Das deutsche Ich

Die Diskussion über eine flexibilisierte und ökonomisch regulierte Einwanderung löst eine Serie von Nationalismen aus.

Ein Satz wurde gestrichen. Diese Leerstelle, das Schicksal von fünf kurzen Worten, führt ins Zentrum der aktuellen Debatte über Einwanderung, die parteiübergreifend von Deutschland und seinem Ich handelt. »Das Boot ist nicht voll«, hatte der saarländische Ministerpräsident Peter Müller, der die CDU-Zuwanderungskommission leitet, in das »Eckwertepapier« seiner Partei zum Thema Einwanderung geschrieben. Ende letzter Woche wurde das Papier von Müller und dem CDU-Fraktionsvize Wolfgang Bosbach noch einmal überarbeitet. Der Satz flog raus. Dafür kam Friedrich Merz' Begriff der Leitkultur rein. Die Formulierung »Das Boot ist nicht voll« zeigt genau die Tendenz an, die mit der Green-Card-Diskussion manifest geworden ist - eine intensivierte Ökonomisierung des Rassismus und der Versuch, Migration mit Just-in-time-Logistik zu steuern.

Aber während institutionell von der Blue-Card-CSU bis zu den Grünen Einigkeit darüber besteht, Einwanderung nach ökonomischen Verwertungskritierien zu flexibilisieren, löste diese Entwicklung auf diskursiver Ebene eine ideologische Serie von Nationalismen aus. Die PDS-Parteivorsitzende Gabriele Zimmer (PDS) steuerte vor knapp zwei Wochen den Spruch »Ich liebe Deutschland« bei. Die grüne Parteivorsitzende Renate Künast verabschiedete sich ein paar Tage später vom Multikulturalismus-Begriff mit der Begründung, dass er genauso unscharf wie der der deutschen Leitkultur sei. Stattdessen bot sie eine Kultur des Verfassungspatriotismus an.

Der Begriff der deutschen Leitkultur, die Jörg Schönbohm schon 1998 in einem Interview in der Jungen Freiheit als »Voraussetzung für den inneren Frieden in Deutschland« bezeichnete, ermöglicht nun nationale Bekenntnisse bei PDS und Bündnis 90/Die Grünen. In beiden Parteien gab es zwar Kritik an den Äußerungen der Parteivorsitzenden, aber auch unüberhörbaren Applaus. Und damit war der diskursive Effekt gelungen. Die Schwelle war überschritten, und die Reformulierung des deutschen Nationalismus in Zeiten der Green-Card war eingeleitet. So sagte die PDS-Abgeordnete Maritta Böttcher: »Für mich ist Deutschland nicht nur das Land des Holocaust, sondern auch das Land der Dichter und Denker.«

Mit dem Zuwanderungsgesetz, das im nächsten Frühjahr debattiert werden soll, steht also eine neue Runde in der Diskussion um »uns und die anderen« an. Die bisherige Auseinandersetzung um den Begriff der Leitkultur zeigt, dass alle Beteiligten eine bedingungslose Assimilation an das erwarten, was als »deutsch« gelten soll. Dabei ist die inhaltliche Definition des Eigenen leer. Sie kann alternativ mit Goethe, Abendland oder Grundgesetz gefüllt werden. Ja, sie könnte auch mit der popkulturellen Rede von der Lässigkeit der neuen Mitte besetzt werden. Der eigentliche Inhalt ist die Definitionsmacht selbst, das Recht zu bestimmen, was das Eigene und was das Fremde ist, und dabei kulturelle Identität entlang ethnischer und nationaler Linien zu definieren.

Auch die Grünen haben nun begonnen, auf einer neuen Klaviatur der Identitätszuweisung zu spielen. Sie werden voraussichtlich am kommenden Mittwoch Eckpunkte für eine zukünftige Einwanderungspolitik vorstellen. Zu den AutorInnen des Papiers gehört neben der Fraktionsvorsitzenden Kerstin Müller, den Bundestagsabgeordneten Cem Özdemir und Claudia Roth auch die Parteivorsitzende Renate Künast. Als sie relativ plötzlich und vielleicht sogar relativ unüberlegt vom Konzept des Multikulturalismus zur Rhetorik des Verfassungspatriotismus überwechselte, begründete sie das mit der Notwendigkeit von Grundregeln des Zusammenlebens. Zur Integration gehörten die Beherrschung der deutschen Sprache, demokratische Prinzipien und die Gleichstellung von Mann und Frau.

Dass diese Abkehr vom Multikulturalismus nichts mit einer Kritik am positiven Rassismus dieses Konzepts zu tun hat, mit dem in den achtziger Jahren die Zuordnung von Ethnie und Identität kulturalistisch reformuliert wurde, sondern mit Ressentiment und der bedrohlichen Konstruktion des nicht deutsch sprechenden Fremden, bewies Renate Künast im Interview mit der taz: »Auch taz-Leser und Redakteure haben bestimmte Stadtbezirke verlassen und gesagt: Ich will nicht, dass mein Kind eine Schulklasse besucht, wo 80 Prozent der Kinder kein Deutsch sprechen.«

Im gleichen Gespräch präsentierte Künast die neue grüne Zuwanderungspolitik: »Wir müssen uns mit den Sorgen der Menschen auseinandersetzen, auf sie zugehen. Über Einwanderung zu reden heißt: über die Zukunft Deutschlands und Europas zu reden. Da ist viel zu besprechen: Gibt es Quoten? Gibt es Kriterienkataloge? Wie viele sollen kommen? Wer entscheidet das? Setzt sich die deutsche Wirtschaft alleine durch?« Anstatt alte grüne Forderungen nach einem gleichberechtigten Zusammenleben so genannter Kulturen oder die ganz praktische Forderung nach der Ausarbeitung eines Antidiskriminierungsgesetzes aufzunehmen, demonstrieren die Grünen nur noch ihre schamlose Offenheit für modernisierte Varianten rechter Diskurse.

Schon seit langem wird der Begriff der multikulturellen Gesellschaft als Leitbild der Integration auf eine folkloristische Phrase reduziert. Der einzige denkbare taktische Einsatz des Multikulturalismus-Konzepts, nämlich die homogene Nationalkultur der Deutschen zu dezentrieren und ihnen Regeln für ein nicht-identitäres, nicht-dominantes Verhalten in die Hand zu geben, wurde damit von Anfang an verspielt.

Nun wird der Begriff genau andersherum eingesetzt und somit aufgegeben: Nun sollen plötzlich nicht die Deutschen, sondern die EinwanderInnen beweisen, dass sie integrationswillig sind. Und inzwischen sind auch die Grünen bereit, klare Kriterien zu formulieren. Die Partei affirmiert die Basiskonzeption der von der Bundesregierung eingesetzten Zuwanderungskommission, das so genannte »Drei-Säulen-Modell«, das ein System flexibler Teilquoten darstellt. In der ersten Quote wird die wirtschaftliche Just-in-time-Zuwanderung festgelegt. Die zweite Quote reguliert die Einwanderung aus politischen und humanitären Gründen. Diese soll grundsätzlich zeitlich beschränkt sein und den Krisen-Flüchtlingen der neuen Weltordnung einen Aufenthalt von zwei, drei Jahren ermöglichen. Danach kommt automatisch die Abschiebung. Mit der dritten Quote werden politisches Asyl und Familiennachzug beziffert.

Dieses restriktiv flexibilisierte Modell löst das ab, was die Grünen jahrelang als Vision einer multikulturellen Gesellschaft vor sich her getragen haben. Vielleicht war sie aber auch nie anders gemeint, wies doch Daniel Cohn-Bendit schon in den achtziger Jahren darauf hin, dass es beim Multikulturalismus vor allem darum gehe, die deutsche Gesellschaft zu bereichern.

Die Zuwanderungspolitik der CDU/CSU unterscheidet sich vom Drei-Säulen-Modell der Regierungskommission hauptsächlich beim Punkt Asyl. Im bereits zitierten »Eckwertepapier« wird eine Debatte über das Recht auf Asyl eingefordert. Edmund Stoiber drängt darauf, explizit festzuschreiben, dass das individuelle Recht auf Asyl abgeschafft wird. Übrig bliebe eine rein formale institutionelle Garantie des politischen Asyls, die nicht mehr einklagbar wäre. Ansonsten betonte der Vorsitzende der CDU-Zuwanderungskommission, Saarlands Ministerpräsident Peter Müller, dass alle EinwanderInnen zur Teilnahme an einem umfassenden Eingliederungsprogramm verpflichtet werden sollen. In einem so genannten Integrationskurs stünden neben der deutschen Sprache auch die Rechtsordnung, die Geschichte sowie die Kultur Deutschlands auf dem Lehrplan.

Im CDU-Entwurf wird eine multikulturelle Gesellschaft ausdrücklich abgelehnt. »Dauerhaft und rechtmäßig in Deutschland lebende Ausländer sind zu integrieren. Dies setzt Integrationsbereitschaft auf beiden Seiten voraus.« Das ist natürlich als nur mühsam verhohlene Drohung der deutschen Leitkultur an diejenigen zu lesen, die sich mit dem deutschen Gemeinwesen nicht identifizieren wollen. So verlangte die CDU-Parteivorsitzende Angela Merkel, die Diskussion über Migration müsse in eine »Debatte über die Nation und das Vaterland« einmünden.

Hier zeigt sich das zentrale Problem der großen Koalition in Sachen Einwanderungs- und Integrationspolitik. Der CDU ist es mit der Debatte um die Leitkultur gelungen, die Diskurshegemonie zu gewinnen und die Diskussion in einem unerwartet schnellen Tempo parteiübergreifend zu nationalisieren. Die Christdemokraten gehen weiterhin von der Vorstellung einer homogenen, für alle verbindlich definierbaren und vor Verunreinigung durch fremde Elemente zu bewahrenden »nationalen Kultur« aus. Diesem völkischen Staats- und Nationenverständnis werden in der großen Koalition der Einwanderungspolitik noch ein paar modernisierte Varianten des Verfassungspatriotismus und der unverkrampften Gefühle fürs Heimatland zur Seite gestellt.

Das Resultat kennen alle Beteiligten, auch die post-multikulturalistischen Grünen: EinwanderInnen werden weiterhin systematisch zu »Bürgern zweiter Klasse« gemacht. Der institutionelle Rassismus katalysiert dabei den zunehmenden Rassismus auf der Straße. MigrantInnen haben Anforderungen zu erfüllen, die an andere nicht gestellt werden. Sie haben auch weiterhin ihre Existenzberechtigung in diesem Land erst noch zu beweisen. Am besten dadurch, dass sie - ganz im Sinne des verkürzten Multikulti-Exotismus - »uns« nützen und gleichzeitig subaltern bleiben.