Neue Zeitschrift »Literaturen«

Das Muss des Monats

Welche Bücher soll man lesen? Seit einem halben Jahr behauptet sich die Zeitschrift Literaturen auf dem Markt.

Eine Zeitschrift, in der eine Edition Hermeneus für folgende Titel ihrer Autorin Sophie Goll wirbt: »Sophies Sampling«, »Gott kennt kein Funkloch« und »Faschismus fängt da an, wo einer im Schlachthof steht und sagt: Es sind ja nur Tiere«. Eine Zeitschrift, die mit einer Unschuld »Literaturen« heißt, dass man meinen könnte, da wisse jemand nichts von den Verbrechen, die im Zeichen von Multikulti und der Re-nationalisierung von Kulturen geschehen sind. Eine Zeitschrift, die sich mit den Worten »Stil statt Sprödigkeit, Erzählen statt Dozieren, journalistische Meinungsfreudigkeit statt akademischer Faktenhuberei« bewirbt. Eine Zeitschrift, deren Redaktion sich einen »Konsulenten« hält.

Eine solche Zeitschrift, das dachte man bis zur letzten Frankfurter Buchmesse, soll man auf jeden Fall ignorieren. Denn die wenigen literarischen Zeitschriften, die in der Bundesrepublik existieren, verkaufen entweder Kultur als Lebensart oder das Lesen als modischen Trend. So oder so ahnen sie nicht einmal etwas von Sprache und Intellekt. Lediglich das schwer erhältliche Frankfurter Blatt Listen und die Leipziger Edit bilden Ausnahmen, doch ist ihre Wirkung bescheiden.

Also gab man in intellektuellen Kreisen Sigrid Löfflers neuestem Projekt, der Zeitschrift Literaturen, keine große Chance. Zu sehr hatte Löffler sich mit ihrer Teilnahme am Literarischen Quartett disqualifiziert. Obwohl sie durchaus wahrnehmbar für den Diskurs und gegen das Eventgeile kämpfte, war doch bereits die Beteiligung an einem derartigen Spektakel eine einzige Dummheit. Als sie ankündigte, Literaturen machen zu wollen - im kleinen Friedrich Berlin Verlag, der Fachzeitschriften wie Theater heute und Opernwelt herausgibt - glaubte man, dabei werde kaum mehr herauskommen als ein Blatt, das zwar vordergründig von Büchern und Literatur handelt, doch eigentlich kaum mehr leistet, als seinen Käuferinnen und Käufern bürgerlichen Lifestyle mit einem Hauch von Intellektualität anzudrehen.

Doch bereits die erste Ausgabe des seit mittlerweile einem halben Jahr erscheinenden Magazins enttäuschte alle negativen Erwartungen. Literaturen war und ist - gemessen an der Position, die es im Markt einnehmen will - zwar erschreckend schlecht gestaltet. Der Innenteil ist fast vollständig schwarzweiß gedruckt, die Bilder sind zum Teil von unterer Zeitungsqualität, und das Layout gehorcht sklavisch einem Dreispaltendiktat.

Doch nicht nur die Optik von Literaturen ist - wenn man es freundlich sagen will - zeitlos, auch die Texte sind nahezu unmodisch. An der gegenwärtig dominierenden Gentech-Cyberworld-Feuilleton-Debatte nimmt man höchstens beiläufig teil, eines Houellebecq entledigt man sich mit Kurzkritiken, an Skandalen, die kurzfristig den Feuilletonistenfuror auf sich ziehen, hat man kein Interesse, das Ringen um die neue deutsche Literaturjugend findet keine Freundinnen und Freunde in der Redaktion, und selbst zur Auseinandersetzung um Norman Finkelstein pflegt man Distanz. Andererseits räumt man Randerscheinungen großen Platz ein, trommelt für Elfriede Jelinek, kennt sich einigermaßen mit Erich Mühsam oder Proust aus, kann mit russischer Lyrik umgehen und entdeckt sogar Ecken an dem sonst so glatten Douglas Coupland. Selbst an Science Fiction versucht sich die Literaturen-Redaktion, obwohl ihr zu diesem Thema kaum mehr als Philip K. Dick einfällt.

Das hatte man gar nicht erwartet. Und daher ist an dieser Stelle noch einmal über Sigrid Löffler zu reden. Denn mit Literaturen zeigt sich, dass ihr oft demonstrativer Aktionismus tatsächlich ein Ziel hat. Es geht ihr um die Wiederbelebung oder vielleicht sogar um die Gründung einer literarischen Gemeinde. Mit demselben Ernst, mit dem sie einst im »Literarischen Quartett« dem deutschen Publikum das neuste Werk von Klaus Theweleit als Weihnachtsgeschenk empfahl, holt sie sich jetzt linksliberale Journalisten ins Blatt, die sich bislang keinen allzu großen Namen im etablierten Feuilleton gemacht haben, und stellt ihnen Seiten für unromantische Reportagen aus Belgrad zur Verfügung und lässt sie über Rassismus oder sich als Retter gerierende Nazisöhne schreiben.

Ähnlich geht die Redaktion mit ihrem eigentlichen Stoff - der Literatur - um. Ohne sich von der Flut der Neuerscheinungen drängeln zu lassen, versucht sie, durch die Wiederaufnahme von Themen des bürgerlichen Bildungskanons einerseits - aktueller Titel: »Wer war Shakespeare« - und durch die Verhandlung neuer literarischer Strömungen andererseits, einen neuen Literaturkanon zu erfinden. Das heißt, dass die Redaktion mit jedem Heft versucht, ein »Muss« des Monats auszurufen. Dieser Schwerpunkt orientiert sich allerdings nicht an Verkäuflichkeit oder Hipness, sondern wird dadurch gerechtfertigt, dass ein literarisches Niveau vermittelt werden soll. Dabei bleibt zwar notgedrungen die genaue Beobachtung der experimentellen sowie aller anderen, höchstens Kleinauflagen erreichenden Literatur auf der Strecke. Literaturen kann keine unbekannten AutorInnen entdecken, aber an den für sie und ihre Leserschaft jeweils sehr gut erreichbaren Texten führt sie ein gewisses Literaturverständnis exemplarisch vor. Literaturen versucht im großen Stil pädagogisch zu wirken.

Angesichts der Gegebenheiten des deutschen Feuilletons scheint ein solches Unterfangen völlig verrückt zu sein. Offensichtlich jedoch macht sich diese Verrücktheit bezahlt. Der Verlag meldet eine Auflage von 80 000 Exemplaren, die seine eigenen Erwartungen deutlich übertrifft, und in nicht wenigen Buchhandlungen findet man einen Aufkleber an der Tür, der verkündet, dass die Zeitschrift hier verkauft wird.

Denn die Buchhändler sind begeistert. Allerdings ist der Buchhandel ein Gewerbe, das gerade erst die Möglichkeit von E-Mails entdeckt und das auch sonst sehr träge auf Veränderungen reagiert. Es könnte also sein, dass der Versuch, einen Kanon zurückzuerfinden, von den Buchhändlern gar nicht als solcher wahrgenommen wird, da sie den Verlust des alten bürgerlichen Bildungskanons vielleicht an ihren Verkaufszahlen hätten ablesen können, an ihrer eigenen Lektüre jedoch nicht. Für die Fachleute wird der Literaturkanon einfach weitergeführt.

Es bleibt nur die Frage, ob das breitere Publikum Literaturen als das wahrnimmt, was es ist, oder ob es die Zeitschrift einige Monate vergeblich als eine weitere Erscheinung des Feuilletons wahrzunehmen versucht, bevor es sich endgültig abwendet. Letzteres wäre mit Sicherheit nicht das Ende von Literaturen, denn der so sehr auf seinen eigenen Nabel fixierte Literaturbetrieb würde das Heft noch Jahre finanzieren. Aber sein Versuch einer neuen Kanonbildung wäre dann gescheitert: Literaturen und das permantene Ausrufen von Musts würden sich so lächerlich ausnehmen wie heute die Spex.

Literaturen erscheint monatlich im Friedrich Berlin Verlag und kostet DM 12