Importgut: Wertkritik

Moishe Postone entwickelt in seinem Buch »Time, labor, and social domination« die Kritische Theorie über ihre Grenzen hinaus.

Moishe Postone ist hierzulande vor allem durch seinen Aufsatz »Nationalsozialismus und Antisemitismus« bekannt geworden, der die wertkritische Debatte über den Antisemitismus der letzten zehn Jahre entscheidend beeinflusst hat. Weit weniger bekannt ist bisher noch Postones grundlegendes theoretisches Werk zur Reinterpretation der Marxschen Theorie »Time, labor, and social domination«, das bereits 1993 in den USA erschien (Postone ist Dozent an der University of Chicago). Das liegt sicher vor allem daran, dass bisher das Buch noch nicht in Deutsch vorliegt. Im Herbst soll jetzt die seit langem angekündigte Übersetzung des ç a-ira-Verlags erscheinen.

Möglicherweise stand einer vermehrten Rezeption und öffentlichen Debatte des Buches in seiner englischen Originalversion aber auch entgegen, dass es eine zu den dominanten gesellschaftstheoretischen bzw. -kritischen Diskursen quer liegende Position entwickelt. Weder fährt es auf dem Ticket demokratisch-marktwirtschaftlicher Affirmation wie der Postmodernismus einerseits und der Zivilgesellschaftsdiskurs andererseits, noch handelt es sich um einen verdünnten Aufguss altbekannter marxistischer Scheingewissheiten. Vielmehr formuliert Postone in seiner Auseinandersetzung mit der Marxschen Theorie wesentliche Elemente einer fundamentalen Kapitalismuskritik, die sich grundsätzlich vom traditionellen Marxismus unterscheidet.

Dieser blieb nämlich, wie ausführlich im ersten Teil des Buches gezeigt wird, stets in den Basis-Kategorien der bürgerlichen Gesellschaft befangen, die er doch dem eigenen Anspruch nach überwinden wollte. Den Begriff »traditioneller Marxismus« bezieht Postone dabei nicht »auf eine spezifische historische Strömung oder Tendenz im Marxismus, sondern grundsätzlich auf alle theoretischen Ansätze, die den Kapitalismus vom Standpunkt der Arbeit analysieren und wesentlich in den Kategorien von Klassenverhältnissen beschreiben, als eine Gesellschaft, die durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln und eine marktregulierte Ökonomie strukturiert ist« (S. 7; Übersetzung N.T.). Bei allen sonstigen Unterschieden und Akzentsetzungen trifft diese Charakterisierung auf alle marxistischen Ansätze mit nur wenigen und bloß partiellen Ausnahmen zu. Dagegen interpretiert Postone die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie wesentlich als eine Kritik von Wert und Ware und, damit untrennbar verbunden, von Arbeit als dem strukturierenden und basalen Moment kapitalistischer Vergesellschaftung.

Der traditionelle Marxismus dagegen kam, wie Postone ausführt, im Grunde genommen nie über eine Kritik der Distributions- oder Verteilungsverhältnisse im Kapitalismus (also über eine Kritik des freien Marktes) hinaus, gegen die er den als transhistorisch und als emanzipatorisch (miss)verstandenen Standpunkt der Arbeit ausspielte. Insofern kann er im historischen Rückblick auch viel eher als eine spezifische Theorie bürgerlicher Produktionsverhältnisse denn als deren Kritik entziffert werden. Diese Feststellung mag zunächst irritieren, denn unzählige marxistische Theoretiker haben sich gegen jede »Zirkulationsfixiertheit« verwahrt und scheinbar das Haupt-Augenmerk der Kritik auf den Produktionsprozess gerichtet. Doch das trifft nur insofern zu, als stets die Abpressung des Mehrwerts, also die Ausbeutung der Lohnarbeiterschaft, im Zentrum stand. Dass die Arbeit jedoch die Grundlage der Gesellschaft bilden soll, wurde als unaufhebbares ontologisches Faktum vorausgesetzt, obwohl dies doch, worauf Postone völlig zu Recht immer wieder insistiert, einzig und allein ein historisches Spezifikum des Kapitalismus ist. In diesem Sinne ging es dem traditionellen Marxismus auch nie um die Befreiung von der Arbeit, sondern um die Fiktion einer Befreiung der Arbeit von der kapitalistischen Ausbeutung.

»Time, labor, and social domination« steht in der Tradition der Kritischen Theorie. Aber weder macht Postone die Habermassche »kommunikative« Wendung und die Entschärfung der Kritischen Theorie zu einer demokratisch-staatstragenden Ideologie mit (der Kritik an Habermas ist ein eigenes Kapitel gewidmet); noch betreibt er Kritische Theorie als sterile Erbverwaltung eines Fundus scheinbar feststehender Einsichten, die nur noch ideologiekritisch angewendet werden müssen. Vielmehr verortet er die Kritische Theorie selbst historisch im Kontext des traditionellen Marxismus. Er zeigt, dass insbesondere Friedrich Pollock und Max Horkheimer sich nie von den Grundvoraussetzungen des Marxismus wirklich lösen konnten und dass gerade dies ein wesentlicher innertheoretischer Grund für die pessimistische Wendung der Kritischen Theorie seit den 1940er Jahren war. Da der wachsende Eingriff des Staates in die Ökonomie im Nationalsozialismus, im Stalinismus und im New Deal als eine Sistierung des behaupteten Widerspruchs zwischen Produktions- und Distributionsverhältnissen interpretiert wurde, schien nun auch jede Möglichkeit gesellschaftlicher Emanzipation ausgelöscht. So verweist gerade die Kritische Theorie in ihrem Charakter als eine Art Grenzfall des traditionellen Marxismus (in dem sie natürlich nie ganz aufging) auch auf dessen Grenzen.

Dass es Postone gelingt, diese Grenzen zu überwinden, ist auch ein Resultat seiner Auseinandersetzung mit den kapitallogischen und werttheoretischen Debatten in der BRD der siebziger Jahre, an denen er während seines langjährigen Studienaufenthalts in Frankfurt beteiligt war. In den Grundzügen war das Buch bereits in den achtziger Jahren fertig, auch wenn es dann erst mit einiger Verzögerung in den USA erschien, wo es übrigens viel Anerkennung fand. Es bleibt zu hoffen, dass es nun auch, gewissermaßen als Re-Import, die wertkritische Debatte im deutschsprachigen Raum voranbringt.

Im Folgenden geben wir einen leicht gekürzten Auszug aus dem zweiten Kapitel »Voraussetzungen des traditionellen Marxismus« wieder.