Limonade für alle

Die geostrategische Rolle Deutschlands hat sich durch den Kosovo-Krieg verändert. Aber wie?

Im März 1999 demonstrierte Deutschland seine wiedergewonnene nationale Souveränität. Politik, Militär und Bevölkerung erwiesen sich als kriegstauglich. Planerische Zielstrebigkeit ist an drei Komponenten, die diese historische Zäsur so reibungslos ermöglichten, zu bebildern. Erstens wäre da das - manchmal nur symbolische - Mitmachen, wie es etwa in der Entsendung deutscher Kriegsschiffe ins östliche Mittelmeer während des Iran-Irak-Kriegs zelebriert wurde.

Auch Bundeswehrangehörige auf Rücksitzen von Awacs-Aufklärern hatten militärisch kein großes Gewicht. Selbst bei den Einsätzen in Kambodscha (1991-93), in Somalia (1993-94) und Ruanda (1994) war der von General Bernhard betonte Aspekt, »wieder zur Familie« zu gehören, gewichtiger als jede reale Effizienz. Für Verteidigungsminister Volker Rühes Maxime, »Normalität Schritt für Schritt durchzusetzen«, wurde manchmal berufsfremd geschaufelt und gehämmert, statt gebombt und geschossen.

Von anderer Dimension war der 1995 gefasste Beschluss, die Bundeswehr an der schwer bewaffneten Ifor-Truppe und 1997 an der Nachfolgemission Sfor zu beteiligen. Hier wurde die letzte aus deutscher Historie abgeleitete Restriktion, »dass wir aus Gründen geschichtlicher Erfahrung keine deutschen Soldaten, also Bodentruppen, in das frühere Jugoslawien« schicken (Helmut Kohl, 19. Dezember 1994), beseitigt. Im Rahmen dieses Einsatzes wurde endlich auch geschossen, auf dem Flughafen von Tirana, eine Evakuierung sichernd; großartig, tapfer, präzise - wie alle Medien berichteten.

Im gleichen Zeitraum wurden materielle, militärdoktrinäre und rechtliche Veränderungen vollzogen, an denen abzulesen war, dass die Ambitionen das schon Praktizierte weit überschritten. Beispielhaft zu nennen wären hier die vom Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg eingeführte »modifizierte Doktrin« (1992), die die Bundeswehr als »politisches Instrument zur Sicherheitsvorsorge« beschrieb und zur Aufteilung der Armee in »Hauptverteidigungskräfte und Krisenreaktionskräfte« führte.

Die Debatte mündete in den neuen »Verteidigungspolitischen Richtlinien«, die das alte Wort vom Bündnisinteresse durch das »nationale Interesse« ersetzte, welches durch die »Aufrechterhaltung des freien Welthandels und den ungehinderten Zugang zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt« gekennzeichnet sei, also demonstrativ unrealistisch, utopisch (»ungehindert«) ist. Das Bundesverfassungsgericht goss dann, im Sommer 1994, die imperialen Notwendigkeiten in ein Urteil und erklärte weltweite Bundeswehrkampfeinsätze im Rahmen der Uno, auch unter Federführung von Nato und WEU, für verfassungskonform.

Zweitens avancierte Jugoslawien zum bevorzugten Objekt dämonisierender Propaganda und zum Experimentierfeld deutscher Übungen, auch im Alleingang außenpolitische Vorstöße zu wagen. Die Transformation von einem eher sympathischen Staat, der sich so bewundernswert tapfer unabhängig von Moskau hält, seinen Untertanen Reisefreiheit gewährt und eine nette Olympiade zu veranstalten vermag, in ein Völkergefängnis mit serbischem Aufsichtspersonal, war eine Demonstration der Wirkungsmacht ideologischer Apparate und des Funktionierens manipulativer Techniken.

Genschers Ausspruch, »mit jedem Schuss rückt die Unabhängigkeit näher«, sowie die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens ohne Abstimmung mit den europäischen Partnern waren schon die Verwirklichung dessen, was einige Jahre zuvor, als noch die Unverletzlichkeit der Grenzen beschworen wurde, als Spleen eines rückwärts gewandten FAZ-Herausgebers gegolten hatte.

Man wusste sich in Kroatien gefeiert, musste aber im weiteren Verlauf schlucken, dass die USA der bosnischen und kroatischen Armee die materiellen Mittel zur Verfügung stellte, mit denen Jugoslawien Territorien entrissen oder die Serben aus der Krajina vertrieben wurden.

So diktierte die militärische Hauptmacht den Vertrag von Dayton, der manchem deutschen Politiker zu viel Arrangement mit den Serben zu enthalten schien, was in der Aufforderung mündete - damit nicht Schluss sei mit der Zerstückelung -, nun endlich den »Scheinwerfer auf das Kosovo zu richten« (Kinkel). Hier hatte sein Geheimdienst eine UCK (mit)aufgebaut, die in Deutschland schon Befreiungsbewegung hieß, als man sie in anderen Zentren noch Terroristen nannte. Im Sommer 1998 beklagte die deutsche Außenpolitik, manch Nato-Partner lasse es an Ernsthaftigkeit für ein »militärisches Vorgehen im Kosovo« fehlen, und stellte sich stramm gegen Überlegungen, die Waffenzufuhr Richtung UCK durch eine Kontrolle der albanischen Grenze zu minimieren.

Drittens war, der konkreten Einstimmung auf einen Krieg meines Erachtens gleichgewichtig, ein allgemeines Klima inszeniert, das Gerede von der erwachsenen, der selbstbewussten, der ihrer gewachsenen Verantwortung in der Welt gerecht werdenden Nation. Dem Partner in Leadership. So wurde zum Gemeinplatz, dass die zurückliegenden, berechenbaren Zeiten zwar Wirtschaftskraft und Wirtschaftsmacht gemehrt hätten, aber irgendwie doch auch fade gewesen seien.

Gelassen in den Krieg

Als der Krieg dann losging, stiegen Schröder, Scharping, Fischer auf der Beliebtheitsskala, die Propaganda erklomm höchste Gipfel. Sie führte allerdings nicht zu einem fanatisierten Mob. Die Grundstimmung in der Bevölkerung, wie man sie als Anti-Kriegs-Demonstrant in Fußgängerzonen trifft, war erstaunlich ignorant und gelassen. Es gab kein Gepöbel wie bei anderen Anlässen, zum Beispiel antirassistischen Manifestationen. Das Phänomen hat sicher damit zu tun, dass alle Parteien integere Bedenkenträger abstellten: Willi Wimmer, Henning Voscherau, Helmut Schmidt, Alfred Dregger.

Zweitens hatten die Grünen sich verständigt, einander höchstmoralische Gründe für jede Position zu bescheinigen, und selbst Generäle hatten den grünen Debatten gesellschaftliche Bedeutung attestiert, freilich hinzufügend, dass diese ohne Einfluss auf die reale Kriegsführung seien. Trotz einiger harscher Worte in Richtung Gregor Gysi, stritt man wie die Völkerrechtsexperten, den kollegialen Respekt nie verlierend. Außerdem - kein unwichtiger Faktor für Stimmungen in Fußgängerzonen - waren die Nazis mehrheitlich gegen den Krieg, der ihnen kein authentisch deutscher war. So spürte der autoritäre Charakter die geschlossene Unbedingtheit, die ihm Sicherheit und Ansporn bietet, nicht.

Die ignorante Gelassenheit hat einen zweiten Grund. Was vor dem Golfkrieg noch unbekannt war, wurde durch ihn offenbar. Kriege dieser Größenordnung werden ohne relevante Auswirkungen auf das Herkuntsland des Aggressors geführt. Im Golf-Krieg wurden 190 000 irakische Soldaten getötet, die USA verloren 126 GIs. Weder im Krieg gegen Jugoslawien noch während der Besatzungszeit starb auch nur ein deutscher Soldat durch Feindeinwirkung. Die unvermeidlichen Soldatenmütter haben grundlos demonstriert.

Die Gelassenheit gegenüber einem Angriffskrieg, der das Betätigungsfeld einer Berufsgruppe - der Soldaten - ist, findet ihre Entsprechung in der Resistenz gegen alle Enthüllungen von Propagandalügen, die den Krieg legitimierten. Oft wird der Bürger bei solchen Vorgängen nicht betrogen. Er nimmt nur ein aus anderen Zusammenhängen bekanntes Gewohnheitsrecht in Anspruch, dass der Staat seine inhumansten Maßnahmen als Wohltaten kostümiert, auch um den zustimmenden Untertanen die Ausreden zu servieren. Man hilft den armen Ländern beim Wirtschaftsaufschwung, indem man keine Flüchtlinge in Deutschland duldet; zu viel Entwicklungshilfe entmündigt; durch Arbeitsdienst erlangt der Sozialschmarotzer seine Würde zurück; ein Massaker in Racak war uns unerträglich, ein Hufeisenplan zwang uns zum Einschreiten. Man zwinkert einander komplizenhaft zu. Das gilt auch für das anspruchsvollere Segment, welches von Jürgen Habermas und Diedrich Diederichsen, Daniel Goldhagen, Wolfgang Kraushaar und Hannes Heer Bedienung verlangte.

Verlässt man den dort angebotenen Himmel der Ideologien, können einige elementare Schlüsse gezogen werden: Die schon beschriebene »Unverwundbarkeit des Aggressors« hat heute noch die Bedingung, dass die USA einen Teil ihrer Militärmaschinen einbringt, materiell die Führungsposition im Krieg besetzt. Für Kriege dieser Art bedarf es also gegenwärtig einer Interessenidentität, oder zumindest weit reichender Überschneidungen der Interessen.

Imperiale Interessen

Die Botschaft des Kriegs, dass es die Nato gibt, die im Bedarfsfall Staatsschutzgarantien zu nehmen und zu geben vermag, dass also zum Beispiel von Russland als Bündnispartner oder Patron wenig zu erwarten ist, wurde ergänzt durch die ebenso demonstrative wie absichtsvolle Bombardierung der chinesischen Botschaft. Den gleichen Zweck verfolgt die Missachtung der Uno, des Völkerrechts; ein Sitz im Sicherheitsrat war im Konkreten wertlos.

Wo nicht moralisiert wurde, wo sogar die Sorge bestand, zu viel Moral könne sich als zukünftiges Hemmnis bei der Wahrnehmung materieller Interessen erweisen, wurden die Zwecke keineswegs geheim gehalten. Zum Beispiel in der FAZ: »Wer im Namen der internationalen Stabilität die Hegemonie in der Welt beansprucht, muss irgendwann damit beginnen, sie zu demonstrieren - mit oder ohne Rücksicht auf das Völkerrecht.« Es gehe immerhin um die »geoökonomische Verknüpfung der westlichen Schwarzmeerküste (...) für den Transport russischer, kaukasischer oder auch zentralasiatischer Energieträger«.

Auch William Clinton erläuterte den wichtigsten Chefredakteuren seines Landes den weit über Jugoslawien hinausweisenden Anspruch, eine Region gewaltigen Ausmaßes zu ordnen. Jugoslawien sei »kein Einzelfall«, sondern Mosaikstein. »Ein Großteil der früheren SU steht vor ähnlichen Herausforderungen, darunter Südrussland, die Kaukasusnationen (...) sowie die neuen Nationen Zentralasiens.«

Nicht zu übersehen war bereits während des Krieges, dass Deutschland eine weniger scharfe Frontstellung gegen Russland anstrebt. Einige mit den USA geteilte Interessen, zu denen z.B. die Ost-Erweiterung der Nato gehört, werden konterkariert von deutscher Ambition, Russland als Energielieferanten zu stabilisieren, also nicht als Transportkorridor zu eliminieren, wie es das US-amerikanische Ziel ist.

Der Krieg gegen Jugoslawien, das in seiner Folge entstehende Protektorat und die geopolitischen Weiterungen, die Clinton von »keinem Einzelfall« sprechen ließen, hätte zur Beerdigung der modischen »Theorie« der neunziger Jahre führen müssen. Sie bestand in der Bescheidwisserei, dass alle Staaten einen enormen Bedeutungsverlust erlitten hätten. »Es ist richtig, dass es weitgehend irrelevant ist, ob und wie die BRD jetzt Weltmacht geworden ist, weil sie in einem Kontext agiert, der von den internationalen Finanzmärkten und von 200 Weltkonzernen bestimmt wird.«

Der Gedanke, dass die Weltkonzerne eines ihren Geschäften bahnbrechenden Staates bedürfen, der dabei eben auch anders national fundierten Konkurrenten den Zugang versperrt, war ebenso obsolet, wie die einst bekannte Wahrheit, nach der Finanzmärkte auf die in diesem Prozess sich als Sieger und Besiegte Erweisenden verschieden reagieren. Aus falscher Prämisse folgt stets ein noch falscherer Schluss, der sich damals so präsentierte: »Für die Finanzmärkte wird (...) eine Politik der langfristigen globalen 'Friedenssicherung' vordringlich, um internationale Weiterungen der (...) 'Ethnisierung des Sozialen' zu verhindern.«

Man könnte den Mantel des Schweigens über ältere Dispute legen, erwiesen sich die »Theorien« nicht als von aller Wirklichkeit unbeeindruckbar, wie man im »Schwarzbuch Kapitalismus« nachlesen kann, wo die »so genannte Außenpolitik keine hohen Wellen mehr« schlägt, weil »das Ende des alten Imperialismus« gekommen ist und deshalb »in der entkoppelten Sphäre der Nicht-Orte territoriale Herrschaft sinnlos (wird), in welcher Form auch immer«. Und in Seattle oder Prag beklagen die Demonstranten die »Schwäche der Staaten« und flennen, dass den »Nationalparlamenten die Macht entrissen« sei.

Komplize und Opfer

Was im Jugoslawien-Krieg vielen als erträgliche Pluralität unter linken Kriegsgegnern erschien, barg Antagonismen, die heute, man betrachte die unversöhnlichen Positionen zum Nahost-Konflikt, offenbar sind. Die PDS-Zeitung gegen den Krieg warf der politischen Chefetage vor, »sie lassen sich zu Vollziehern amerikanischer Außenpolitik machen«; die junge Welt ergänzte, »Satellitenstaaten, die so genannten Nato-Verbündeten, werden in bester Gangstermanier zu Komplizen gemacht«, und Tage später waren die Komplizen schon keine mehr, denn »auch die Deutschen sind Nato-Opfer«. Da war viel Schulterschluss mit CDU-Wimmer und Rudolf Augstein - und Martin Walser eignete sich als Kronzeuge erneut.

Wer, wie zum Beispiel die junge Welt, heute EU und Deutschland als Gebilde sieht, die von den »USA erst noch in die Unabhängigkeit entlassen« werden müssten, kommt zwangsläufig bei zwischenimperialistischen Konflikten zur Parteinahme. Übrigens mit Methoden, die denen der Grünen nicht unähnlich sind, wie man an der Kampagne zur Beendigung der Irak-Sanktionen erkennt. Purer Humanismus wird jenen bescheinigt, die der amerikanischen Ordnungspolitik mit eigenem Kalkül entgegentreten. Sehnsüchte erfüllten sich, käme es zur Stationierung internationaler Truppen in palästinensischen Gebieten. Im Namen der Völkergemeinschaft die Juden in die Schranken verweisen, das verdiente den Namen Friedensmission.

Ein Teil der antideutschen Linken hat sich nicht darauf beschränkt, den Nationalismus der patriotischen Strömung zu kritisieren und Deutschlands aktiven Anteil an der Zerschlagung Jugoslawiens zu betonen, sondern Deutschland Potenzen angedichtet, die es nicht besitzt. Thomas Becker sah in der Jungle World die USA »in die Falle getappt«, von Deutschland verführt zu einem Krieg, den sie »nicht nur nicht gewollt hatten« und den sie »nicht gewinnen können«. Jürgen Elsässer entdeckte die »Falle von Rambouillet«, in die die tapsige Diplomatie der Amis gelockt worden sei, und Hermann Gremliza erblickte »die notarielle Beglaubigung, dass nach der Sowjetunion die USA der zweite Verlierer der weltpolitischen Wende geworden sind«.

Wer so schreibt, hat sich von jeder Analyse ökonomischer Kräfteverhältnisse und militärischer Schlagkraft verabschiedet. (...) Einen Tiefpunkt »antideutscher« Regression bot die Zeitschrift Bahamas. Kämpferisch wurde hier verfochten, dass aus einer für die Kapitalzwecke »definitiv unbrauchbar gewordenen Welt« jedes Subjekt verschwunden ist, das »kühl Vor- und Nachteile abwägt«. Jetzt pissen sich alle irgendwie selbst ans Bein, denn - den Bombenopfern in Belgrad zum Trost - »der Krieg in Jugoslawien ist einer der Aggressoren gegen sich selbst um nichts«.

Da kann man nur noch »Wahnsinn« murmeln, wenn man zum Beispiel bedenkt, »dass absolut niemand nach Bahn vordringen will, aber es durchaus möglich ist, dass plötzlich alle so tun, als ob sie es wollen, nur um damit zu zeigen, dass sie es könnten«. In Bahn, am Kaspischen Meer, eigentlich im gesamten Nahen Osten ist nichts zu holen, denn nur »der Fetisch des Dinghaften lässt übers Erdöl phantasieren, dessen Preis auf dem Weltmarkt den von Limonade schon längst unterboten hat«.

So verschwindet die Bedeutung des Erdöls für die kapitalistische Wirtschaft, also auch die Bedeutung, wer es ausbeutet, Transportkorridore sichert, zu diesem Zweck Staaten zerschlägt oder in Schurken und Sicherheitsanker unterteilt - man könnte das alles auch für Limonade veranstalten. Die Entfernung von jeder Materialität ist der Produzent spektakulärer Thesen. Wenn Öl Limonade ist, ist eben die PLO die UCK. Manchmal ist die Verzweiflung über den Irrsinn der Welt so groß, dass man aufräumen möchte, z.B. mit Palästinensern, deren Wahn man genau erforscht hat und deshalb weiß, wie leicht ihnen das Sterben fällt.

Transatlantische Konkurrenz

Auch Linke, die sich nicht gänzlich vom Materialismus verabschiedet haben, neigen dazu, aus tagespolitischen Erscheinungen viel zu weitreichende Schlüsse, manchmal ganze »Welterklärungsmuster«, zu ziehen. (...) Doch auch eine europäische Militärmacht vollzieht sich als konfliktueller Prozess, und es ist kaum vorherzusagen, wann sich die »Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität« (ESVi) faktisch realisiert. (...) Noch handelt es sich ums Aufholen, nicht ums Überholen, wenn es um EU-Verabredungen über strategische Aufklärung, strategischen Lufttransport, Informations- und Kommunikationstechnik, zielsuchende Munition, Abstandswaffen und Marschflugkörper geht. All die Sachen, mit denen die Amerikaner vor zwei Jahren ihre Überlegenheit demonstrierten, und die man besitzen muss, wenn die Euro-Eingreiftruppe von 80 000 Soldaten wirklich weltweit effektiv sein soll.

So zahlreich die Übungen sind, »amerikanische Bedenken zu zerstreuen«, so sicher ist man in Washington, eine vollendete ESVi sei ein Instrument, welches »mit der Nato konkurrieren könnte« (Strobe Talbott, ehemaliger stellvertretender US-Außenminister) und akzeptiert darum »nur eine der Nato klar untergeordnete europäische Komponente«. Diese Unterordnung plausibel zu machen, fahren die Vereinigten Staaten einiges auf. Schon die Erhöhung des US-Militärhaushalts um deutlich über 100 Milliarden Dollar in den nächsten Jahren, sprengt alle gegenwärtigen europäischen Dimensionen.

Das amerikanische Raketenabwehrsystem (NMD) in Kombination mit den regionalen Abwehrsystemen (TMD) soll die Ausschaltung - oder Minimierung - des Risikos bewirken, im Kriegsfall von feindlichen Raketen nachhaltig geschädigt zu werden. Die amerikanische Drohung ergeht keineswegs nur an die Schurken, sondern auch an jene größeren Mächte, die mit dem Bösen bandeln, also an Russland und China. Sollte es technisch gelingen, die USA weitgehend gegen russische und chinesische Atomwaffen zu immunisieren, wäre der Einsatz (»taktischer«) Atomwaffen für Amerika wieder eine reale Option. (...)

Die europäischen Anstrengungen, selbst größeres Gewicht und mehr Handlungsfreiheit zu erlangen, erhalten allein durch NMD einen gehörigen Dämpfer. Eine größere Freiheit der USA zur Kriegsführung ist nicht nach deutschem Geschmack, zumal die Auswirkungen solcher Kriege, verzichtete Europa auf eine subalterne Teilnahme am Abwehrschirm, hier gravierender sein könnten als jenseits des Großen Teichs. Da droht halt der »gespaltene Sicherheitsstandard«. Auch eine Aufwertung atomarer Optionen trifft Deutschland, dem dieses Gerät noch fehlt, ziemlich hart.

Die Klagen des zurückliegenden Jahres, die USA verfolgten eigene statt Bündnisinteressen, sind lustig und sachkundig zugleich. Auf diesem Feld kennt man sich aus. Und man weiß auch, dass das amerikanische Angebot, sich am Aufbau des Schutzschildes zu beteiligen, erstens teuer kommt und zweitens in subalterne Stellung zwingt. Dennoch: Gemessen an den deutlich ablehnenden Stellungnahmen vergangener Monate, zeigen sich nun Gerhard Schröder, der schnell noch eine Verdienstmöglichkeit deutscher Rüstungsindustrie entdeckte, und Joseph Fischer als Realisten. (...)

Bei allem täglich zu schürenden Gefühl gegen den zukünftigen Hauptkonkurrenten, die notwendige Portion Kalkül - auch das wurde in Deutschland seit 1945 gelernt - kommt nicht zu kurz. So gesehen liegen vor uns zähe Jahre, mit Vorstößen und Rückziehern. Auch Vorstöße gegen amerikanische Interessen wird es geben, wie sie sich heute etwa in Libyen, Irak oder Iran vollziehen.

Vielleicht liegen die Schauplätze auch an der »neuen Seidenstraße« zwischen Adria und China, wo sich die mutige Protektion konkurrierender Herrschaftscliquen anböte. Vielleicht beginnt man in Gegenden, die auf der amerikanischen Ordnungsskala nicht so hoch angesiedelt sind. Es ist aber nicht seriös zu prognostizieren, wo Menschen in kriegerischen Auseinandersetzungen wieder Material, Kanonenfutter zu verkörpern haben.

Eine gewisse Vor- und Umsicht wird für Deutschland, die EU-Hegemonialmacht, allerdings nötig sein. Sonst könnte es einer schönen deutschen Direktinvestition, sagen wir im Iran, auch mal ergehen wie der chinesischen Botschaft in Belgrad. Ist das ein Trost?