Der Indien-Kaschmir-Konflikt

Wirre Strategien

Indiens Regierung lehnt die Autonomie für Kaschmir ab, verhandelt aber mit der separatistischen APHC.

Verwirrt«, »konzeptionslos«, »doppelzüngig« sind Begriffe, mit denen Zeitungen und Oppositionelle die gegenwärtige Kaschmirpolitik der indischen Regierung beschreiben. In der Tat ist es schwierig, eine Strategie zu erkennen, außer vielleicht die einer rührigen Bewegungslosigkeit: Während die Entscheidungsträger einerseits Gesprächsbereitschaft signalisieren, lassen ihre Positionen wenig Spielraum für Kompromisse.

Insbesondere der Umgang mit der Autonomieforderung, die das Parlament von Jammu und Kaschmir erhoben hatte, wurde vielfach kritisiert. Ende vergangenen Monats hatten die Parlamentarier mit 87 zu 16 Stimmen eine Resolution verabschiedet, in der die Zentralregierung in Neu Delhi aufgefordert wurde, die Empfehlungen der bundesstaatlichen Autonomiekommission umzusetzen. Deren Bericht, der seit über einem Jahr vorliegt, sieht eine weitgehende Selbstverwaltung vor. Lediglich die Bereiche Außenpolitik, Verteidigung und Telekommunikation sollen demnach in der Hand der Unionsregierung bleiben.

Die ersten Reaktionen waren überraschend milde. Premierminister Atal Bihari Vajpayee erklärte, die Forderung nach Selbstverwaltung sei »durchaus im Rahmen der Verfassung«, und Innenminister Lal Krishan Advani kündigte eine Diskussion der Frage im Parlament an. Dazu kam es jedoch nicht: Kaum eine Woche später lehnte das Kabinett die Forderung ab. Der hindu-nationalistischen Regierungspartei BJP geht schon der Sonderstatus, den Kaschmir gemäß der indischen Verfassung genießt, zu weit.

Verwundern muss der brüske Ton der Erklärung, der kaum Bewegungsspielraum zu lassen schien. Zum einen ist die National Conference, die mit zwei Dritteln der Sitze das Parlament von Kaschmir beherrscht, Teil der Regierungskoalition in Neu Delhi und die einzige nennenswerte politische Kraft in Kaschmir, die ein Verbleiben in der indischen Union befürwortet. Deren Chef, Ministerpräsident Farooq Abdullah, steht unter enormem Druck. Die Wahlen, die 1996 unter dem massiven Einsatz der Sicherheitskräfte stattfanden und die von zahlreichen Parteien und über 50 Prozent der Bevölkerung boykottiert wurden, gewann er mit der Autonomieforderung. Die Zurückweisung hat Abdullah, der vielen in Kaschmir als Marionette der Zentralregierung gilt, weiter geschwächt.

Zum anderen hat die Regierung in Delhi auf Druck der USA inoffizielle Gespräche mit der separatistischen All Party Hurriyat Conference (APHC) begonnen. Der Rückhalt, den die Sammlungsbewegung aus verschiedenen sozialen, politischen und religiösen Organisationen in der Bevölkerung hat, wird aus ihrer Fähigkeit deutlich, jederzeit Streiks und Demonstrationen organisieren zu können. Die APHC ist alles andere als einig: Während einige Gruppen ein unabhängiges Kaschmir wollen, fordern andere den Anschluss an Pakistan. Nicht nur Abdullah wunderte sich, was die Regierung mit der Hurriyat diskutieren will, wenn sie nicht einmal bereit ist, über Autonomie zu reden.

Die Hurriyat ihrerseits hat in den letzten Wochen mehrfach betont, dass Autonomie für sie kein Thema sei. Zudem fordern die Separatisten eine Einbeziehung Pakistans in die Gespräche - inakzeptabel für eine Regierung, die das Kaschmir-Problem beharrlich von den bilateralen Beziehungen zu trennen sucht, obgleich dies einer der Kernpunkte des Konfliktes zwischen den Atommächten ist und Delhi die Militärregierung in Islamabad beschuldigt, mit der Unterstützung der Freischärler wesentlich zu dem Bürgerkrieg beizutragen.

Sollte es trotz all dieser Hindernisse zu einer Annäherung zwischen APHC und Regierung kommen, dürfte dies kaum zu einem Nachlassen der militärischen Aktivität der Rebellen führen. Die APHC hat allenfalls geringen Einfluss auf die Hizbul Mujahideen, eine Gruppe, der hauptsächlich Kaschmiris angehören. Verbände wie die Lashkar-e-Taiba oder Harkat-ul-Ansar setzen sich dagegen aus pakistanischen und afghanischen Kämpfern zusammen.

Die militärische Situation im umstrittenen Kaschmir-Tal, wo nach inoffiziellen Schätzungen bis zu 500 000 Soldaten und Paramilitärs stationiert sein sollen, hat sich in den letzten Monaten deutlich verschärft. Zwischen Januar und Mai wurden 610 Angriffe auf die Sicherheitskräfte registriert; im Jahr zuvor waren es im gleichen Zeitraum nur 439 gewesen. Erfahrungsgemäß nehmen die Auseinandersetzungen im Sommer zu, wenn die Temperaturen ein Überqueren der Gebirgsketten zwischen Indien und Pakistan ermöglichen. Einige der Gruppen haben Stützpunkte in Pakistan, dessen Regierung behauptet, die Terroristen nur politisch, diplomatisch und moralisch, nicht aber militärisch zu unterstützen.

Anfang des Jahres hatte die indische Regierung eine »pro-aktive Strategie« ausgerufen, die, wie ein Kolumnist bemerkte, »auf der Ebene des örtlichen Offiziers lediglich bedeutet, dass mehr Leichen gefragt sind«. In der Tat verzeichnen Beobachter einen steilen Anstieg von Übergriffen, die vom alltäglichen Verprügeln von Zivilisten bis zum Niederbrennen ganzer Dörfer reichen.

Die Beziehungen zwischen der Armee und der Bevölkerung sind nach zwölf Jahren Bürgerkrieg und 70 000 Toten schon lange an einem Punkt angekommen, an dem kaum eine andere Entwicklung als eine weitere Eskalation denkbar scheint. Während die meisten Bewohner Kaschmirs die indische Armee als eine gefährliche und unberechenbare Besatzungsarmee empfinden, sehen sich die Soldaten von einer feindseligen Bevölkerung umgeben, die die Aufständischen unterstützt, sei es aus Furcht oder aus Sympathie.

Nach der Ablehnung der Autonomieforderung wurde auch der Regierung klar, dass es wenig ratsam ist, sich den Anschein der Unbeweglichkeit zu geben. Justizminister Ram Jethmalani verkündete, der Autonomiebericht sei lediglich zu allgemein gewesen. Würde dagegen konkretisiert, in welcher Weise die Gesetze der indischen Union den Interessen des Bundesstaates widersprechen, werde die Reaktion eine andere sein. Vergangene Woche wurde Abdullah von Premier Vajpayee und Innenminister Advani empfangen, die nach Angaben von Abdullah versprachen, dass eine Ministergruppe mit der Regierung von Kaschmir über eine Ausweitung der Befugnisse des Bundesstaates verhandeln werde. Womit beide Seiten zumindest Zeit gewonnen haben.