»Reality Run«

Schnitzeljagd digital

Gefährliche Orte CXV: Berlin als virtueller Spielplatz. Gejagt übers Internet, gestellt in der Staatsbibliothek. Ein Bericht über den »Reality Run«, der ein alter Hut ist.

Eine Aufsehen erregende Idee: 24 Tage lang sollte ein Mann in Berlin untertauchen und gejagt werden - rund um die Uhr im Internet. Schon die Ankündigung auf der Website von »Reality Run«, so der Name der interaktiven Schnitzeljagd, klang dramatisch: »Willst Du, dass ein Kopfgeld auf Dich ausgesetzt wird? Willst Du von der ganzen Welt gesucht werden? Willst Du trotzdem überleben?« 9 000 Leute bewarben sich um die Rolle des Reality Runners, einer - »Roger« genannt - wurde auserwählt und am 14. August im Grunewald ausgesetzt.

Von da an verfolgten die User übers Internet oder per Handy seine Aktivitäten in der Hauptstadt: Wie er über die Straße geht, sich ein Brötchen kauft und abends im so genannten Nest auf der Matratze sitzt. Und wie bei »Big Brother« hatte der Untergetauchte Aufgaben zu erfüllen. Eine pro Tag: »Kaufe 25 linke Schuhe« oder »Tausche 2 500 Dollar«. Stets gejagt und beobachtet von seinen surfenden Jägern. Im Chatroom tauschten sie Informationen über Aussehen und Aufenthaltsort des Runners aus. Immerhin waren 10 000 US-Dollar Kopfgeld versprochen für den, der Roger fängt. Schaffte es keiner, gehörte Roger das Geld.

Für den Erfinder, der sich bei Wolfgang Menges rund 30 Jahre altem TV-Klassiker »Millionenspiel« bediente, ein lohnender Einsatz: Der 29jährige Jurist Alexander Skora ist ein typischer Start-Up-Gründer, der mit einer richtigen Idee zur richtigen Zeit Geld macht. Über eine Million Pageviews und der Medienrummel um »Reality Run« versprechen seiner Firma Extra Mile AG ein großes Geschäft. Skora verdient nicht nur an der Bannerwerbung im Netz und den hohen Telefongebühren (3,63 Mark pro Minute), auch Fernsehsender interessieren sich für eine Umsetzung von »Reality Run«.

Immerhin stand nach Köln-Hürth, dem Aus- tragungsort von »Big Brother«, nun endlich mal die Hauptstadt im Mittelpunkt eines multimedialen Abenteuerspiels. Keine andere deutsche Stadt scheint für derartige Versteckspiele besser geeignet zu sein. Bis zur Wende gab es in der geteilten Stadt, dem Brennpunkt der Systemkonfrontation, Anlass genug, überall Geheimdienste zu vermuten. Die Geschichten von damals indes sind in der langweiligen Hauptstadt von neuen Verschwö-rungstheorien abgelöst worden - schließlich sind Russland und seine Mafia nahe.

Auch die Idee, aus Berlin einen interaktiven Spielplatz zu machen, ist nicht neu. Pixelpark-Mitbegründer Eku Wand brachte vor drei Jahren den Dokumentar-Thriller »Berlin-Connection« auf den Markt. Darin gerät ein britischer Fotograf 1989 bei einem Auftrag in Berlin ins Visier von Agenten, eine junge Frau verschwindet, der Mann muss untertauchen. Im Rahmen einer Internet-Fete wurde »Berlin-Connection« im letzten Jahr an realen Plätzen und virtuell im Internet fortgesetzt. Jeder war aufgerufen, geschichtliche Fragen zu beantworten, um des Rätsels Lösung zu finden. Mit der Originalität von »Berlin-Connection« hat »Reality Run« aber wenig gemein.

Die Internet-Kopfgeldjagd wollte sich von Anfang an spektakulärer platzieren: nicht die künstlerische Umsetzung zählte, sondern nur das Event. Skora tönte, anders als »Big Brother« könne er »echte Helden« präsentieren - also »keine Zlatkos«. Groß, blond, muskulös - so sieht Skoras rennender Held aus. Runner Roger hielt aber nicht lange durch, letzte Woche wurde er gestellt.

Fünf Stunden nach einem Interview mit dem stern ließ er sich im Lesesaal der Berliner Staatsbibliothek beim Bücherzählen erwischen. Es war seine Tagesaufgabe gewesen - was für eine Herausforderung für den 39jährigen Sportlehrer aus den Niederlanden, ein Extremsportler, der im April dieses Jahres am »Marathon des Sables« in der marokkanischen Sahara teilgenommen hat, eine Strecke von immerhin 230 Kilometern.

Ganz unauffällig stand er in einem grauen Anzug, eine verspiegelte Sonnenbrille auf dem Kopf, ein Blumenstrauß in der einen, das Handy in der anderen Hand vor dem Regal. Zunächst erkannten die Jäger Roger gar nicht unter den vielen BWL-Studenten und Jungmanagern, die gewöhnlich in der Stabi herumhängen. Eine Praktikantin der Bild-Zeitung, eigentlich ausgesandt, um eine Reportage über die Jäger zu schreiben, enttarnte »Roger«. Vielleicht dachte sie kurz nach über ihr mäßiges Praktikanten-Entgelt, vielleicht auch darüber, dass die ihr aufgetragene Story viel zu langweilig ist. Jedenfalls rief sie: »Er isses.« Und er war's. Und sagte: »Scheiße.« Und dann: »Oh, Mann. Das gibt's nicht. Hier. Also: gratuliere.« Und überreichte ihr bei dieser Gelegenheit gleich den Blumenstrauß, den er natürlich auch nur zufällig dabei hatte.

Ein schnelles Aus für Roger, der mit richtigem Namen Danny Verdam heißt und bis zu seiner jähen Enttarnung als ideale Besetzung für die Rolle des Reality Runners galt. Mit neun anderen Kandidaten war Verdam in die engere Auswahl gekommen, hatte sich erfolgreich medizinischen und psychologischen Tests gestellt und sich gegen seine Mitstreiter behauptet. Und damit er sich auch sicher sein konnte, dass er wirklich gewählt werden würde, hat er sich gleich zweimal beworben.

Eine Recherche des stern aber lässt vermuten, dass nicht nur Glück Roger den Job des Reality Runners bescherte. Verdam hatte außerdem Beziehungen. Ganz zufällig kennen sich »Reality Run»-Erfinder Skora und Verdam vom Extremlauf durch die Sahara, dem »Marathon des Sables 2000«. Und ganz zufällig trug Skora dort die Nummer 236, sein Bruder die 235 und Verdam die 234.

Schon bevor dies bekannt wurde, hatten sich die Jäger in den Chatrooms der Reality-Run-Site über das Spielchen beschwert. Geil auf den Abenteuer-Kick und die 10 000 US-Dollar Kopfgeld, mussten sie nämlich kräftig in die Tasche greifen. Für die Übertragung der Umgebungsgeräusche mussten die User eine 0190-Nummer anwählen. Kosten: 3,63 Mark pro Minute. Bei diesen Preisen hatten die zunächst so eifrigen User plötzlich keine Lust mehr, sich rauschenden Verkehrslärm und undeutliches Passantengebrabbel anzuhören. Die Wirklichkeit ist eben nicht immer ganz so spektakulär, wie die Freunde von Abenteuerspielchen sich das wünschen. »Euer Spielchen grenzt an Illegalität«, stand daraufhin im Chatboard. Ebenso ein Aufruf, künftig nicht mehr Roger, sondern Skora zu jagen.

Kein Wunder, dass die Veranstalter nur schwer zu erreichen sind. Ein Mitarbeiter der beauftragten Werbeagentur gibt zu, dass »da einiges wohl nicht ganz richtig gelaufen ist«. Aber man weiß nur soviel: Die Firma Extra Mile AG gebe es in Berlin nicht mehr, die Mitarbeiter seien jetzt alle in New York, und »da ist irgendwas in Planung - was Größeres«.

Epilog: Die Bild-Redaktion ist sauer, weil Rogers Tagebuch nun nicht mehr erscheinen kann und der Platz anders gefüllt werden muss. Die User stimmen aller Aufregung zum Trotz schon über den nächsten Austragungsort des »Reality Run« ab: Wien liegt weit vor Amsterdam und San Francisco.