mir befahl.«