Sitten und Gebräuche II

Reform-Taliban

Rasend schnell schwurbelt die Welt voran, nichts bleibt so wie es ist - nicht einmal die afghanischen Gotteskrieger der Taliban. Bislang waren sie erfolgreiche Anwärter auf einen Spitzenplatz in der ewigen Ranking-Liste der Regression: Vollverschleierte Frauen am heimischen Herd und komplett behaarte Männer an der Waffe oder in der Moschee - wer diesem talibanischen Schönheitsideal nicht entsprach, wurde zu Tode gesteinigt oder gleich lebendig begraben.

Das soll sich auch künftig nicht ändern. Und doch ist in Afghanistan einiges in Bewegung gekommen. Als Mitte Juli bei einem Fußballturnier in Kandahar eine Gastmannschaft aus Pakistan in kurzen Hosen auflief, handelte die anwesende Taliban-Sittenpolizei rasch: Sie griff sich alle Spieler, deren man habhaft werden konnte, warf ihnen vor, gegen »die islamischen Kleidervorschriften« verstoßen zu haben und säbelte ihnen die Haare ab. So weit, so typisch - selbst im benachbarten Iran schüttelten die Mullahs vor Unverständnis ihre Wickelhauben.

Kurz darauf aber wurde der verantwortliche Einsatzleiter des Friseurteams entlassen. Wegen Übereifer soll er sich demnächst sogar vor Gericht verantworten müssen, der Taliban-Sportminister entschuldigte sich bei den pakistanischen Gästen. Und nun wurde auch noch bekannt, dass die Regierung in Kabul eine Wiederzulassung des Fernsehens erwägt. Seit zwei Jahren sind Besitz und Nutzung von TV- und Videogeräten verboten - da sie »die Moral verletzen« und »Geisteskrankheiten hervorrufen« würden. Wer trotzdem glotzt, kann sich gleich an die Wand stellen. Das soll künftig anders werden.

Was ist nur los bei den Irren mit der schnellen Schere? Wollen sie wirklich den Vorschlag eines Fernsehkritikers aufgreifen, der ihnen vor zwei Jahren in der Zeitschrift konkret nahe gelegt hatte, ein eigenes Lokalfernsehen aufzubauen, »das dem Propheten selbst in seinen grimmigsten Stunden ein Wohlgefallen sein könnte»?

Die Übermittlung der Nachricht von Hamburg nach Kabul scheint etwas länger gedauert zu haben. Es sei ein »gesunder Vorschlag«, das Medium zur Verbreitung der afghanischen Kultur und des Islam zu nutzen, erklärte nun Ende Juli der stellvertrende Informationsminister der Taliban-Regierung. Auch der »geistige Führer« des Landes, Mullah Mohammad Omar, werde das prüfen.

Ist der Einfluss der antideutschen Linken wirklich so groß? Oder ist das alles doch nur der Anfang vom Ende der Herrscher aus dem Mittelalter? Wird es bald eine »Plattform Soziale Gerechtigkeit« innerhalb der Taliban-Bewegung geben? Oder spaltet sich gar ein »Reformerflügel« ab? Wie verhalten sich dann die »Öko-Taliban« und die »Jutalis« genannte Jugendorganisation? Fragen über Fragen.

Klar ist nur, dass noch in diesem Jahr eine Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung zum Thema stattfinden wird: »Afghanistan nach dem Wiedereinschalten. Die Reformdynamik des Islamischen Staates«. Aus dem Bundesaußenministerium war zu erfahren, dass ein Staatsbesuch von Omar in diesem Jahr nicht mehr zu erwarten sei. Der »kritische Dialog« soll erst im nächsten Jahr wieder aufgenommen werden.