Abbau von Grundrechten

Bleibepflicht für Linke

Deutsche Politiker benutzen den Gipfel von Genua zur Einschränkung der Grundrechte. BKA-Dateien und Ausreiseverbote sind die Instrumente.

Bis vor kurzem hätte wohl kaum jemand für möglich gehalten, was seit dem G 8-Gipfel in Genua Stand der Dinge ist: Ein Demonstrant wird erschossen; eine hundertköpfige Sondereinheit der italienischen Polizei stürmt ohne richterliche Anweisung oder Durchsuchungsbefehl eine Schule, überrascht die rund 90 Anwesenden im Schlaf, schlägt sie unbeeindruckt von der Präsenz von Journalisten des italienischen Fernsehsenders Rai und einiger Abgeordneter des italienischen Parlaments krankenhausreif und hinterlässt Blutspuren an Heizkörpern und an Wänden.

Die zum Teil lebensbedrohlich Verletzten werden tagelang in Polizeigewahrsam gehalten und dort ohne Auskunft über die Gründe ihrer Festnahme misshandelt und gedemütigt, jeder Kontakt zu Anwälten und Angehörigen wird ihnen vorenthalten, und als sie nach vier Tagen endlich den Haftrichtern vorgeführt werden, kommen diese in der Mehrzahl der Fälle zur Auffassung, dass die Haft nicht rechtmäßig war. Die meisten Ausländer werden einfach abgeschoben.

Das Vorgehen der italienischen Polizei gegen die Protestbewegung in Genua ist seither in den Medien vielfach mit den Repressionspraktiken lateinamerikanischer Militärdiktaturen verglichen worden. Der grüne Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele, der die deutschen Gefangenen vergangene Woche gemeinsam mit seiner Kollegin Annelie Buntenbach besuchte, stellte nach seiner Rückkehr nicht nur fest, dass die »europäischen Standards der Grund- und Menschenrechte mit Füßen getreten wurden«, sondern dass dies »konkret und vorsätzlich« geschehen sei. »Eine derartig umfassende Ausübung von Polizeigewalt, die ans Massakrieren grenzt, habe ich in meiner 30jährigen Tätigkeit auch als politischer Strafverteidiger in Deutschland nicht kennengelernt.« Seine Parteikollegin, die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth, sprach von »Quasi-Folter«.

Ströbele, verschiedene grüne Abgeordnete aus den Niederlanden und Frankreich, die Organisationen Ärzte ohne Grenzen und amnesty international (ai) fordern deshalb die Einsetzung einer internationalen Kommission, die das Vorgehen der italienischen Polizei untersuchen soll. Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die die italienische Regierung am Wochenende in einem offenen Brief wegen des brutalen Vorgehens gegen Journalisten anklagte, setzt auf eine Internationalisierung der Untersuchungen. So habe einem Bericht der italienischen Zeitung La Repubblica zufolge nur für 149 der 288 inhaftierten Demonstranten ein gültiger Haftbefehl vorgelegen; 49 waren am Samstag noch in Haft, darunter 21 Deutsche.

An diesem Tag rang sich auch die rot-grüne Bundesregierung dazu durch, wie die Regierungen Großbritanniens, Österreichs, Spaniens, Frankreichs und der Niederlande, eine Überprüfung der Haftbedingungen und der Abschiebepraxis seitens der italienischen Behörden einzufordern. Die Einrichtung einer Untersuchungskommission lehnte das Auswärtige Amt aber ab, handele es sich doch um »eine inneritalienische Angelegenheit«.

Diese Ansicht vertrat Bundeskanzler Gerhard Schröder schon am ersten Tag des Gipfels, als die Bilder des erschossenen Carlo Giuliani um die Welt gingen. Der Gewaltanwendung seitens der Demonstran-ten »müsse mit aller Härte von der Polizei begegnet werden«, sagte er. Und auch Außenminister Joseph Fischer trat am Wochenende für die Pflicht des Rechtsstaats ein, »Gewalt entschlossen« entgegenzutreten. Nach dem Ende des Gipfeltreffens am vorletzten Sonntag, als die Meldung über die blutige Räumung der Diaz-Schule bereits über die Ticker der Nachrichtenagenturen gelaufen war, forderte Schröder gar, man müsse der kleinen Schar von Militanten »mit allen Konequenzen deutlich« machen, wo die Grenzen seien.

Danach kehrte der Kanzler an seinen italienischen Urlaubsort zurück und überließ Innenminister Otto Schily (SPD) das Feld. Wie sein bayerischer Amtskollege Günther Beckstein (CSU) nutzt Schily die Vorkommnisse von Genua, um die Einrichtung einer europaweiten, so genannten Gewalttäterdatei zu forcieren. Sein bisher nur von Großbritannien und Italien unterstützter Vorschlag, eine nach deutschem Vorbild strukturierte europäische Informationsdatei über »Polit-Gewalttäter« anzulegen, war bei einem Sondertreffen der EU-Innenminister Mitte Juli von den meisten anderen Mitgliedsstaaten der Union abgelehnt worden.

Das deutsche Vorbild geht auf einen Beschluss der Innenministerkonferenz (IMK) vom November des vergangenen Jahres zurück. Damals einigte man sich darauf, drei so genannte zentrale Gewalttäterdateien zu den Bereichen »Rechtsextremismus«, »Linksextremismus« und »politisch motivierte Ausländerkriminalität« beim Bundeskriminalamt (BKA) einzurichten. Gespeichert werden jedoch nicht nur die Daten von rechtskräftig Verurteilten, sondern auch von Personen, deren Verfahren bereits eingestellt wurden. Daten von »Verdächtigen«, deren Personalien festgestellt wurden oder gegen die Platzverweise oder Ingewahrsamnahmen angeordnet wurden, dürfen ebenso gespeichert werden wie die von Beschuldigten, deren Unschuld sich später herausstellen könnte.

Für Genua wurden außerdem Namen berücksichtigt, die in der alten Datei zum »Landfriedensbruch« registriert sind. Verbunden mit der Aufnahme in die »Gewalttäterdatei« sind Reisebeschränkungen und polizeiliche Meldeauflagen, Maßnahmen, die auf das nach der Fußballweltmeisterschaft 1998 in Frankreich verabschiedete so genannte Hooligan-Gesetz zurückgehen. Juristen wie der Rechtsanwalt Rüdiger Deckers, Mitglied des Deutschen Anwaltvereins, sieht bei der neuen Datei die Gefahr, »dass der Bevölkerung das Demonstrationsrecht abgesprochen wird«.

81 Personen wurde wegen dieser Sachlage von deutschen Behörden die Ausreise aus Deutschland verwehrt. Zudem waren 79 Personen gezielt angesprochen worden. Allein in Berlin gab es 50 so genannte Gefährdeansprachen, bei denen den Betroffenen von der Polizei mitgeteilt wurde, dass sie beobachtet würden und bei Straftaten im Ausland mit einer strafrechtlichen Verfolgung in der Bundesrepublik zu rechnen hätten. Auf die Kritik an den Ausreiseverboten nach Genua reagierte Berlins Innensenator Ehrhart Körting mit dem Satz: »Es gibt kein Grundrecht auf Ausreise.«

Für andere war die Reise nach Genua bereits an der deutsch-schweizerischen Grenze zu Ende, wie für fünf Aktivisten, denen die Schweizer Behörden die Einreise verweigerten, weil einer von ihnen vor Jahren an einer Sitzblockade teilgenommen hatte. Obwohl das Verfahren eingestellt worden war, fanden sich seine Daten in der so genannten Genua-Datei wieder.

Übertroffen in ihrem Repressionskurs wurden Schily und Schröder nur noch von Mitgliedern der CDU/CSU. Mit Aussagen wie »die Krawalle in Göteborg und kriminelle Taten in Salzburg zeigen, dass linksextremistische Gewalttäter nach wie vor eine massive Gefahr sind«, versuchte vor allem Beckstein schon vor dem G 8-Gipfel, die Stimmung gegen globalisierungskritische Aktivisten anzuheizen. Am Montag nach dem Gipfel schloss er sich dann Schilys erneutem Vorstoß für eine »internationale Gewalttäterdatei« an und schob die Bedenken des Bundesbauftragten für Datenschutz, Joachim Jacob, mit den Worten beiseite: »Datenschutz darf nicht zum Täterschutz werden.«

Den grünen Bundestagsabgeordneten Ströbele und Buntenbach warf er vor, »die Gewaltorgie in Genua unter den Teppich« zu kehren. Ströbele sei »ein geistiger Mittäter« der Ausschreitungen und »nicht jemand, den ich bei der Frage der Gewalt im Zusammenhang mit Terrorismus für einen glaubwürdigen Mann halte«. Der parlamentarische Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe, Peter Ramsauer, nannte Ströbele gar einen »Scharfrichter« und »obersten Moralapostel«.

Das sehen die Betroffenen von Genua anders. »Ich bin geschlagen, gefoltert, beschimpft und völlig entrechtet worden, ohne mich wehren zu können. Meine politische Betätigung und die Inanspruchnahme der Demonstrationsfreiheit ist mir zum Verhängnis geworden«, fasste die in Berlin lebende Spanierin Nina Zapatero ihre Erlebnisse in Genua am Wochenende zusammen. Wohl stellvertretend für viele.