Ende der Utopie

Bourdieu verkörpert das Versprechen auf neue Widerstandsformen gegen den Neoliberalismus erheblich mehr, als dass er sie selber entwickelt.

Am Inhalt der »Charta 2000« liegt das enorme Interesse am Berliner Auftritt von Pierre Bourdieu sicherlich nicht. Veranstaltungen von »sozialen Bewegungen«, auf die sich die »Charta« schon in der ersten Zeile bezieht, kennen so einen großen Publikumsandrang kaum. Es geht wohl eher um die Begegnung eines entschlossenen »Nein!« zum Neoliberalismus mit dem Image von Verkomplizierung, das französischen DenkarbeiterInnen anhaftet. Also um die Hoffnung, dass hier eine komplexe Intelligenz gegen die intelligente Komplexität der neoliberalen Phase des Spätkapitalismus andenkt.

Das Radikale Bourdieus liegt jedoch darin, dass er im Neoliberalismus nichts Raffiniertes oder Kompliziertes findet, sondern ihn rücksichtslos als konservativ, dumm und simplizistisch angreift. Bourdieu entschuldigt sich wiederholt für seine reduktionistische Darstellung der durch den Neoliberalismus hervorgerufenen Veränderungen.

Als orthodoxer Soziologe mit Hang zur ethnologischen Untersuchung auch seiner eigenen Gesellschaft will er es vermeiden, die Position des politischen Akteurs mit der einer objektivierten »Wissenschaftlichkeit« zu verwechseln.Seine privilegierte Stellung, sein Prestige, ist nur dazu da, die Reichweite seiner Einsprüche zu erweitern.

Früher hat Bourdieu eher immanent sein wissenschaftliches Berufsfeld politisiert. Er analysierte und kritisierte die Strukturen der französischen Bildungssysteme, aber auch die herrschende Aufteilung der Welt in ökonomische Prozesse und einen vorgeblich uneigennützigen nicht-ökonomischen Rest. Dabei hat er aufgezeigt, wie kompliziert unterschiedliche Ökonomien in den Wirtschaftsprozess eingehen und überhaupt an der Konstitution von Gesellschaft beteiligt sind.

Seine Analysen der Interaktion zwischen ökonomischem Kapital einerseits und den verschiedenen gesellschaftlichen Kapitalsorten - sozial, symbolisch, kulturell - andererseits sind in den letzten Jahren auch hier oft eingesetzt worden, um die spätkapitalistisch ausdifferenzierten Verwertungsformen zu analysieren, die sich auf Bereiche ausdehnen, welche bis dahin weitgehend als nichtmonetär galten.

Nur über eine Verbindung zwischen seinen Recherchen und einer Analyse des Neoliberalismus ließe sich aber das herstellen, was er selber propagiert: neue Politikformen und -begriffe. Theorie ist für Praxis im besten Falle ein Werkzeug, sich in den gesellschaftlichen Widersprüchen bewegen zu können. Das leistet aber die vereinfachte Gegenüberstellung von Finanzkapital gleich Neoliberalismus und einer europäischen Tradition des Sozialstaats gerade nicht.

Auch Bourdieus eigenes mediales Engagement kann nicht als einfacher Aktivismus gegen die neoliberale Aktivierung aller Existenzformen dargestellt werden. Das Zusammentreffen von kulturellem Kapital und sozialer Differenz ist ja gerade treibende Kraft neoliberaler Integration und Ästhetisierung sozialer Stigmata.

Bourdieu stellt auf rhetorischer Ebene den Neoliberalismus als eine finanzpolitische Zwangslogik von Sparzwang und Sozialabbau dar und wirft in traditioneller Ideologiekritik den Medien vor, sie verschleierten diese Entwicklung, in dem sie ihr das Etikett der Unausweichlichkeit gegeben hätten. Dazu muss er aber Neoliberalismus auf eben diese Faktoren reduzieren und kann die Initialisierung verschiedenster Lebensbereiche nicht mehr sehen, die er durch seine Theoriebildung gerade fassbar gemacht hatte.

Bourdieu selbst betont ja beispielsweise, dass symbolisches Kapital heute expliziter ein Bestandteil von Management-Strategien geworden ist, was die SymbolproduzentInnen dazu bringt, ihre Aktivitäten auch jenseits von konkreten Finanzinvestments imaginär zu kapitalisieren oder als Wert zu denken. Diese verstärkte Mobilitätsbereitschaft von Teilen der Gesellschaft ist die verinnerlichte Basis dessen, was Bourdieu den Blair-Jospin-Schröder-Zusammenhang nennt. Gut, sein Vortrag ebenso wie seine Texte in »Gegenfeuer« sind keine Theorie. Aber was sind sie dann?

Vielleicht sind sie Organisationsdokumente. Sie gehen zurück auf das Zur-Verfügung-Stellen von Bourdieus kulturellem und symbolischem Kapital für soziale Auseinandersetzungen, wie seine Rede vor den streikenden Arbeitern am Gare de Lyon in Paris 1996. Die Rede will den Streikenden nicht sagen, was die besser wissen, weil sie ja mit ihren Streiks die Auseinandersetzung erst konstituieren. Auch wenn Bourdieu »auf keinen Fall ein politisches Programm« verfassen will, so strukturiert er doch die politische Ausrichtung, unter der eine Organisation laufen soll.

Die Organisationsanstrengung fällt in einen Raum, in dem sich vereinzelte soziale Eruptionen nicht homogenisieren lassen und ständig davon bedroht sind, von den Medien ignoniert zu werden.

Die Kämpfe der Sans-Papiers sind etwa trotz kurzfristiger Erfolge immer wieder Rollbacks ausgesetzt und Personen wie Bourdieu, die ihre Anwesenheit eher diskret einsetzen, übernehmen darin wichtige Funktionen. Jedoch ist mit Unterstützung noch keine eigene soziale Basis gegeben und nach der Einschätzung von Valérie Marange, Soziologin und Redakteurin der Zeitschrift Chimère, fehle sie Gruppen wie Raisons d'agir oder Attac.

So geht es auch in erster Linie um mediale Aktivitäten. Raisons d'agir, 1995 gegründet, publiziert kleine Bücher, die auflagenstark und billig selbst über Supermarktketten vertrieben werden. In den Medien wurde spekuliert, Bourdieu wolle eine Partei gründen, und der Nouvel Observateur betitelte die »Bewegung Bourdieu« in einem Schwerpunkt: »Die absolute Linke«.

Das Umfeld von Le Monde Diplomatique hat vor allem mit der Diskussion um die so genannte Tobin-Steuer, eine Besteuerung von Aktienspekulation, eine konkrete Forderung entwickelt. Erst 1998 gründete sich die Gruppe Attac unter Berufung auf einen Artikel von Ignacio Ramonet, dem Herausgeber von Le Monde Diplomatique, aus Gewerkschafts- und Presseorganisationen und Einzelpersonen. Das Pariser Hip-Stadtmagazin Nova stellte sein Millenniumsheft ganz unter das Zeichen von Attac und präsentierte neue und unkonventionelle Widerstandsformen als das Ding nach der (Jahrtausend-)Wende.

Obwohl die zwei Ts in Attac für »Taxe Tobin« stehen, schien Attac für die wilde Vielfalt der Bewegung zu stehen und medial die Ereignisse von Seattle vorwegzunehmen.

Bourdieu verkörpert dieses Versprechen einer neuen Sprache erheblich mehr, als dass er es selber entwickelte. Darin liegt vielleicht eine Stärke des Phänomens Bourdieu, in der Wirkung eines medialen Manövers, dem suggestiven Effekt von Sartreschem Engagement.

Insofern müssen Bourdieu oder auch Attac als das angesehen werden, was sie zum Beispiel nicht grundsätzlich von Greenpeace unterscheidet: nämlich selbst ein modernes Unternehmen zu sein, das unter Einsatz diverser Kapitalsorten (zu der auch vergangene oder aktuelle soziale Bewegungen gehören) in den Bereichen agiert, die sich aus den klassischen Formationen des Öffentlichen und der Macht ergeben haben. Ziel ist dabei die Etablierung einer Zivilgesellschaft, in der sich dann vielleicht eine Tobin-Steuer verwirklichen lässt. Aber sicherliche keine radikalen Utopien.