Menschliches Genom entziffert

Nicht mehr von dieser Welt

Wichtiger als die Erfindung des Rads, großartiger als die Mondlandung: Das menschliche Genom ist entziffert. Die Biowissenschaften werden im Verlauf der humangenetischen Aufklärung zu einer säkularen Religion.

Die Revolutionen der Zukunft werden sich auf dem Gebiet der Reprogenetik ereignen. Visionäre wie Aldous Huxley haben das zu einer Zeit beschrieben, als die Molekularbiologen von der Entschlüsselung des menschlichen Erbguts so weit entfernt waren wie das Himmelsfernrohr von der bemannten Raumfahrt.

Ob Gen-Tests an Vierzellern oder Kinderkriegen nach der Menopause, ob befruchtete Eizellen aus dem Eisschrank oder geklonte Stammzellen von Hybrid-Embryonen: Fast alles, was am Menschen bisher natürlich war, wird im Triumphzug der Technik disponibel, veränder- und ersetzbar. Der gentechnische Durchgriff auf basale Lebensprozesse setzt den Menschen perspektivisch in ein radikal neues Verhältnis zu sich selbst: Der Mensch wird zum Designer, der Mensch wird Menschenwerk. Die alte Hoffnung der Aufklärung, das Studium der Natur ermächtige das Subjekt zum vollen Souverän, droht sich auf höchst ambivalente Weise zu erfüllen: Der Mensch selbst wird in unbegrenztem Ausmaß zum Entwurf menschlicher Planung.

Über die zukünftigen Resultate dieses Naturzerfalls ist viel spekuliert worden: der dienstbare Homunculus; das unberechenbare Monster; der perverse Forscher, der - korrumpiert von der Fata Morgana einer vollends berechenbaren Welt - sich gottgleich wähnt und doch Werkzeug seiner Labor-Geschöpfe bleibt. Das waren die aufregenden Phantasien des 19. und 20. Jahrhunderts, die ein enorm beschleunigter Fortschritt freisetzte.

Im Licht der humangenetischen Moderne erscheint die Wahrheit dieser Kulturkritik weitgehend aufgezehrt. Der übermächtige Schatten jenes »Menschen nach Maß«, der im Feuilleton bisher jede Erfolgsmeldung aus dem Labor so beharrlich begleitet hat, wird von einer Genforschung, die nüchtern die komplexe Interaktion biochemischer Substanzen bilanziert, als märchenhafte Symbolik aus der Stummfilmära dechiffriert. So will es zumindest scheinen. Doch das Pressetheater und der Politikerrummel, die die Verkündung der Entschlüsselung des Genoms begleiten, sprechen der betonten Bescheidenheit der Genforscher Hohn und vielleicht das Geheimnis der Gentechnik aus.

Nun, da es vollbracht ist, da der Gen-Code des Menschen in endlosen Buchstabenfolgen vorliegt, soll das Welt- und Selbstverständnis des Menschen ein neues werden. Die massenmediale Inszenierung eines prometheischen Ringens um das letzte Geheimnis des Lebens, lange als pedantische Entzifferungsarbeit verlacht, zelebriert den überwältigenden Einbruch einer Zukunft, vor der nichts Traditionelles mehr Bestand hat. Der Mensch als zu Verantwortung und Freiheit verurteiltes Wesen, die Wissenschaft als fragile Konstruktion, die Technologie als Magd des politischen Gestaltungswillens: Diese Deutungen erodieren im strahlenden Glanz der humangenetischen Aufklärung, werden zu kulturhistorischen Relikten aus dem vor-genomischen Zeitalter. Allein die Materialisation der Karte des Erbguts radikalisiert die Spielregeln, denen der Fortschritt zu gehorchen hat. Zwar wird der Code allem Wunschdenken und allen wilden Prophezeiungen zum Trotz noch lange nichts von seinem Sinn preisgegeben, die Zeit für eine breite Debatte über Sinn und Nutzen der Gentechnik wäre vorhanden. Doch die will sich niemand mehr gönnen, da offensichtlich ist, dass das Heil der Menschheit und das Wohl des Wirtschaftsstandorts von der neuen Schlüsseltechnologie abhängen.

Das einstige Vertrauen der Deutschen darauf, ungeschlagener Weltmeister in den Disziplinen Misstrauen und Skepsis gegenüber der Gentechnik zu sein, ist heute dem mulmigen Gefühl gewichen, zu wenig in das Jahrtausendprojekt investiert zu haben. Und die tief sitzende Ahnung, die eigene Veranlagung zu schwerblütigem Räsonieren bediene vorrangig eine wohlfeile Bedenkenträgerei, die sonntags gern gehört wird, aber weder Patente noch Dividenden abwirft, ist zwischenzeitlich zur Gewissheit geworden. Im großen Genom-Rausch sieben jetzt die anderen die Nuggets in Form von Gen-Wirkstoffen und diagnostischen Verfahren, so tönt es aus allen Wirtschaftsspalten.

Deutschland solle in die Entwicklung genbasierter Medikamente ordentlich investieren, forderte der Berliner Polit-Genetiker Jens Reich auf der Titelseite der Zeit. Forschungsministerin Edelgard Bulmahn kündigte termingerecht eine Förderung für die Genomforschung von über 500 Millionen Mark von Bund und Ländern für die nächsten vier Jahre an, und Kanzler Gerhard Schröder, der verstärkt die »verantwortbaren Innovationspotenziale« der einstmaligen Hochrisikotechnologie nützen will, schlug der Wirtschaft in der letzten Woche so etwas wie ein Bündnis für Biotechnik vor.

Seitdem die konkurrierenden Teams der Celera Genomics Inc. und das staatlich finanzierte internationale Human Genome Project (Hugo) ihren wütenden Wettlauf um die Gene eingestellt haben, herrscht Friede über den Labors und eine bis dato unbekannte Seelenruhe in den politischen Etagen. Der harmonische Paarlauf von Craig Venter und den Hugo-Forschern auf der Zielgeraden hat die Gentechnik rehabilitiert. Repräsentierte Venter noch vor kurzem als Personifizierung des Bösen, die Schattenseite der Genforschung, so scheinen mit dem Zwist auch die Verwertungsgelüste der Pharma-Riesen und Versicherungsagenturen verschwunden, die einmal die alarmierenden Themen waren. Nachdem sich der Pulverdampf im Duell der Genom-Giganten verzogen hat, bilden die friedlich vereinten Konkurrenten in der öffentlichen Wahrnehmung eine Allianz der Vernunft und ihr Werk, die Sequenzierung des Erbguts, den historischen Höhepunkt in der hunderttausendjährigen Geschichte der Menschheit.

Dieser Triumph der Wissenschaft wird begeistert abgefeiert, weil hier die Schimäre eines Fortschritts aufscheint, der im Sozialen nicht mehr zu denken gewagt wird. Die humangenetische Aufklärung mobilisiert noch einmal jenes Fortschrittsversprechen, das sie prinzipieller Kritik entheben soll: Mehr Wissen bedeute mehr Sicherheit und universelle Kontrolle. Gut, es mag noch das eine oder andere ethische Geplänkel auf dem Weg zur praktischen Implementierung geben, doch mit dem erfolgreichen Abschluss des Humangenom-Projekts scheinen sich die Biowissenschaften von allen sozialhistorischen Relativierungen emanzipiert zu haben, auch von der Vorläufigkeit und Fragwürdigkeit wissenschaftlicher Interpretation. Das andächtige Staunen, die unsinnige Euphorie angesichts eines Gen-Katalogs feiern in dieser Wissenschaft das Absolute, den Hort der Gewissheit in einer Welt der Unsicherheit. Mit der Erbkarte in der Hand soll gleichsam perspektivisch der Leidensweg des Subjekts, den kritische Intellektuelle unter den Begriffen der Fragmentierung und Entfremdung ausgeschildert haben, zu einem versöhnlichen Ende geführt werden. In einer Zeit, in der sozialer Fortschritt vollends blockiert zu sein scheint, verlegt sich die Hoffnung auf Emanzipation und Souveränität aufs Biologische.

Mit der international koordinierten Pressefeier des Genom-Projekts wurde das Gen zum Dogma erhoben, die Wissenschaft zur Religion. Tatsächlich hat sie zu keiner Zeit mit Heilsversprechen auf das Ende von Alter, Krankheit und Tod gegeizt, die das magische Denken auszeichnen. In der heiligen Dreieinigkeit von Genetik, Informatik und Robotik, die gemeinsam den Gen-Code knackten, wird Wissenschaft zum außergesellschaftlichen Wesen mystifiziert. Vernunft und Wahrheit sind nicht länger an eine spezifische Materialität gebunden, die immer auch den Kampf um Hegemonie in der politischen Arena repräsentiert. Dieses Bild von einer Wissenschaft, die nicht länger von dieser Welt ist, markiert den Abschied vom kulturellen Relativismus und der Erinnerung daran, dass Wissenschaft immer auch Tand von Menschenhand ist.

Im riesigen Projekt des Entzifferns und Systematisierens manifestiert sich noch einmal der mächtige Aberglaube, dass vollständige Ordnung und Transparenz zur vollen Verfügungssicherheit und Selbstermächtigung des Menschen führen werden. Der renommierte Bioethiker und Blair-Berater John Harris etwa glaubt, dass langfristig die durchschnittliche Lebenserwartung des Menschen unter dem Einsatz der Gentechnik auf biblische 1 200 Jahre hinaufgeschraubt werden wird. Kann die Liebe zur Gentechnik da noch Sünde sein, wenn die Rückeroberung des Gartens Eden annonciert ist?