»Saga« von Tobias Hülswitt

Götter mit Diplom

Tobias Hülswitt ist angehender Schriftsteller. In seinem Buch »Saga« montiert und demontiert er seine Jugenderinnerungen.

Stellen Sie sich vor, Sie erinnerten sich an Ereignisse, an die Sie sich nicht erinnern. Bilden Sie einen kurzen Satz. Sitzen Sie gerade, ja, gerade. Wählen Sie eins Ihrer Taschentücher aus und putzen Sie sich damit die Nase«, so heißt es in einem mit »Test« überschriebenen Text des Deutschen Literaturinstituts in Leipzig. Hier werden junge Menschen in sechs Semestern zum Diplomschriftsteller ausgebildet.

Einer von ihnen ist Tobias Hülswitt. Er ist erst 27 Jahre alt und hat bereits Schwierigkeiten, sich an seine Jugend zu erinnern oder sich eine andere vorzustellen. Deshalb hat er die Geschichten seines Lebens aufgeschrieben. »Saga« heißt das Buch, das gerade bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist. Saga bedeutet soviel wie »Gesagtes«, Sagen sind demnach auf mündlicher Überlieferung beruhende Erzählungen. Und tatsächlich wirken viele von Hülswitts Geschichten so, als hätte er sie einem guten Freund erzählt und dabei ein Tonband laufen lassen.

Hülswitt ist mit dem ICE von Leipzig nach Berlin gefahren, um seine Freundin zu besuchen. In dem italienischen Restaurant in Berlin-Kreuzberg bestellt er nur einen Kaffee. Seit drei Jahren, so erzählt er, studiert er am Leipziger Literaturinstitut und steht kurz vor dem Abschluss. Einige der Geschichten aus »Saga« hat er als Seminararbeiten eingereicht. Aber nicht alles, was die Studenten in ihrer Freizeit schreiben, lässt sich im Studium verwerten, schließlich müssen sie auch einige literaturwissenschaftliche Themen abdecken. Theorie und Praxis werden gleichermaßen vermittelt. Und die Kurse, die am Institut angeboten werden, heißen zum Beispiel »Der literarische Ausfall« oder »Amerikanische Literatur der Gegenwart« und könnten auch auf Germanistik- oder Anglistik-Veranstaltungen hinweisen, wenn die Gastdozenten nicht der Autor Marcel Beyer oder der Lektor Martin Hielscher wären.

Derzeit gibt es am Literaturinstitut Leipzig etwa 70 Studenten, jedes Jahr bewerben sich mehr als hundert Nachwuchskräfte um einen Studienplatz, aber die wenigsten bestehen die Eignungsprüfung. Die Bewerber müssen »über entwicklungsfähige literarische Potenzen verfügen«, wie es auf der Homepage heißt. Wer Talent hat, bekommt hier das nötige Handwerk geliefert. Dass das Konzept zum Erfolg führen kann, beweist der Open-Mike-Wettbewerb der Literaturwerkstatt in Berlin: Einige - fünf von 24 - der in diesem Jahr ausgewählten Autoren studieren am Literaturinstitut, und eine Studentin, Claudia Klischat, wurde sogar ausgezeichnet.

Auch Hülswitt hat schon am Open Mike teilgenommen und einen Preis gewonnen. Früher seien Schriftsteller für ihn wie »Götter« gewesen, vor denen er Angst hatte. Jetzt ist er selber Autor und ständig umgeben von Autoren. In Leipzig wohnt er mit Anke Stelling zusammen, die im letzten Jahr den Roman »Gisela« veröffentlichte. Hülswitt findet es nicht schlecht, dass immer mehr Menschen schreiben. Das sei eine große Erleichterung für alle und »kein Privileg einiger Intellektueller« mehr.

Anders als »Generation Golf« von Florian Illies handelt »Saga« nicht von den kollektiven Erlebnissen einer Generation, die nicht erwachsen werden will, die Erinnerungen beziehen sich auf ganz persönliche Sphären, die Familie, die Freunde, die unmittelbare Umgebung. An einer Stelle wünscht sich der Ich-Erzähler, manches noch einmal zu erleben, nur um »die Vorgänge von damals genau zu verstehen«. Das Buch hat er geschrieben, um sich einerseits nicht vom Schmerz der Erinnerungen paralysieren zu lassen und sich zugleich »gegen die Suggestion zu wehren, dass die Jugend die schönste Zeit seines Lebens« gewesen sei. »Das war sie aber nicht«, sagt Tobias Hülswitt. Auch sich selbst sieht er ganz lakonisch-nüchtern. »Man sieht so viele Arschlöcher, und dann merkt man, dass man auch ein Arschloch ist.«

Das erste Kapitel, in dem der Ich-Erzähler an einem Zen-Seminar in Belgien teilnimmt, lässt sich als eine Art Bedienungsanleitung für Leser verstehen, sich auf den Text und seine kreisende Erzählweise einzulassen. Der Godo, der Meister, lehrt, sich hinzugeben und nicht zu verkrampfen, und er lehrt auch, dass Gedanken wie Wolken sind, die vorüberziehen. »Meine ziehen nicht vorüber«, schreibt Hülswitt. »Sie sammeln sich und fangen an zu regnen, so sehr, dass ich glaube, sie regnen alles aus, was mir jemals im Leben begegnet ist.« Begegnet ist ihm z.B. seine Mutter, als er einmal betrunken nach Hause kommt, und sein Bruder Franzl, der gar nicht sein Bruder ist, oder Nadine. Die hat zwar ein »kleines hässliches Gesicht«, aber die »größten Titten«. Er trampt mit Iren, die immer rechts überholen, durch Deutschland. In Kneipen trifft er alte Freunde, ohne dass sich ein vertrautes Gefühl einstellen will. Er denkt an die, die es geschafft haben, erwachsen zu werden, an die, die sich umgebracht haben, denkt er auch.

Was Hülswitt in diesen unzähligen Anekdoten des Alltags beschreibt, ist eine Jugend zwischen Landau und Leipzig, Geschichten ohne Plot, ohne Anfang und Ende. Manchmal scheint es, als könne der rastlose Ich-Erzähler keinen klaren Gedanken fassen, springe von einem Thema zum anderen, aber dann gibt es wiederum Szenen, in denen er verzweifelt nach den richtigen Worten sucht, als biete allein die richtige Benennung Halt in einer aus den Fugen geratenen Welt. Die Geschichte des jungen Mannes, der das Vergangene bewahren will, um »die Dinge nun im Griff« zu haben, sei »sehr nah am realen Geschehen« orientiert, wie Tobias Hülswitt sagt. Mit einem Freund habe er alle Passagen noch einmal durchgesprochen, damit er den Text um eigene Erinnerungen ergänzt. Erst kurz vor Abgabe des Manuskriptes habe Hülswitt die Originalnamen durch fiktive ersetzt, und jetzt hofft er, dass sich niemand kompromittiert fühle.

Tobias Hülswitt: »Saga«. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000, 150 S., DM 14,90