Sandrine Veyssets »Victor«

Familienanschluss

Eine Frau, sieben Kinder, vier Jahreszeiten, ein ärmlicher Hof in der Provence. Der Vater der Kinder ein reicher Bauer, der woanders seine offizielle Familie hat und alle zusammen zu harter Arbeit auf dem Land antreibt - das war »Gibt es Weihnachten Schnee«, Sandrine Veyssets fulminantes Regiedebüt von 1996. Trotz seines Realismus ein filmisches Märchen, das sich ungewöhlicher Distanzierungsverfahren bediente. Die Mutter und ihre Kinder - eine zarte blonde Fee und ihre Elfen - passten so gar nicht in das mediterrane Dekor. Gerade diese Verschiebung machte aber das schwere Leben besonders anschaulich.

Ihrem Film über das Gefängnis Familie lässt Veysset mit »Victor« die Geschichte einer Flucht folgen. Der zehnjährige Victor läuft von zu Hause weg und landet bei der Prostituierten Trish. Natürlich ist damit noch nicht viel über den Film gesagt: nichts darüber, wie er Urverletzungen schildert, ohne diese abschließend erklären zu wollen; nichts darüber, wie er in undramatischen Sprüngen einen Erzählparcours durchläuft; und auch nichts über die Angst, die man um Victor ständig hat; auch davor, dass er eine katastrophale Dummheit anstellen könnte, die die filigrane Harmonie seiner Beziehung zu Trish zerstören könnte; nichts über seine Albträume; nichts über die Geräusche, die in der Stille so laut, so groß werden; und nichts über die dunklen, engen Räume und das warme Licht darin.

Gegen Ende des Films schneit es. Die Szene wirkt nicht realer als die bedrohlichen Traumsequenzen, aber ihr Modus ist ein anderer. Diese Szene handelt von naivem Glück. Und ganz am Schluss, wenn eine Miniaturnachbildung des Wohnmobils, in dem Trishs Liebhaber, der Karussellbremser Mick, mit seiner Mutter lebt, durch eine winterlich weiße Pappmaché-Landschaft fährt, wird die Idee der Wahlverwandtschaften modellhaft vorgeführt. Es ist ein artifizielles Bild, das von einer anderen Familie, von einer selbst gewählten Gemeinschaft, spricht.

Das Kino ist seit je ein Fundus für Wahlverwandtschaften, es produziert Idole und ist deshalb schon immer ein wichtiger Lieferant von Wunsch-Eltern und -Geschwistern oder von Traum-Geliebten gewesen. Dieser Gedanke findet sich auch im Vorwort des gerade erschienenen Buches »Von der Welt ins Bild«, das ausgewählte Aufsätze des französischen Filmkritikers Serge Daney versammelt. Über den 1993 verstorbenen französischen Kritiker und dessen Tagebuch schreibt Christa Blüminger: »Daneys posthum erschienene Tagebuchnotizen beginnen mit einer bezeichnenden Aufzählung: John Powell, John Mohune, Michel Gérard, Edmund Koeler und Antoine Doinel: fünf Kinder (...), die ðin einigen großen Filmen der fünfziger Jahre eine Zelluloid-Existenz führtenÐ. Ihnen gemeinsam ist, dass sie allesamt Verlassene sind. Und an anderer Stelle notiert der Halbwaise Daney, der seinen von den Nazis verfolgten und vermutlich in den Lagern umgekommenen Vater nie kennen gelernt hat, zu ðThe Night of the HunterÐ - dem ðschönsten amerikanischen Film der WeltÐ - das Bedauern, nicht gekidnappt worden zu sein oder geraubt, nicht von einem Mann auf wundersame Weise ðgestohlenÐ worden zu sein, von einem Vater - ðmeinem Vater, der aus dem Kino zurückgekommen wäre, um mich zu holenЫ.

Von diesen Möglichkeiten des Kinos handelt Sandrine Veyssets »Victor«. Auch sie wendet die Methode an, mit Kindern und über sie Geschichten für Erwachsene zu erzählen.

»Victor«, F 1999. R: Sandrine Veysset. Im Berliner FSK noch bis zum 27. Dezember