Konflikt zwischen Marokko und der Polisario

Freiheit für die Wüste

Gegenüber der marokkanischen Despotie gibt die nationalistische Befreiungsbewegung Polisario ein gutes Bild ab. Dies relativiert sich jedoch bei näherer Betrachtung.

Wer in den Flüchtlingslagern der Sahrauis im südwestlichen Zipfel der algerischen Sahara einmal selbst zu Gast war, dem fällt es schwer, im von der Weltöffentlichkeit vergessenen Westsahara-Konflikt nicht für die Befreiungsfront Polisario Partei zu ergreifen. Zu freundlich wird man von den Sahrauis empfangen, als dass man sie enttäuschen wollte. Und wieso auch? Sprechen nicht alle politischen Argumente für die Sache der Sahrauis?

Zum Beispiel die Verhältnisse in den Lagern. Hier wurde unter extremen klimatischen und widrigen politischen Bedingungen für 160 000 Flüchtlinge ein Gesundheits- und Bildungssystem aufgebaut, das auch im Vergleich zu reichen Ländern der dritten Welt vorbildlich ist. Für eine vom Islam geprägte Bevölkerung sind die sahrauischen Frauen in hohem Maße gleichberechtigt. Und so weit man es beurteilen kann, geht es halbwegs demokratisch zu. Besonders beeindruckt, wie entspannt und offen allenthalben diskutiert wird, von Repressalien oder geheimdienstlicher Bespitzelung keine Spur.

Auch die Polisario-Kämpfer sind nicht unsympathisch. Sie treten erfreulich unmartialisch auf; kaum einer trägt Waffen. Gleiches gilt für ihren Anführer Mohammed Abdelaziz, der auch Präsident der von der Polisario proklamierten Demokratischen Arabischen Republik Sahara ist. Im Unterschied zu manchem Dritte-Welt- oder Guerillaführer wirkt er selbst in Uniform wie ein Zivilist, gibt sich zurückhaltend und leger. Personenkult nach dem Vorbild von PKK oder PLO? Fehlanzeige.

Ganz anders das Bild, das der Gegner im Konflikt, Marokko, bietet. Als 1975 marokkanische Truppen große Teile des Landes der Sahrauis, der Westsahara, besetzten, bombardierten sie sahrauische Flüchtlinge mit Splitter- und Napalmbomben; rund 25 000 Menschen sollen dabei umgekommen sein. Später baute Marokko zum Schutz seiner Eroberungen gegen Polisario-Angriffe einen über 2 000 Kilometer langen Erdwall durch die Wüste, den Minenfelder sichern. Hinter dem Wall, in den besetzten Gebieten, werden die wenigen dort noch ansässigen Sahrauis von marokkanischen Behörden und Militär drangsaliert. Und auch wenn sich im marokkanischen Kernland nach dem Tod von König Hassan II. die Menschenrechtssituation etwas gebessert hat, so ist das Königreich auch unter seinem neuen Herrscher Mohammed VI. nicht mehr als eine Pseudodemokratie, in der es politische Gefangene gibt und wo Meinungs- und Pressefreiheit unterdrückt werden.

Dazu kommt: Nach dem Völkerrecht ist die Besetzung der Westsahara durch Marokko so illegal wie einst die Besetzung Kuwaits durch den Irak. Zwar behauptet Marokko, dieser Teil der Wüste habe in vorkolonialen Zeiten schon einmal zum Königreich gehört, man habe also 1975 nur altes koloniales Unrecht revidiert. Dem stehen aber die Beschlüsse der UN und der OAU entgegen, die die von den Kolonialmächten in Afrika gezogenen Grenzen für unverletzlich erklären. Keine Frage: Völkerrechtlich ist die Regierung der 1976 von der Polisario als Antwort auf die marokkanische Besetzung ausgerufenen Republik Sahara die einzig rechtmäßige Vertretung der Sahrauis.

Das nützt ihr allerdings wenig. Marokko ist ein Verbündeter der Nato und wird von den USA und Westeuropa - insbesondere von Frankreich - militärisch und ökonomisch unterstützt. Auch auf Deutschland, das offiziell erklärt, es sei in der Westsahara-Frage strikt neutral, kann das Regime in Rabat in dieser Hinsicht zählen.

Selbst wie die Uno in der Westsahara-Frage handelt, scheint dubios. Erst Ende der achtziger Jahre, nach 15 Jahren Wüstenkrieg, machte sie konkrete Versuche, den Konflikt zu lösen. Nach einem Sicherheitsratsbeschluss herrscht seit September 1991 ein Waffenstillstand zwischen Marokko und der Polisario, der von UN-Beobachtern kontrolliert wird. Die Uno-Mission hat zugleich die Aufgabe, ein Referendum über den künftigen Status der Westsahara vorzubereiten. Während die Polisario immer wieder auf eine möglichst schnelle Durchführung dieser Volksabstimmung drängt, tut Marokko alles, um sie zu verhindern.

In den letzten zehn Jahren wurden allein fünf fest vereinbarte Abstimmungstermine wegen marokkanischer Interventionen verschoben. Die Polisario nahm all diese Verzögerungen relativ gelassen hin, bis schließlich im Juni dieses Jahres völlig neue Töne aus New York zu hören waren. Statt auf die sofortige Abhaltung des Referendums zu pochen, legte UN-Generalsekretär Kofi Annan einen Plan vor, der für die Sahrauis in der Westsahara nur noch eine begrenzte Autonomie vorsieht - innerhalb Marokkos. Am 29. Juni dieses Jahres stimmte der Weltsicherheitsrat dem Annan-Plan zu. Damit ist eine mögliche Unabhängigkeit der Westsahara erst einmal vom Tisch. Seitdem droht die Polisario, die Kampfhandlungen wieder aufzunehmen.

So scheint einem der Fall denn vollends klar: Eine Befreiungsbewegung mit fortschrittlicher sozialer Programmatik auf der einen, ein reaktionärer Gegner auf der anderen Seite, dazu noch eine Uno, die sich nicht an ihre eigenen Beschlüsse hält, das sollten für einen Linken Gründe genug sein, sich mit dem Unabhängigkeitskampf der Polisario uneingeschränkt zu solidarisieren. Man kann die kleine deutsche Sahara-Solidaritätsbewegung also verstehen, die das genauso sieht.

Vor Ort, auf einer von medico international organisierten Reise in die Wüste, verspricht ein Vertreter dieser linken Hilfsorganisation der Polisario stellvertretend für die ganze Reisegruppe, »mit unseren geringen Mitteln zu helfen und so gemeinsam für die Freiheit der Westsahara einzutreten«. In Deutschland lehnt ein Kommentator der taz den neuen Sicherheitsratsbeschluss kategorisch ab und nennt ihn Betrug. Man grummelt und ist etwas empört.

Bei genauerem Hinsehen ist die Sache jedoch nicht so einfach. Zwar hat der Westsahara-Plan Kofi Annans seine Tücken. So ist nicht klar, wie in einer autonomen marokkanischen Provinz Sahara die aus den Lagern zurückgekehrten Sahrauis wirksam vor marokkanischer Willkür geschützt wären. Doch auch die Polisario-Forderung nach einem sofortigen Referendum ist keineswegs so unproblematisch, wie es zunächst scheint.

Stimmberechtigt sind dabei ausschließlich rund 86 000 »echte« Sahrauis. Mittlerweile leben aber in den marokkanisch besetzten Gebieten der Westsahara rund 300 000 Marokkaner, zum Teil seit mehr als 20 Jahren. Zweifellos wurden sie allein deshalb hier angesiedelt, um Fakten zu schaffen. Trotzdem: Gewönne die Polisario das Referendum - und daran ist wegen der Provenienz der Stimmberechtigten nicht zu zweifeln -, würden genau diese Marokkaner zum Problem. Zwar verspricht die Polisario ihnen ein Bleiberecht in einem von ihr regierten Staat. Die Staatsbürgerschaft aber sollen sie nicht erhalten. Das aber bedeutet: Eine sahrauische Minderheit würde eine marokkanische Bevölkerungsmehrheit regieren, die kaum etwas zu sagen hätte. Der nächste blutige Konflikt wäre damit programmiert.

Wenn auch die Hauptschuld an diesem Dilemma Marokko trifft, so ist die Polisario daran nicht völlig unschuldig, führt sie doch in erster Linie einen ethnisch motivierten Kampf. So meint »Freiheit für die Westsahara« letztlich nichts anderes als Freiheit für die Sahrauis. Für die Marokkaner gilt sie nicht. Wohin ethnisch begründete Kriege führen, das haben die letzten Jahre auf dem Balkan gezeigt.

Wohin diese künftig noch führen könnten, lässt sich auch für die Vielvölkerstaaten Russland oder China ausmalen. Gerade im Beispiel Chinas liegt die Parallele zur Situation in der Westsahara auf der Hand. Die Volksrepublik hat vor Zeiten Tibet völkerrechtswidrig annektiert, auch hier wurden die einstigen »Ureinwohner« durch gezielte Siedlungspolitik zur Minderheit im eigenem Land. Diesen Zustand unter der Parole »Free Tibet!« zu revidieren würde aber ein Gemetzel in der Region provozieren, das sich niemand wünschen kann.

Das kann aber nur heißen: Die Unterstützung von nationalistischen Befreiungsbewegungen durch »die Linke« mag in einer bestimmten historischen Phase richtig gewesen sein, spätestens seit den völkischen Exzessen auf dem Balkan kommt sie nicht mehr in Frage. Auch für die Sahara-Soli-Bewegung nicht, der man raten möchte, trotz allen Mitgefühls, das man angesichts des Elends in den sahrauischen Flüchtlingslagern empfindet, den Westsahara-Konflikt mit kühlem Kopf zu überdenken und größere Distanz zu den nationalistischen Forderungen der Polisario zu halten.

Auch könnte es ihr nicht schaden, der amtierenden Bundesregierung etwas grundsätzlicher zu misstrauen. Schließlich ist es nicht ganz ungefährlich, wenn - wie geschehen - Soli-Aktivisten ausgerechnet dem deutschen Außenminister einen Brief schreiben, in dem sie den zur Zeit aktivsten völkischen Zündler (»Die albanische Frage ist nach wie vor offen«) darum bitten, in diesem Konflikt »in geeigneter Weise politisch und humanitär zu intervenieren«. So wie im Kosovo? An diesem Punkt ist man nur froh, dass Joseph Fischer dieser Aufforderung nicht folgen wird, weil dem die ökonomischen Interessen Deutschlands in Marokko entgegenstehen.

Was als Ergebnis der Reise in die Lager bleibt, ist: Den Sahrauis muss weiter humanitär geholfen werden. Dringend, denn sowohl Deutschland als auch die Uno haben ihre Lebensmittellieferungen eingestellt bzw. drastisch reduziert. Sollten sie nicht bald in vollem Umfang wieder aufgenommen werden, droht eine Hungersnot.

Und: Nach 25 Lagerjahren müsste es endlich eine Lösung geben, die es den Flüchtlingen erlaubt, einen der elendesten Winkel in der Wüste wieder zu verlassen. Doch dazu müsste sich wohl auch die Polisario von den völkischen Teilen ihres Programms verabschieden. Die Soli-Bewegung aber sollte ihre Parole »Freiheit für die Westsahara« ändern. Was spricht eigentlich gegen »Freiheit in der Westsahara«? Für alle, die dort leben.