Ein Volk steht auf

Ein Marsch durch Berlin soll Deutschland mit dem so genannten Anderen Deutschland versöhnen.

Zu diesem besonderen Anlass erinnerte sich die Bürgerin der Republik Freies Wendland noch einmal der Landessprache jenes rebellischen Gemeinwesens: Sie sei froh, erklärte Renate Künast den staunenden Pressevertretern, »dass man für diese Demo ein breites Bündnis zustandebekommen« habe.

War es noch einmal gelungen, die Bio-Bauern von der Bürgerinitiative gemeinsam mit dem KBW und den Spontis auf die Straße zu bringen? Nein, diese Geschichte spielt im Jahr 2000, und Frau Künast hatte besonderen Anlass zur Freude, »dass sich nun auch Herr Stoiber zu bewegen scheint« und nach einigem Zögern doch noch als Erstunterzeichner des Aufrufs zur Demonstration »Wir stehen auf für Menschlichkeit und Toleranz« zu haben war.

Auch Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen ließ schließlich seinen Sprecher mitteilen, an der »Demonstration gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit« werde er teilnehmen, denn der Aufruf sei »ein Appell zur Beachtung der Menschenwürde, der Rechtsstaatlichkeit, der Gleichheit und Toleranz«.

Ebenfalls zu den Erstunterzeichnern des Demo-Aufrufs zählen Stoibers Berliner Kettenhund Michael Glos, Leitkultur-Kämpfer Friedrich Merz und seine Parteivorsitzende Angela Merkel, Abschiebe-Chef Otto Schily sowie natürlich Fußball-Kaiser Franz Beckenbauer: »Ich unterstütze die Demonstration, weil gerade der Fußball ohne interessante Zusammensetzung und Integration von Ausländern nicht denkbar ist.«

Direkte Links von ihren Webseiten zur Seite mit dem einprägsamen Titel www.wir-stehen-auf-fuer-menschlichkeit-und-toleranz.de haben neben vielen anderen die Bundesregierung, alle großen Parteien und der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge geschaltet. Hätten Sie übrigens erwartet, von www.matratzendiscount.de direkt zur Demo gegen Rechts weitergeleitet zu werden?

Ein linker Traum wird wahr: Bürger, lasst das Glotzen sein, kommt herunter, reiht euch ein! Die Ausländer und die Juden, die Immigrantenkids und die Linken können aufatmen: »Wir stehen ein für ein menschliches, weltoffenes und tolerantes Deutschland«, heißt es in dem Aufruf, »für das friedliche Zusammenleben aller Menschen in diesem Land, ungeachtet ihrer Weltanschauung, Religion, Kultur oder Hautfarbe.«

Sieh mal einer an, der Stoiber, das hätte keiner von ihm gedacht: »Wir verurteilen Hass, Gewalt, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit. Wir dulden keinen Antisemitismus (...). Wir stehen zusammen gegen das Wegschauen und die Gleichgültigkeit. Wir wollen ein Land, in dem kein Mensch Angst haben muss vor Verfolgung und Gewalt.«

Keiner? Wenn Schily und Glos den Aufruf unterzeichnen können, dann kann das nur heißen, dass die Asylbewerber in Deutschland, dass die 500 000 bis 1,5 Millionen so genannten Illegalen nicht als Menschen im Sinne der Aufrufer gelten. Sonst müssten doch, würde man meinen, die Unterzeichner aus Regierung und Opposition zunächst einmal alles in ihrer Macht Stehende tun, um sicherzustellen, dass auch diese Personengruppen »keine Angst haben müssen vor Verfolgung und Gewalt«. Wer, wenn nicht sie, wäre dazu in der Lage?

Das ist natürlich eine böswillige Unterstellung. Selbstverständlich hält jeder der Unterzeichner des Aufrufs zu der so genannten Demo auch einen abgelehnten nigerianischen Asylbewerber für einen Menschen. Die, die das nicht tun - und das sind nicht wenige -, haben einfach nicht unterzeichnet. Und ebenso selbstverständlich sind alle empört, wenn ein algerischer Flüchtling von brandenburgischen Nazis erschlagen wird.

Etwas anders liegt der Fall, wenn dieser dreckige Job von algerischen Fundamentalisten oder so genannten Sicherheitskräften erledigt wird. »Die Würde des Menschen ist unantastbar«, steht zwar im Grundgesetz und im Demo-Aufruf, und eine Voraussetzung für ein Leben in Würde, möchte man meinen, ist doch, dass einer überhaupt lebt.

Aber die Geltung des Grundgesetzes erstreckt sich lediglich auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Was anderswo geschieht, unterliegt der dortigen Gesetzgebung, egal ob der oder die Massakrierte vorher Schutz im Namen und im Geltungsbereich des Grundgesetzes gesucht hat. Da bleibt man ganz Anhänger der multikulturellen Gesellschaft, von der sich zuletzt auch die grüne Partei verabschiedet hat: Wenn die Ausländer sich gegenseitig umbringen wollen, dann ist das ihre Angelegenheit - zumindest, solange sie es im Ausland tun, denn hierzulande heißt das Ausländerkriminalität und führt zur sofortigen Abschaffung des Asylrechts. Und hier sollen sie sich bitte auch nicht umbringen lassen. Dafür stehen wir auf.

Wer bislang in Berlin bei seinem Arbeitgeber um Sonderurlaub zum Besuch einer antifaschistischen Demo anfragte, der riskierte, in Zukunft alle Zeit der Welt zu haben, um sich ganz der Arbeit gegen Rechts widmen zu können. Jetzt geben Großunternehmen - Siemens, Schering, die Deutsche Bahn - ihren Angestellten frei, damit sie zur Großdemonstration gehen können. Führende Industrievertreter freuen sich über die kostenlose Imagewerbung.

Ausgerechnet am 9. November, diesem »Datum deutscher Geschichte im Guten wie im Bösen« (Demo-Aufruf) wollen die Initiatoren zum Wohle der Nation und ihrer Handelsbilanz »ein Zeichen setzen mit einer großen Demonstration«. Das Datum wird einen Abschluss bilden im doppelten Sinne: Es wird den Schlusspunkt setzen nach einem Sommer, in dem das Thema der rassistischen und antisemitischen Gewalt zu dem gemacht wurde, was es nur wegen seiner sonstigen Marginalität werden konnte - zum Sommerloch-Thema nämlich.

Vor allem aber wird es eine Zäsur markieren in der Geschichte des deutschen Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Wenn nichtjüdische und jüdische Deutsche gemeinsam miteinander und mit Nichtdeutschen am Jahrestag der Reichspogromnacht durch Berlin marschieren können, ist das nicht »ein Stück weit auch Ausdruck einer Normalisierung« (voraussichtlich Bundeskanzler Schröder am Abend des 9. November im Gespräch mit Ulrich Wickert)?

Kaum einem Beobachter wird auffallen, dass es auch Ausdruck einer Verzweiflung an den deutschen Verhältnissen ist, wenn Paul Spiegel, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, als Hauptredner einer solchen rein symbolischen Veranstaltung auftritt. Denn das tatsächlich drängende Anliegen, gegen alle Erscheinungsformen des Antisemitismus und Rassimus vorzugehen - auch gegen diejenigen, die von einigen der Mitdemonstrierenden vertreten werden -, wird über der eigentlichen Zweckbestimmung der Veranstaltung beinahe restlos verloren gehen.

Dieser Zweck besteht in der Selbstversicherung des so genannten Anderen Deutschland, das so wenig »anders« ist, dass es gut als das eigentliche Deutschland durchgehen kann. Längst sind Sätze, wie sie im Demo-Aufruf stehen, zur Phraseologie einer Mehrheitsgesellschaft geworden, die sich an 364 Tagen im Jahr in engagiertem Wegsehen übt: »Wir sind nicht allein. Unsere stärksten Waffen sind Mut zur Zivilcourage und Entschlossenheit.«

Auf den Zweck einer Selbstdefinition der deutschen Nation »im Guten wie im Bösen« ist auch die Demo-Regie perfekt abgestimmt. Um 16 Uhr 30 geht es los an der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße. Der Ort ist auf vielfältige Weise mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung verflochten. Die Reichsprogromnacht überstand er vergleichsweise glimpflich, denn die Nazis interessierten sich für die Akten, die unter dem Dach lagerten: das Gesamtarchiv der deutschen Juden, das in den Jahren nach 1938 zu denjenigen Unterlagen zählen sollte, auf die sich die nationalsozialistische Vernichtungspolitik stützte. Bis zur Deportation der letzten Angestellten Anfang 1943 befand sich hier auch der Sitz der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.

Nach einer kurzen Gedenkstunde geht es von hier aus weiter, vorbei am Bahnhof Friedrichstraße, dem Sinnbild der deutschen Teilung, zum Brandenburger Tor, dem Emblem der Wiederveinigung: Nationale Symbolik gegen Nazis, lautet das Rezept der Veranstalter. Der Marsch soll mehr oder weniger schweigend stattfinden, am Wahrzeichen der Nation angekommen, werden Spiegel und Bundespräsident Johannes Rau ihre Redebeiträge halten. Hier gibt es dann auch »zwei kurze Musikstücke« und Videoprojektionen. Es ist vollbracht, nun darf man sich - in aller Demut - still freuen. Es zahlt sich eben doch aus, wenn es in den verantwortlichen Positionen Leute mit Demo-Erfahrung gibt.