Marsch der Anständigen am heimlichen Nationalfeiertag

Ein Donnerstag im November

Am heimlichen deutschen Nationalfeiertag unterwegs in Berlin: eine Massendemonstration und andere Unheimlichkeiten.

No pasarán - sie werden nicht durchkommen. Zumindest nicht, wenn sie mit dem Auto fahren. Dieser Hauptstadtverkehr ist wirklich schlimm. Es ist noch nicht einmal neun Uhr in der Frühe und schon gibt es wieder einen Stau. Aber heute ist der 9. November, der Jahrestag des deutschen Sturms auf die Feldherrenhalle, auf die Synagogen, auf die jüdischen Geschäfte und Wohnungen, auf den antifaschistischen Schutzwall. Deswegen ärgert es mich heute nicht. Denn Stau bedeutet: No pasarán! Solange sie mit dem Auto kommen.

Sie - das sind die Anständigen, die Mehrheit, wie sie behaupten. Weil 9. November ist, wollen sie mal wieder auf die Straße stürmen. In guter Tradition. Diese Vorstellung verdirbt einem schon früh am Morgen die Laune.

Aber es kommt noch schlimmer: Denn es ist Donnerstag. 9. November zwar, aber trotzdem Donnerstag. Und am Donnerstag, da kann man was erleben. Wenn man früh aufsteht und sich durch den Stau zum Otto-Suhr-Institut der Freien Universität kämpft. Da doziert der Apo-Veteran Siegward Lönnendonker in einem Grundstudiumskurs über den Antisemitismus der Linken. Unter anderem sollen hier die Auffassungen des einstigen Apo-Kämpfers und heutigen NPD-Mitglieds Horst Mahler »nachgezeichnet« werden, so verspricht das Vorlesungsverzeichnis. Aber heute ist natürlich alles anders. Denn es ist der 9. November. Donnerstag zwar, aber trotzdem der 9. November.

Nicht unbedingt der Tag, an dem über Antisemitismus geredet werden sollte, findet Lönnendonker offenbar, und deswegen spricht er mit den jüngeren Semestern lieber über etwas Aktuelles: die deutsche Leitkultur. Vielleicht, so findet der frühere Apo-Mann, der schon Ende der siebziger Jahre die »nationale Frage« von links angehen wollte, »können wir Leitkultur ja positiv besetzen«. Aber außer einem rechten FDPler mag das niemand finden. Und der hatte zum 18. Geburtstag mit seinem Großvater noch aufs Preußische Reich angestoßen und die Leitkultur interessanterweise daran festmacht, dass ja jeder Bundeswehrsoldat einen Eid auf die Verfassung ablege.

Thema verfehlt, Dr. Lönnendonker - muss man nach anderthalb Stunden leidigen Gefasels konstatieren. Aber der Mann, der in einer Lankwitzer Außenstelle der Freien Universität über das Archiv »Apo und soziale Bewegungen« wacht, ist ja hier niemandem rechenschaftspflichtig. Nicht am 9. November und auch sonst nicht. Das gleiche gilt für seinen Kollegen und Mitstreiter Bernd Rabehl. Auch er doziert am Otto-Suhr-Institut. Sein Thema: Die Soziologie des Verrats - oder, wie man es als deutsch-nationaler Hochschulprofessor nicht besser ausdrücken kann, der »Denunziation«. Jeden Donnerstag von zehn bis zwölf, warum also nicht auch am 9. November.

Der bekennende Nationalrevolutionär und Antiamerikanist, den die »drohende Überfremdung« sorgt, muss zwar gleich zu Beginn der Sitzung zugeben, dass ihm eine wissenschaftliche Klärung des Begriffs Verrat bisher gar nicht gelungen ist. Für nette Anekdoten aus der Nazi-Zeit bleibt dennoch Raum. Das Gute ist nun mal deutsch: Im Gegensatz zu Stalin waren die Größen des Nazi-Reichs angeblich erschreckt vom Ausmaß der Schuldzuweisungen aus der Bevölkerung. Die deutsche Gesellschaft drohte gar daran kaputt zu gehen. Aber zum Glück haben die Nazis das ja verhindert. Vielen Dank für diesen Hinweis, Prof. Dr. Rabehl!

Während man im Westteil der Stadt auf diese Art und Weise den 9. November begeht, erlebt der Osten seine eigene traditionelle Art, diesen Tag ahistorisch zu verarbeiten. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man glatt meinen, die DDR hätte den Mauerfall vor elf Jahren doch überlebt. Hier präsentiert sich das nicht-nazistische Deutschland - bis 1989 in Abgrenzung zur BRD, heute in Abgrenzung zur NPD, zu »national befreiten Zonen« und teilweise auch zur CDU. Deren Kampfparole von der deutschen Leitkultur, am Vormittag noch beinahe von Lönnendonker positiv besetzt, wird hier vielfach negativ gewürdigt - als »Lightkultur« oder »Leidkultur«.

Noch ist der 9. November zwar nicht zum nationalen Feiertag erhoben, wie Außenminister Joseph Fischer es bereits fordert, aber inoffiziell ist es fast schon so weit. Die Berliner dürfen heute teilweise ihren Arbeitsplatz schon früher verlassen, damit sie unter dem Motto »Wir stehen auf« auf die Straße gehen können. Nicht Ruhe, sondern gespielte Toleranz ist heutzutage erste Bürgerpflicht im deutschen Staat.

Die Parolen gleichen denen, die bis 1989 in Berlins Mitte zu hören waren. »Völkerfreundschaft« und »internationale Solidarität« werden beschworen. Nicht der »neue Mensch« des Realsozialismus, wohl aber der »neue Deutsche« der Berliner Republik möchte man sein. Ohne belastende Vergangenheit, ohne Verantwortung, ohne Scham, endlich mal alles zu sagen - indem man sich von der Westausgabe der bekennenden Nazi-Variante abgrenzt.

Die Fahrzeugflotte, mit der die Wichtigsten angereist sind, lässt zwar erahnen, dass die DDR nicht überlebt hat. Der Umgang mit zu kritischen Demonstranten ist aber durchaus des Regierungsbezirks Mitte würdig. Ein Transparent mit der Aufschrift »Nazis morden, der Staat schiebt ab. Deutschland, halt's Maul« wird von ziviler Gesellschaft und ziviler Polizei entfernt, genauso eine Diaprojektion »Hier marschieren Heuchler, Mörder und geistige Brandstifter«. Der Unterschied zu früher: Es gibt kein echtes Westfernsehen mehr, das aufgeregt über die Einzelheiten berichtet.

Schon am frühen Nachmittag konnte man sich nahe der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße davon überzeugen, dass die Zivilgesellschaft auch über genügend Zivilpolizei verfügt. Hier zählt nicht das gute Gewissen, hier zählt nur der Knopf im Ohr und die eigene Bedeutung im Großeinsatz. Laut scherzend und mit möglichst bösen Blicken die Schaulustigen fixierend, zeigen die Ununiformierten Präsenz. Gelassener gibt sich das private Sicherheitspersonal der Synagoge. Unauffällig überblicken sie die Situation, für die Zivis haben sie nicht mehr übrig als ein Naserümpfen, dann ist ihr Blick wieder so eisern, dass sie ohne Probleme eine Rolle von Silvester Stallone oder Arnold Schwarzenegger übernehmen könnten.

Und quod erat demonstrandum: Sobald das erste Volk eintrudelt, wird es unangenehm. Im Bewusstsein, die Guten zu sein, wollen einige gar nicht einsehen, dass die Veranstaltung in der Neuen Synagoge für sie tabu ist. An den Absperrungen, wo zwischen geladenen und unerwünschten Gästen unterschieden wird, empören sie sich. Die geladenen Gemeindemitglieder betreten die Synagoge durch den Hintereingang in der Auguststraße, routiniert wie immer. Die Sicherheitskontrollen sind für sie ja seit Jahren selbstverständlich - und wie zahlreiche Übergriffe zeigen - auch notwendig.