Gramscis »Gefängnishefte«

Pessimismus des Verstands

»Fordismus«, »Zivilgesellschaft«, »Hegemonie« - Antonio Gramsci prägte das Vokabular der Linken. Seine »Gefängnishefte« liegen nun komplett in einer deutschen Übersetzung vor.

Ein Buch, ein neunbändiges Werk sogar, das eine Warnung wie die folgende enthält, muss man loben: »Die in diesem Heft enthaltenen Notizen sind, wie in den anderen, mit fliegender Feder geschrieben, um eine rasche Gedächtnisstütze aufzuzeichnen. Sie sind alle genauestens durchzusehen und zu überprüfen, weil sie bestimmt Ungenauigkeiten, falsche Annäherungen, Anachronismen enthalten. Geschrieben, ohne die Bücher, auf die Bezug genommen wird, bei der Hand zu haben, ist es möglich, daß sie nach der Kontrolle radikal korrigiert werden müssen, weil sich gerade das Gegenteil des Geschriebenen als wahr herausstellen könnte.«

Schon die Form der gerade abgeschlossenen neunbändigen deutschsprachigen Ausgabe der »Gefängnishefte« des Philosophen und Mitbegründers der italienischen Kommunistischen Partei deutet an, dass dieses Werk, ein Klassiker der sozialwissenschaftlichen Literatur, keine leichte Lektüre ist, dass es sich gegen eine Darstellung in Schaubildern ebenso sperrt wie gegen eine lexikalische Zusammenfassung und dass die »Gefängnishefte« folglich ein stetes Angebot von Missverständnissen sind.

Das Lesen, lehrt Gramsci en passant, ist eine schwierige Sache. Und das gilt nicht nur für seine eigenen verwirrend umfänglichen und bewundernswert geistreichen Exzerpte und Notizen. Gramsci bezieht diese Problematik auch auf andere Autoren. »Wenn man eine Weltauffassung studieren will, die vom Autor-Denker niemals systematisch dargelegt worden ist, muß man eine minutiöse Arbeit verrichten, die mit größter Gewissenhaftigkeit hinsichtlich Exaktheit und wissenschaftlicher Redlichkeit durchzuführen ist. Es gilt, zuallererst den intellektuellen Entwicklungsprozeß des Denkers zu verfolgen, um ihn gemäß den stabil und dauerhaft gewordenen Elementen zu rekonstruieren, also denen, die vom Autor wirklich als eigenes Denken angenommen worden sind, unterschieden von und übergeordnet dem zuvor studierten ðMaterialÐ, für das er zu bestimmten Zeiten Sympathie empfunden haben mag, bis hin zur vorläufigen Akzeptanz und zur Benutzung bei seiner kritischen Arbeit der historischen oder der wissenschaftlichen Rekonstruktion. Dieser Hinweis ist gerade dann wesentlich, wenn es sich um einen nichtsystematischen Denker handelt, wenn es sich um eine Persönlichkeit handelt, bei der theoretisches Wirken und praktisches Wirken unlöslich miteinander verflochten sind, um einen Intellekt, der darum in ständiger Kreation und in ständiger Bewegung begriffen ist.«

Das schrieb Gramsci über Marx. Und nun kann jeder nachlesen, wie wenig auch Gramsci als Lieferant eines geschlossenen Ideologiekonstrukts taugt. Gramscis Welt ist nämlich kompliziert. Gramsci verfasste seine »Gefängnishefte« zwischen 1926 und 1935, als ihn die italienischen Faschisten in den Kerker sperrten, denn, so formulierte es 1928 der Gramscis Verurteilung betreibende Staatsanwalt: »Für zwanzig Jahre müssen wir verhindern, dass dieses Gehirn funktioniert.« Die Angst der faschistischen Organe vor dem schmächtigen Philosophen war derart groß, dass sie ihm erst 1929, also drei Jahre nach seiner Inhaftierung bzw. ein Jahr nach der Verurteilung wegen »Anstiftung zum Bürgerkrieg«, erlaubten, in seiner Zelle zu schreiben.

Der körperlich schwache Mann, 1891 als Kind eines sardischen Provinzbeamten geboren, las in den Gefängnissen, in die er gebracht wurde, beinahe täglich ein Buch, wobei er nicht immer die Literatur erhielt, die er benötigte. Er machte seine Notizen dazu in seinen Heften, er überarbeitete die Notizen oft, um sie leidlich zu systematisieren, aber letztlich gelang ihm dies nicht. Es waren die äußeren Umstände, die ihn daran hinderten - die Krankheit, die Schikanen, die Abgeschiedenheit von den Diskussionen seiner Genossen. In der Freiheit konnte er das Material nicht mehr bearbeiten, denn nur wenige Tage nach seiner Entlassung im April 1937 starb Gramsci an den Folgen der Haft.

Doch es waren selbstverständlich auch immanente Umstände, die verhinderten, dass Gramsci eine systematisch gegliederte eigene »Philosophie der Praxis«, wie er den Marxismus verstand, vorgelegt hätte; seine Themenvielfalt, seine Fähigkeit, verschiedene und zum Teil disparate Aspekte miteinander zu verknüpfen und sein Interesse an einer großen Menge an Themen und Autoren ließen so etwas nicht zu.

Was Gramsci Marx bescheinigt, er sei ein »nichtsystematischer Denker« gewesen, lässt sich mit noch größerem Recht auf Gramsci selbst anwenden. Es gilt also, »zuallererst den intellektuellen Entwicklungsprozeß des Denkers zu verfolgen«. Sein Arbeitsplan sah - wie es in der Sprache der Übersetzer heißt, die sich ihrerseits, wofür es gute Gründe gibt, für meist holprige, dafür aber nah am Original sich bewegende Formulierungen entschieden haben - die »Herausbildung und Entwicklung der intellektuellen Gruppen« vor, die »Theorie und Geschichte der Historiographie« und den »Amerikanismus und Fordismus«.

Das klingt noch leidlich systematisch, wenngleich sich aus diesen Punkten noch nicht erschließt, was Gramsci eigentlich zum Klassiker macht. Aber aus der angedeuteten Gliederung wurde keine. Gramsci schrieb vor allem kleine »Miszellen«, Kurzeinträge aus Exzerpten, aus schnell und zum Teil flüchtig fixierten Ideen, Aufforderungen an sich selbst, eine Information oder einen Gedanken bei einem Autor noch einmal zu überprüfen.

»Miszellen« ist der Titel, den Gramsci selbst wählte, wenn partout keine Ordnung in seinen Notizenwust zu bringen war. Um Miszellen handelt es sich aber auch, wenn Gramsci größere Themen behandelt und die entsprechenden Manuskripte zusammengefügt und mit Überschriften versehen hat: »Notizen zur Philosophie« (Bd. 3, Bd. 4, Bd. 5) etwa oder »Anmerkungen zum italienischen Risorgimento« (Bd. 5, zum Teil auch in Bd.8), »Anmerkungen zur Politik Machiavellis« (Bd. 7, zum Teil auch in Bd. 8), »Aufzeichnungen und verstreute Notizen für eine Gruppe von Aufsätzen über die Geschichte der Intellektuellen« (Bd. 7), »Probleme der italienischen Nationalkultur« (Bd.8), »Amerikanismus und Fordismus«, »Literaturkritik«, »Journalismus« oder auch »An den Rändern der Geschichte (Geschichte der subalternen gesellschaftlichen Gruppen)« (alle Bd. 9). Nicht einmal Band 6, der einzige Band, dem die Herausgeber einen eigenen Titel gaben, »Philosophie der Praxis«, weist etwas auf, das man zumindest im weitesten Sinne eine Gliederung nennen könnte.

Aber der Autor setzt Begriffe, die Wirkung zeigen und großen analytischen Gehalt besitzen: »Amerikanismus« bzw. »Fordismus«, »Hegemonie«, »Zivilgesellschaft« oder »Alltagsverstand« etwa sind solche Begriffe, die immer mit Gramsci in Verbindung gebracht werden.

Der Amerikanismus (bzw. Fordismus) gilt ihm als Begriff für die in den zwanziger und dreißiger Jahren zunächst in den USA, aber auch bald in Europa sich durchsetzenden neuen Gesellschaftsstrukturen, die sich weniger auf die Schwerindustrie als auf die inneren Märkte stützt, die also die Kaufkraft der Lohnabhängigen entdeckt, die stärker auf Konsumgüter setzt und die auf einer politischen Vermittlungsebene die nunmehr zu materiellem Wohlstand gekommenen Massen mittels Gewerkschaften und Sozialdemokratie gesellschaftlich zu integrieren sucht.

Gramsci sieht hier einen »neuen Gesellschaftstyp, in dem die ðBasisÐ unmittelbarer die Überbauten dominiert«. Diesen Amerikanismus sieht er begründet in der historischen Tendenz zur fallenden Profitrate, die er als »Ursache für den beschleunigten Rhythmus im Fortschritt der Arbeits- und Produktionsmethoden und der Veränderung des traditionellen Arbeitertypus« begreift. Dieser gesellschaftliche Umbruch zeitigt immense kulturelle Effekte: »Aber auch die Welt hat sich verändert. Zola kannte ein Volk, das es heute nicht mehr gibt, oder das wenigstens nicht mehr dieselbe Bedeutung hat. Hochkapitalismus - taylorisierter Arbeiter - ersetzt das alte Volk, das sich noch nicht deutlich vom Kleinbürgertum unterschied und das bei Zola erscheint wie bei Proudhon.«

Dabei beweist der Blick auf den Amerikanismus und die Kultur der USA Gramscis bemerkenswert offene Haltung, die weit entfernt ist vom bildungsbürgerlichen Dünkel: »Noch vor der Dummheit des Antiamerikanismus rangiert seine Komik«, heißt es beispielsweise in einer Notiz zur europäischen Rezeption von Sinclair Lewis' Roman »Babbitt«.

Als Ursprung der neuen Gesellschaft gilt Gramsci die industrielle Produktion, die sich eben mit dem Amerikanismus verändert hat. »Die Hegemonie entspringt in der Fabrik und braucht nicht so viele politische und ideologische Vermittler.« Wie aber die »Hegemonie« den »Alltagsverstand« erreicht und konstitutiert, gehört zu den ganz großen Fragen, die sich Gramsci in seiner Arbeit im Gefängnis stellte, und die er mit einfachem Ökonomismus nicht beantwortet wissen möchte. »Der (als wesentliches Postulat des historischen Materialismus dargestellte) Anspruch, jede Schwankung der Politik und der Ideologie als einen unmittelbaren Ausdruck der Struktur hinzustellen und darzulegen, muß theoretisch als primitiver Infantilismus bekämpft werden.«

Kulturelle Hegemonie, die prinzipielle Übereinstimmung der Massen mit dem Staatszweck, welche Unzufriedenheit, Nichtübereinstimmung, Nörgelei und Protest nicht nur erlaubt, sondern erforderlich macht, ist ihm die Voraussetzung staatlichen Handelns: »Die ðnormaleÐ Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch eine Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich die Waage halten, ohne daß der Zwang den Konsens zu sehr überwiegt, sondern im Gegenteil vom Konsens der Mehrheit, wie er in den sogenannten Organen der öffentlichen Meinung zum Ausdruck kommt, getragen erscheint.«

Wie Hegemonie entsteht, zeigt Gramsci an vielen Stellen, zum Beispiel im Passus »Über die Mode«, wo er den Aufsatz eines Mailänder Lederindustriellen referiert: »Viele Anregungen, Erklärung der Mode von der ökonomischen Entwicklung her (Luxus ist nicht Mode, die Mode entsteht mit der großen Industrieentwicklung); Erklärung der französischen Hegemonie in der Damenmode und der englischen in der Herrenmode; gegenwärtige Kampfsituation, um diese Hegemonien auf ein ðKondominiumÐ zu reduzieren: Aktivitäten Amerikas und Deutschlands in diesem Sinn. Ökonomische Folgen vor allem für Frankreich usw.« Das Beispiel Mode ist willkürlich gewählt, wahrscheinlich ist es nicht einmal das beste. Gramsci beschäftigt sich mit vielen solchen alltäglichen Erscheinungen, die scheinbar unzusammenhängend in verschiedenen Miszellen immer wieder auftauchen.

Am ausführlichsten fällt seine Auseinandersetzung mit dem italienischen Trivialroman aus, aber Gramsci erörtert auch Fragen sexueller Freizügigkeit, er fragt nach der Situation der Juden in diversen historischen Epochen und den Konstitutionsbedingungen von Antisemitismus, er diskutiert, wie der Rassismus in den USA überwunden werden kann, er fragt schon im Jahr 1930 nach dem vom Zionismus postulierten Recht der Juden, in Palästina zu leben, er analysiert das je unterschiedliche Leben und die je unterschiedlichen Bewusstseinsformen im industrialisierten Norden und im verarmten Mezzogiorno (worin vermutlich eine ungeheure analytische Bedeutung für das Verständnis von West- und Ostdeutschland in der Gegenwart liegt), er beschäftigt sich mit der Teilhabe von Frauen am öffentlichen Leben, und sehr gerne, sehr ausführlich und sehr gebildet behandelt er die verschiedenen Arten von Zeitungen.

Auf diesen und noch mehr Feldern konstituiert sich Hegemonie, auf diesen Feldern gilt es also um sie zu streiten. Die Vielfalt der Themen hilft ihm, die Vermittlung von Hegemonie näher zu verstehen. Diese ist nämlich kein einfacher, glatter Prozess - denn dann wären Bestseller und Moden von oben diktierbar, und Gleiches gelte für Antisemitismus und Rassismus.

Gramsci entdeckt vielmehr im »Alltagsverstand« »eine gewisse Dosis von ðExperimentiergeistÐ und unmittelbarer Realitätsbeobachtung (...), wenn sie auch empirisch und begrenzt« sei. Mit der Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert sei es der Alltagsverstand gewesen, der »die genaue, einfache und handgreifliche Ursache identifiziert und sich nicht von pseudotiefsinnigen, pseudowissenschaftlichen metaphysischen Grübeleien und Spitzfindigkeiten usw. ablenken« ließ. Diese Einschätzung ist aus zwei Gründen bemerkenswert: Gramsci benutzt dieses scheinbare Lob des Volkes nicht, um in einen Antiintellektualismus zu verfallen, und er lobt den Alltagsverstand doch gerade in einer Zeit, als ein gesellschaftlicher Konsens die faschistische Diktatur Mussolinis aufrechterhielt (und ihn selbst damit im Gefängnis). Das mag vielleicht als ungerechtfertigter Optimismus erscheinen, es ist aber auch deutbar als Ausdruck der Autonomie des Theoretikers und seiner Unabhängigkeit von Stimmungen und kurzfristigen gesellschaftlichen Tendenzen.

»Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens« ist ein immer wiederkehrender Satz in den »Gefängnisheften«, und einmal heißt es: »Aber die Wirklichkeit ist voll der wunderlichsten Verbindungen, und es ist am Theoretiker, in diesen Wunderlichkeiten die Probe auf seine Theorie zu machen, die Elemente des geschichtlichen Lebens in theoretische Sprache zu ðübersetzenÐ, und nicht umgekehrt sich die Wirklichkeit nach dem abstrakten Schema darzustellen.«

Dass Gramscis Nobilitierung des Alltagsverstandes nicht als ungerechtfertigter Optimismus zu deuten ist, zeigt sich auch an seinem Begriff der »societa civile«, von den Herausgebern als »Zivilgesellschaft« übersetzt. Das ist mutig, weil der öffentliche Gebrauch dieses Begriffs vielen neueren Theoretikern zum Lob der gesellschaftlichen Zustände dient, die so selbstregulierend seien, dass der Staat gar nicht mehr intervenieren müsse, weder ökonomisch noch militärisch.

Gramsci verwendet die klassische politikwissenschaftliche Trennung von staatlicher und politischer Sphäre einerseits und gesellschaftlicher und ökonomischer Sphäre andererseits nicht, denn ihm ist der Staat ein »integraler Staat«, zu dem die Gesellschaft zählt. Also unterscheidet er zwischen »politischer Gesellschaft«, die über die Staatsapparate verfügt, und »Zivilgesellschaft«, die nicht in einem Spannungsverhältnis zum Staat, sondern nur zum exekutiven Teil des Staates, eben der politischen Gesellschaft, steht.

Spätestens hier wird klar, warum bei Gramsci der Hegemoniebegriff so zentral ist: »Es ist nämlich der Berührungspunkt zwischen der ðZivilgesellschaftÐ und der ðpolitischen GesellschaftÐ, zwischen dem Konsens und der Gewalt. Der Staat schafft, wenn er eine wenig populäre Aktion starten will, vorbeugend die angemessene öffentliche Meinung, das heißt, er organisiert und zentralisiert bestimmte Elemente der Zivilgesellschaft.«

Gramscis »Gefängnishefte« wurden oft als eine Art Steinbruch bezeichnet: Jeder könne sich heraushauen, was und wie viel er wolle. Das deckt sich durchaus mit der Intention Gramscis, der Begriffe wie Hegemonie und Ideologie ja zur Bezeichnung von Kampffeldern benutzte, als Begriffe, die erst noch inhaltlich gefüllt werden müssen. »Man darf die ðIdeologieÐ, die Lehre nicht als etwas Künstliches und mechanisch Aufgesetztes auffassen (als ein Kleidungsstück auf der Haut und nicht als die Haut, die vom gesamten biologisch-tierischen Körper organisch produziert wird), sondern geschichtlich, als einen unablässigen Kampf.« Außerdem und schließlich hat Gramsci ja vor sich selbst gewarnt, »weil sich gerade das Gegenteil des Geschriebenen als wahr herausstellen könnte«.

Antonio Gramsci: Gefängnishefte. 9 Bände. Argument, Hamburg 1991-2000, je Band DM 69. Der Registerband erscheint in diesem Jahr.