Emanzipatorische Antimoderne

Seelen in der großen Maschine

Die Houellebecq-Debatte muss nicht zwangsläufig ins Alte Ägypten führen. Ein Vorschlag, zur Abwechslung mal Forderungen zu stellen, anstatt Apokalypse-Warnungen durchzugeben.

Linke Debatten sind derzeit meist Käse. Als geronnene Milch der parteilichen, im Frühstadium aber immerhin flüssigen (d.h. noch zu taktischen Finessen aufgelegten) Denkungsart locken sie die grauen Mäuse meinungshungriger Öffentlichkeiten in Fallen, die ihnen mit der eisernen Zwangsläufigkeit ihrer Argumentation das moralische Genick brechen. Aus solchen Fallen gibt es kein Entkommen mehr - es sei denn, man entäußert sich der automatisierten Selbstbewegung mal analytisch, dann kritisch, zuletzt gar polemisch gewendeter Begriffshülsen, die von den Patronenfabriken der debattierenden DenkerInnen ausgespien werden.

Besieht man sich etwa die durch Tom Holerts Antwort (Junge World, 25/00) auf Guillaume Paolis Grau-in-Grau-Geraune in Sachen »integrale Sklaverei« (Jungle World, 24/00) losgetretene Diskussion um das Elend einer Kulturkritik, die vor lauter Abschied von überkommenen emanzipatorischen Subjekten bei ihrer Gesellschaftsbeschreibung unversehens im alten Ägypten ankommt (wir sind alle Sklaven transnationaler Konzerne, deren Pyramidenbauwirtschaft nur noch groteske Scheußlichkeiten zwischen Börse und »Big Brother« produziert), wird deutlich, dass hier ein echter Stangengouda auf sein Messer wartet. Auch beim Käsesäbeln kommt es allerdings - wie beim Haarespalten - vor allem darauf an, längs und quer nicht zu verwechseln.

Die Quersektion des betreffenden Milchprodukts hat Holert vorbildlich geleistet: So ließ sich einmal mehr überzeugend demonstrieren, wie der hypnotisierte Blick, den Leute wie Paoli auf den gegenwärtigen, üblen geschichtlichen Stand des Menschenglücks und der Menschenemanzipation werfen, die Entmündigung der Objekte der Waren- und Arbeits-Herrschaft durch Vergröberung längst nicht so eindeutiger Zustände zwanghaft theoretisch vollzieht, wo es weit eher darauf ankäme, ihr praktisch zu begegnen. Die Moderne, heißt die Lehre aus Holerts Auseinandersetzung mit der Paolischen Spielart des »analytisch« getünchten Antimodernismus, hat uns ihre Ambivalenzen vererbt, ihre irrationale Rationalität, ihre destruktive Produktion und ihre schizoide Aufgeklärtheit. Wer da beschreibend vorschnell vereindeutigt, genießt die eigene Gleichschaltung mit den gewaltsam vereindeutigenden Tendenzen im Gegenstand der Beschreibung selbst. So weit, so einleuchtend.

Nun kommt aber, wo wie hier den Totentänzern die tautologische Dummenfängerei ihrer Konzepte um die Ohren gehauen wird, beim Lesen und Nicken allmählich keine rechte Freude mehr auf. Das liegt, meinen wir, weder an mangelnder Lauterkeit noch an fehlender argumentativer Überzeugungskraft der Widerrede, sondern vor allem daran, dass die in solchen Fällen seit den Tagen der Apokalypsewarnungen durchgedrehter StaatskulturbewahrerInnen, Friedens- und Ökowitzfiguren in den achtziger Jahren bewährte Strategie, mit massiver affirmativer Keckheit (= »Kulturoptimismus«) strategisch dagegenzuhalten, sich inzwischen totgelaufen hat. Vor allem deshalb , weil das, was die multiplen Kulturen den lieben langen Tag so anbieten, inzwischen auch hartgesottenen Spaßvögeln die Freude am Affirmieren vergällt hat. Natürlich lässt Tom Holert deshalb auch die Finger davon.

Es ist nicht länger sinnvoll oder auch nur lustig, die ewig Blöden mit der Begeisterung für das noch Blödere und dabei deshalb oft Wahrere (Trash, Camp, Junk, Schlunz) zu schockieren. Gut daran ist, dass man heute wieder eher bejaht, was einem wirklich wie ein Vorschein der besseren Gesellschaft erscheint, und nicht mehr so sehr das, was bloß diejenigen ängstigt, die sich in ihrer Angst vor allem Bestehenden suhlen, bis der sprichwörtliche Arzt kommt. Schlecht, ja: mies daran ist, dass die Affirmation als Mantelstrategie (von Fröhlich-Pop bis hin zum tatsächlich vollkommen nihilistisch Negativen in Black Metal und Splatterfilm, das den im Kern konservativen MahnerInnen aller Provenienzen natürlich auch wieder nicht schmeckt) damals immerhin praktische Optionen freisetzte, die von den neuen Mikro-Affirmationen nicht übernommen, geborgen oder dialektisch »aufgehoben« werden können, sondern von zahlreichen Leuten, die wie Holert und wir in die Arbeit auf dem Feld der (Pop-) Kultur gedankliche und andere Arbeit investiert haben, als historische Verluste eines sich verschärfenden Klimas abgeschrieben werden mussten.

So sind aus den alten Zeiten, in denen man sich die Icons der Parteinahme für entweder brütende Weltschmerzduselei oder ausgefuchstes Kulturschaffen wechselseitig praktisch aufs Haupt schlagen konnte, leider die neuen Zeiten geworden, in denen es plötzlich wieder mehr ums jeweilige Bewusstsein geht - ja, wie man am Ende von Robert Kurz' »Schwarzbuch« verblüfft lesen muss, um die »innere Distanz« zu den Zuständen: »Die Gedanken sind frei, auch wenn sonst gar nichts mehr frei ist.«

Karl Marx, der eine Weile als einigermaßen linker Kopf gehandelt wurde, hätte sich angesichts dieses Satzes vermutlich ein paar seiner Bart- und Haupthaare ausgerauft, zeichnete er doch als Verfasser eines sehr viel hübscheren Satzes, der so ziemlich das Gegenteil behauptet: »Übrigens ist es ganz einerlei, was das Bewusstsein alleine anfängt.« Diesen Marxschen Satz haben nicht nur Leute wie Paoli und Kurz offenbar für das wohlige Gefühl, in ihren jeweiligen Schädelkammern die sie umgebende Welt recht schön verachten zu können, drangegeben. Der in dem Marx-Zitat gemeinte Einwand wird vielmehr auch von einer Perspektive, in der diese Eremiten angegriffen werden können, nicht eingeholt. Während die linksgestrickten MahnerInnen samt ein paar rechten Antiliberalen den Teufel an die Wand malen, tritt der differenzierte Beobachter ein paar Schritte zurück und erkennt die Wand, auf der sich die MahnerInnen befinden, malt so aber selber wieder vor allem Teufel an die Wand, die ihrerseits Teufel an die Wand malen. Voilˆ: ein infiniter Regress der Medienkritik der Gesellschaftskritik der Medienkritik usw. etc., ad infinitum, ad nauseam, ad astra.

Aus diesem Regress wiederum ergibt sich fürs Publikum der irrige, aber lähmende Eindruck, es ginge bei all diesen Dingen um einen Streit von lauter mal sauberen, mal eher verblendeten Seelen in der riesigen Maschine des irgendwie erstaunlich autonomen Diskurses über irgendetwas, das irgendwo da draußen irgendwann mal tatsächlich passiert sein muss (Moderne? War das nicht 1920, 1933, den Dreh?). Hier rettet uns kein lieber Gott, sondern nur der beherzte Entschluss zum nunmehr lateralen Zerschneiden des Käses. Soll heißen: Wo Tom Holert zu Recht Unterscheidungen innerhalb einer dialektischen Moderne anmahnt, die Paoli ignorieren muss, um zu seinem »Herren/Sklaven, Waren/Konsumtrottel, Voyeurismus/Überwachung»-Raster zu gelangen, denkt er andererseits aus Gründen der argumentativen Ökonomie entlang der Frage »Moderne und Gegenmoderne« Dinge und Namen zusammen, deren Unterscheidung wiederum uns wichtig ist, weil sie auf ein potenzielles Außen des besagten Regresses verweisen.

Die drei bei Holert aufgeführten Namen, auf die es uns dabei vor allem ankommt, lauten: Richard Dawkins, Peter Sloterdijk und Michel Houellebecq. In Holerts Text kommen sie alle drei als Leute vor, die von der »biologischen und sozialen Unterworfenheit« des Menschen (und zwar unter Gene etc.) sprechen und damit ähnliche Horrorszenarien wie Paoli in die Welt posaunen. Aber: Nicht alle öffentlichen Äußerungen, die das immergleiche Argumentieren der immergleichen rechten und linken Lager diverser Kulturkämpfe speisen, sind deshalb auch schon unauflöslich mit den Kontexten verbunden, in denen sie zu Waffen werden. Dawkins, Houellebecq und Sloterdijk reden zwar tatsächlich lang und breit von Biologie, und nähren damit biologistische Diskurse. Aber die Biologie, von der sie reden, ist jeweils eine völlig andere.

Dawkins ist bei Tom Holert »Ultra-Darwinist«, was wie eine philosophische oder politische Position klingt und von Dawkins auch anlässlich der Erörterung »sozialer Fragen« in seinen Büchern so gehandhabt wird, in Wahrheit aber vor allem einen Biologen, also einen Wissenschaftler, bezeichnet, der im Gegensatz etwa zum ebenso oft durch populärwissenschaftliche Bücher und Interventionen in der Öffentlichkeit in Erscheinung getretenen Stephen Jay Gould das darwinistische Paradigma der Evolutionstheorie gegen die neue Theorie des »punctuated equilibrium« verteidigt. So eine Fachdiskussion wird erst politisch, wenn jemand daran ein Interesse hat. Und das könnte ja auch ein linkes sein - es wäre denkbar, dass jemand Dawkins' Argumentation in einem Streit über die Metapher »Evolution einer Gesellschaft« so verwendet, dass daraus etwa die Rolle der Gewalt bei der Selektion von Ideen (die Dawkins »Meme« nennt) gegenüber einem Gould-Schüler als wichtig herausgestellt wird, der Gesellschaften eher als »durchlöcherte Gleichgewichte« und wie durch ein Wunder immer wieder unterbrochene Konsensbildungsprozesse beschreiben will.

Sloterdijk wiederum ist kein Naturwissenschaftler, der philosophisch spekuliert, sondern ein Philosoph, der vor politisch verstandener Eugenik und Biotech »warnt« und zugleich durch Beleihung der entsprechenden Fach-Vokabulare seinen eigenen Züchtungsphantasien die Aura der Weltweisheit zu verleihen sucht. Der Fall hat in einer anderen Arena stattgefunden als der Fall Dawkins; das zu vernachlässigen, depolitisiert die Diskussion zwar noch nicht, kann aber so instrumentalisiert werden: »Wer von Biologie spricht, steht rechts.« Houellebecq aber ist, last not least, ein Schriftsteller, dem seine linken KritikerInnen bislang vor allem ein paar ziemlich kokette antiliberale, misanthropische Boshaftigkeiten vorwerfen und dem man durch alle seine Texte hindurch einen konsequenten, misogynen und hochneurotischen Antisexualismus nachweisen kann, der seiner Klientel aber vor allem literarische Phantasien verkauft, die sich an technische und wissenschaftliche Vorgänge knüpfen: Informatisierung der (Land-) Wirtschaft gegen traditionelle, auch psychologische Widerstände in »Ausweitung der Kampfzone«, Biotechnologie in »Elementarteilchen«.

Diese die gegenwärtige Gesellschaft wesentlich mitformenden Veränderungen auf einem Sektor, den der Marxismus »Produktivkräfte« nennt, überführt Houellebecq in einen künstlerischen, phantastischen Kontext. Das macht den Effekt seiner Romane aus, das unterscheidet sie von anderen »Zeitromanen« und geht doch, weil es etwas scheinbar Außerpolitisches, der instrumentellen Welt Angehörendes ist, in den meisten, auch wohlwollenden Rezensionen speziell seines letzten Romans »Elementarteilchen« völlig unter. Denn alle, FreundInnen wie GegnerInnen, glauben, sie könnten derlei profanes Zeug übergehen und gleich zur »Zivilisationskritik« und anderem darin angeblich notwendig impliziten Gedankengewurstel übergehen.

Wir finden hingegen, dass sich Linke lieber mal ein Viertelstündchen schämen sollten, wenn ihnen, wozu wir sie herzlich einladen wollen, endlich aufgeht, dass Houellebecqs Erfolg, den man ihm darum wohl gönnen muss, von der gewieften Besetzung einer klassisch linken Planstelle herrührt: Er hat einfach den Ort gekapert, wo Forderungen gestellt werden, sobald in der Gesellschaft die Rede davon geht, dass etwas vorher Undenkbares neuerdings möglich geworden ist (35-Stunden-Woche, Antibabypille, Fabrikproduktion von Kleidung, Elektrifizierung und Sowjetmacht ...).

Als einer der ersten Schriftsteller des 21. Jahrhunderts (ausgerechnet neben dem alten John Updike mit »Toward the End of Time«, 1997) außerhalb des von der seriösen Literaturkritik weithehend ignorierten Genre-Ghettos der Science Fiction, wo Leute wie Greg Egan, Marge Piercy, Nancy Kress und Linda Nagata seit Jahren ihre eigene Spielart der Politisierung wissenschaftlicher Diskurse proben, produziert Houellebecq Texte, in denen man eine Welt wiedererkennen kann, die manch altehrwürdige philosophische Diskussion um die Distribution von Wissen, die Realität der Kommunikation, das Ende des Menschen usw. zu einer Frage macht, der sich natürliche und juristische Personen in politischen Zusammenhängen stellen müssen.

Diese Welt müsste eine linke Imagination, die nicht völlig esoterisch werden will, zu Prophezeiungen und Forderungen befeuern. Es ist die Welt, in der reiche Länder sich von armen dadurch unterscheiden, dass erdplattentektonische Verwerfungen vor Erdbeben in den reichen Ländern von der »Computational Earth Systems Science« modelliert werden können und die Beben deshalb nicht ausgehen müssen wie in Indien. Eine Welt, in der Frauen in den Metropolen bald schon noch lange nach der Menopause vor die Wahl gestellt werden könnten, ob sie Kinder kriegen wollen. Eine Welt, in der GentechnikerInnen nach einem Marker für den Serotoninspiegel suchen, der die These der angeborenen Kriminalität stützen soll, und wo die Situation an den Börsen nicht mehr allein von Marxens Wertschablonen, sondern von Software-kontrollierten Option-pricing-Modellen bei Equity-Derivat-Handel gestaltet wird.

Wenn Kritische Theorie, Psycho- und Diskursanalyse, Wertkritik, Dekonstruktion, Cyberfeminismus und wie der ganze Aufwand sonst heißen mag, vom kritischen Hirn wirklich ausnahmslos verlangen, die oben angeführten gewaltigen Umwälzungen durchweg als Symptome, Signifikanten, Repräsentationen und Scherenschnittschatten an der Höhlenwand zu lesen, dann möge Allahs Zorn über den ganzen klugen Blödsinn kommen. Houellebecq aber ist einer der sehr wenigen AutorInnen, welche die richtigen ästhetischen Fragen zur richtigen Zeit dadurch greifbar machen, dass sie gleich fertige (in diesem Fall reaktionäre, aber in hoher Detailauflösung jederzeit spannende Widerrede erlaubende) Antworten mitliefern. Fazit: Höchst wünschenswert fänden wir (nicht statt der, sondern zusätzlich zur Kritik der kritischen Kritik) eine an den vorhandenen, die Gesamtgesellschaft wie ihre Teile betreffenden Veränderungen orientierte Produktion von neuen imaginären Größen, Programmen, Parolen, großen Rosinen.

Selbst wenn der Karren, in dem wir alle sitzen, eine falsche Ausfahrt nehmen sollte und wir irgendwann, von uns aus in zwei Jahren, auf einmal wirklich mitten in die integrierte Sklavenwelt oder übelsten Kollapsquatsch hineintuckern, muss das, wie der historische Vergleich zeigt, noch nicht das Ende der Welt sein. Zur Zeit des Statthalters Ankh-Haf im Ägypten der vierten Dynastie, als die mathematisierten Naturwissenschaften sich überwiegend auf die Parzellenaufteilung im Nildelta beschränkten und die Popkultur sich im Anstaunen goldener Statuenschreine durch elende Leibeigene erschöpfte - da gab es zwar keine Linke, kein soziales und historisches Kontingenzbewußtsein, keine lustigen techno-gotischen Schauerromane aus Frankreich und keinen verbiesterten, sich als Gesellschaftskritik aufspielenden Kramladen-Negationismus, aber selbst da ließ sich's leben. Wenn man nicht auf den Kopf gefallen war, vielleicht sogar ein bisschen mehr als das.