Documenta-Plattform Wien

Am Horizont geht's weiter

Die 2002 beginnende 11. Kasseler Documenta lässt schon heute in Wien über die unvollendete Demokratie diskutieren.

Die Documenta 11 ist ein ganz besonderes Exemplar unter den Documenten. Ihr Direktor Okwui Enwezor hatte sich dazu entschlossen, sie räumlich und zeitlich auszudehnen. Die eigentliche Ausstellung - Documenta as we knew it - findet nach wie vor in Kassel statt, und zwar von Juni bis September 2002. Ihr vorgelagert sind eine Reihe von Diskussionsplattformen. Diese beschäftigen sich mit Fragen des Rechtssystems, der Wahrheitsfindung und Versöhnung, etwa in Südafrika und Ex-Jugoslawien (Mai 2001 in Neu-Delhi), mit Créolité und Kreolisierung (November 2001 auf dem karibischen Inselstaat St. Lucia), sowie mit der Situation der afrikanischen Städte Freetown, Johannesburg, Kinshasa und Lagos (März 2002 in Lagos). Den Auftakt macht Wien, und zwar mit einer Plattform zum Thema »Democracy Unrealized« - Demokratie als unvollendeter Prozess -, die ihre Fortsetzung im Oktober in Berlin finden wird.

Was soll man sich unter »Democracy Unrealized« vorstellen? Wer heute Demokratie sagt, meint zumeist eine ganz spezifische Version, die den Demokratiebegriff als solchen gehijackt hat und damit eine Hegemonie über den Rest der Welt ausübt. Diese westlich-liberalistische Version von Demokratie gibt sich mit einem minimalen Gerüst an demokratischen Institutionen zufrieden, die wiederum in den Dienst des freien Marktes gestellt werden. Über Instrumente wie Weltbank und IWF wird genau diese sehr spezifische Kombination von einerseits westlich-liberalen Institutionen und andererseits wirtschaftlichem Neoliberalismus dem Rest des Planeten aufgezwungen. Das sei dann die »verwirklichte Demokratie«.

Was von rechts in der Apologie und von links in der Denunziation des westlichen Demokratiemodells aber oft vergessen wird, ist die Tatsache, dass es sich hier nur um eine Demokratievariante handelt, nämlich die durchsetzungsstärkste, und nicht um »die« Demokratie, auch wenn nach dem Fall der Mauer von Leuten wie Francis Fukuyama die Parole ausgegeben wurde, mit dem Sieg dieser Variante sei die Geschichte beendet. Wie schon ihr Titel sagt, versucht die Plattform »Democracy Unrealized« vor allem den Konsens, Demokratie sei bereits realisiert, zu durchbrechen. Am Eröffnungswochenende u.a. mit Immanuel Wallerstein, Slavoj Zizek, Bhikhu Parekh oder Chantal Mouffe ging es um »Globalisierung«, die Rolle der Ökonomie und um das westliche Demokratiemodell. Wenn Slavoj Zizek zum Beispiel die Unmöglichkeit beklagte, irgendeine politische Alternative zu diesem Modell zu formulieren, dann ist diese Unmöglichkeit natürlich genau ein Zeichen dafür, wie erfolgreich dieses partikulare Modell die allgemeine Idee von Demokratie gekapert hat.

Doch nicht nur im globalen Maßstab gibt es die Tendenz, Demokratie als nahezu vollendet zu präsentieren. Dass die Wahl auf Wien als Austragungsort der ersten Plattform fiel, und das noch vor der Regierungsbildung, hat sich nachträglich als nicht gerade unpassend erwiesen. In der spezifischen politischen Situation Österreichs war man mehr denn je mit diesem Diskurs der angeblich vollendeten Demokratie konfrontiert. So wurde sofort nach der Regierungsbildung zwischen ÖVP und FPÖ die Parole ausgegeben: Okay, das Volk hat gesprochen, und jetzt ist gefälligst wieder für vier Jahre Funkstille. Alle, die noch etwas gegen uns haben, sind keine wahren Demokraten.

Für partizipatorische Demokratiemodelle würde so eine verordnete Funkstille aber gerade auf die Abwesenheit von Demokratie hinweisen, auf eine verordnete retro-absolutistische Untertanenmentalität. Aus einer Sicht, die Demokratie als unvollendeten Prozess begreift, könnte man dagegen fast als Faustregel aufstellen, dass Demokratie erst beginnt, wenn der Funkverkehr wieder aufgenommen wird und sie als etwas erkannt wird, das immer wieder neu und jeweils vor Ort realisiert werden muss und gar nicht zum Abschluss kommen kann - etwa im Sinne von Derridas Demokratie-im-Kommen. Ideologie beginnt dort, wo ein gelungener Abschluss behauptet wird.

So war auch den meisten Referaten des Eröffnungssymposiums gemeinsam, dass sie nicht Demokratie an sich - also in allen ihren denkbaren Varianten - als bürgerlich-kapitalistisches Täuschungs- und Verschwörungsmanöver enthüllten, sondern nur die hegemoniale westlich-liberale Spielart. Denn nach Chantal Mouffe ließen sich kaum radikalere Prinzipien finden als die demokratischen der Freiheit und Gleichheit für alle, sodass das Problem nicht in den demokratischen Prinzipien selbst liegt, sondern in ihrer immer umkämpften Definition und schließlich restringierten Implementierung. Stuart Hall machte in seinem Eröffnungsreferat ebenfalls klar, dass die heutigen Demokratiediskurse immer vom »Gespenst ihres Ideals« heimgesucht werden, dass aber die Kluft zwischen Ideal und real existierender Demokratie von der westlich-liberalen Spielart scheinbar überbrückt wurde. Dies führe zur »Aushöhlung der Demokratie im Moment ihrer Apotheose«.

Tatsächlich hat »Demokratie«, Stuart Hall zufolge, der sich dabei auf Ernesto Laclau bezieht, die Aufgabe eines Horizonts übernommen. Das heißt, sie hat sich soweit ausgedehnt, dass selbst radikale Forderungen, wollen sie irgendeine Chance auf praktische Realisierung haben, vor diesem Horizont formuliert werden müssen. Auch sozialistische Forderungen, so Hall in einem Interview anlässlich der Wiener Veranstaltung, seien mit demokratischen verwoben, es sei denn, man strebe nach wie vor die Diktatur des Proletariats an.

Das Problematische an diesem Horizont ist also wiederum nicht die Demokratie selbst, sondern der jeweilige Spin oder die definitorische Färbung des Horizonts: Ist Demokratie in radikale, partizipatorische, egalitäre, populare oder eben liberal-marktwirtschaftliche Farben getaucht? Dass diese dominieren, darüber bestand Einigkeit unter den Rednern. Einigkeit bestand aber auch darin, dass es sich mit der Demokratie so ähnlich verhält wie mit Gandhis Antwort auf die Frage, was er denn von der »westlichen Zivilisation« dächte: »It would be a good idea.«

Ein Nebeneffekt des Horizonts und der gleichzeitigen Nicht-Realisiertheit von Demokratie ist, dass gerade die ständige Propaganda, wir lebten in der demokratischsten aller Welten, demokratischen Widerstand produziert. Der Widerstand tritt dann durch seine Praxis den Gegenbeweis an. Aber nicht, indem er Demokratie an sich zurückweist, um aus dem Horizont ganz hinauszusteigen, sondern indem er die unrealisierte Idee beim Wort nimmt.

Das kann zu Missverständnissen führen, wie sie auch in den Diskussionen in der Jungle World immer wieder auftauchen. Ein Beispiel: Nach der Phase einer revolutionsromantischen Überidentifikation mit den Zapatisten fällt nun die radikale Linke vor Überraschung vom Baum, weil sie feststellen muss, dass die EZLN scheinbar viel weniger radikal und revolutionär ist als man selbst - zumindest in der eigenen Einbildung.

Tatsächlich sind die Zapatisten in ihrem lokalen Kontext eher so etwas wie eine »Demokratisierungsguerilla«. Das heißt, ihnen geht es nicht um den Umsturz der mexikanischen Demokratie, sondern sie verknüpfen den indigenen Befreiungskampf mit der Demokratisierung der mexikanischen Gesellschaft als ganzer. Darin unterscheiden sie sich deutlich von klassischen Befreiungsbewegungen wie etwa den maoistischen. Sie aus deutscher Perspektive deshalb als reformistisch zu denunzieren, ist eine ganz eigene Art linksradikaler Kolonialphantasie.

Auch diese Fragen werden wohl im Rahmen von »Democracy Unrealized« in einem zweitägigen Symposium zu »Counter Politics« diskutiert werden.

Oliver Marchart ist wissenschaftlicher Berater von »Democracy Unrealized«, der ersten Plattform der Documenta 11, die bis zum 20. April in Wien und vom 4. bis 25. Oktober in Berlin stattfindet. Programm unter www.documenta.de