Big Boom Bang!

Firmen gehen Pleite, Mitarbeiter werden entlassen, der Neue Markt stürzt ab. Ein Nachruf auf goldene Zeiten

Wie das Licht die Motten lockt der Neue Markt die Unternehmen an. Es schwirrt und brummt so sehr, dass viele Anleger den Überblick verlieren +++ »Das Internet heute ist wie die Kambrische Explosion vor 550 Millionen Jahren. Damals geschah der Sprung vom Einzeller zum vielzelligen Leben.« Jeff Bezos, Gründer des Online-Kaufhauses Amazon +++ »Wer abseits steht, wird bald den Anschluss verpassen.« Thomas Osterkorn, stern +++ »Kein Stein wird auf dem anderen bleiben.« Unternehmensberater Roland Berger, Gutachter für die Enquete-Kommission des Bundestages +++ Aktien, Aktien, Aktien! +++ Internet-Wirtschaft: Mehr Wachstum, mehr Jobs, mehr Arbeit +++

Wie alles anfing

1996: Rund 2 000 Börsen-Neulinge erwartet. Erleichterter Zugang zu Risiko-Kapital. +++ Boom bei Telekommunikation +++ Die Zahl der Internet-Nutzer wird sich 1996 wohl auf 50 Millionen verdoppeln +++ Die 1992 vom 21jährigen Studienabbrecher Stephan Schambach aus Jena gegründete Internet-Firma Intershop expandiert in die USA +++ Telekom wirbt Aktienmuffel mit Preisnachlass. Rabatt beim Kauf von bis zu 300 T-Aktien. Bis zu 2,6 Millionen Aufträge +++ Tausende bestellen T-Aktie am letzten Tag +++

1997: Neuer Markt lockt junge Firmen +++ Softwarehersteller SAP erzielt Gewinnsprung +++ Netscape-Gewinn verdoppelt +++ Um eine halbe Million Menschen hat sich die deutsche Aktionärsfamilie seit dem Börsengang der Telekom vergrößert. Ron Sommer hat die T-Aktie zur Volksaktie gemacht +++ »Wir schaffen die erste Markenfamilie auf dem deutschen Aktienmarkt.« Ron Sommer +++ Ein Star der New Economy geht auf am Börsenhimmel: EM.TV +++ Der Intershop-Gründer Stephan Schambach erhält den California Govenors IT Entrepreneurial Excellence Award +++

1998: Immer neue Börsenrekorde und extrem niedrige Zinsen wecken offenbar auch bei den als risikoscheu geltenden Deutschen das Interesse am Aktienmarkt. Jeder zehnte Bundesbürger besitzt Aktien +++ EM.TV steigert den Ertrag. Der Umsatz erhöhte sich zum Vorjahr um 119 Prozent auf 23,4 Millionen Mark +++ »Es ist so viel Geld da, dass ich nicht weiß, wohin damit.« Thomas Haffa, Vorstandsvorsitzender von EM.TV +++ Als erste der jungen High-Tech-Schmieden aus Ostdeutschland startete Intershop mit einem Kursfeuerwerk auf dem Neuen Markt. Die Aktie zum Ausgabekurs von 100 Mark wurde bereits am ersten Tag bei 242 Mark notiert +++ Nach dem furiosen Börsenstart hat Intershop seine Ziele nach oben korrigiert. Schon im kommenden Jahr soll eine 15prozentige Dividende gezahlt werden+++

Es geht nur noch aufwärts

1999: Goldgräberstimmung am Neuen Markt. Die Deutschen sind ein Volk von Zockern geworden +++ »Fast über Nacht kann ein ehemals Arbeitsloser mit einer tollen Idee ein erfolgreicher Geschäftsmann werden.« US-Top-Ökonom Rudi Dornbusch +++ »Man steckt eine Mark rein und bekommt zwei Mark wieder.« Ingo Endemann, Werbekaufmann +++ Schon zum zweiten Mal in diesem Jahr geht an den internationalen Kapitalmärkten das Internet-Fieber um +++ »Mit Kursexzessen ist zu rechnen.« Thomas Haffa +++

Analysten bescheinigen Intershop glänzende Wachstumschancen. Längst hat der 28jährige Unternehmensgründer Stephan Schambach seinen Arbeitsplatz von Thüringen nach San Francisco verlegt +++ Glaubt man den Analysten, dann geht die Internet-Branche goldenen Zeiten entgegen +++

2000: Höchststand am Neuen Markt: über 9 000 Punkte +++ Die EM.TV-Aktie steigert sich auf ihren Höchstwert: 120 Euro! Thomas Haffas Geldmaschine ist die Börse. Am Ende der Hauptversammlung muss er noch Autogramme schreiben, Eltern setzen ihm Kinder auf den Arm und lassen sich gemeinsam mit ihm fotografieren +++ »Es ist wie bei einem Goldrausch.« Intershop-Gründer Stephan Schambach über die Möglichkeiten des Internets +++

Gipfelstürmer stürzen ab

Panik! Neuer Markt minus zehn Prozent! +++ Panikverkäufe lösen Kurssturz am Neuen Markt aus +++ Ist der Neue Markt noch zu retten? Scharlatane haben den Ruf der Wachstumsbörse ramponiert +++ Die schönen Gewinne - alle bald futsch? +++ Der weltweite Umsatz von Intershop betrug im letzten Quartal statt der angepeilten 50 Millionen nur 28 Millionen Euro. Nach dieser Hiobsbotschaft verlor die Aktie 65 Prozent ihres Wertes. Der Ostdeutsche Shootingstar Schambach erlebt seinen globalen Absturz und wird um 450 Millionen Mark ärmer +++ Neuer Markt: ein Spielcasino! +++

2001: Wann wird es endlich wieder richtig Sommer? +++ Die Telekom-Aktionäre sind sauer. Beim Blick auf den Kursverlauf der Aktie sollte man Sommer eigentlich feuern +++ Bei der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz melden sich immer mehr Menschen, die Aktien auf Kredit gekauft haben. »Viele gehen jetzt mit einem ordentlichen Soll auf dem Konto nach Hause«. Carsten Heise +++

Intershop in tiefroten Zahlen. Intershop-Aktionäre reichen in San Francisco eine Sammelklage gegen das Unternehmen ein. Dem Unternehmen wird vorgeworfen, den Anlegern die Marktstellung in den USA weitaus positiver dargestellt zu haben, als sie tatsächlich gewesen sei +++ Obwohl die spekulative Übertreibung für Experten deutlich erkennbar war, rieten Banken immer weiter zum Aktienkauf. Haben die Banken die Anleger systematisch ausgenommen? +++ »Minifirmen mit 100 Mitarbeitern waren plötzlich soviel wert wie Autofirmen mit 100 000 Beschäftigten und tollen Produkten. Jetzt ist Realismus eingekehrt. Aber daraus ergibt sich noch keine Dramatik - zumindest nicht für den deutschen Finanzminister.« Hans Eichel, Bundesfinanzminister +++ Freizeitcamp für Dotcom-Arbeitslose eröffnet. Bei Wanderungen, Golfpartien und Reitausflügen sollen die Dotcom-Opfer ihre Situation vergessen und richtig entspannen, um neue Energie für die Arbeitssuche zu tanken +++

Der Index des Neuen Marktes verzeichnet einen 86prozentigen Verlust in 16 Monaten. Weltweit stürzten die Kurse ab, die Hightech-Aktien verloren bis zu 90 Prozent ihres Wertes +++ Nemax 50 im Rausch der Tiefe +++ Penny Stocks brechen weiter ein +++ »Dies ist nur ein Säuberungsprozess am hinteren Ende des Segmentes.« Petra Krüll von der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz +++ »Die meisten Unternehmen des Neuen Marktes werden über kurz oder lang den sprichwörtlichen Bach herunter gehen. Das regelt einfach der Markt.« Norbert Empting vom Düsseldorfer Wertpapierhändler Schnigge +++ »Der Neue Markt ist tot, aber noch nicht verwest.« SinnerSchrader-Vorstand Oliver Sinner +++ Eine Händlerin: »Die Kinnladen hängen auf der Tischplatte.« +++ Intershop erneut mit tiefroten Zahlen. Der Verlust des Softwarekonzerns beläuft sich auf 28,3 Millionen Euro. Aktienwert unter vier Euro +++ Kleinaktionäre und Aktionärsschützer stellen Strafanzeige gegen EM.TV. Die Staatsanwaltschaft München prüft, inwiefern Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder die Umsatz- und Ertragslage »bewusst falsch dargestellt« haben +++ Jetzt liegt die Börse am Boden +++

In der Tiefe

Am Ende hatte Thomas Haffa Tränen in den Augen, obwohl ihm lange Zeit das Entsetzen der vielen kleinen EM.TV-Aktionäre über den katastrophalen Kurssturz ziemlich schnuppe schien +++ »Der Zug ist mit voller Wucht an die Wand gefahren. Aber der Lokführer war nicht auf der Lokomotive. Er hat im Speisewagen gesessen und Champagner getrunken.« Daniela Bergdoldt, Rechtsanwältin der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz +++ EM.TV-Aktie am Tiefpunkt: Wert vier Euro +++

Deutsche Börse verschärft Regelwerk für den Neuen Markt. Penny Stocks sollen verschwinden +++ Mehr als zwei Dutzend der derzeit 343 am Neuen Markt gelisteten Hoffnungsträger gelten als Penny Stocks mit Aktienkursen unter einem Euro. »Unternehmen mit geringem Börsenwert und insolvente Unternehmen sind keine Wachstumswerte.« Volker Potthoff, Börsen-Vorstandsmitglied +++

Der Analyst Albert Edwards von der Investmentbank DKW sieht für den 7. August einen Börsencrash voraus. Auslöser könnte die Veröffentlichung der US-Konjunkturdaten sein +++ »Die New Economy wird dann endgültig begraben.« Albert Edwards +++ Neuer Markt: Wer macht das Licht aus? +++ Und wer macht es nachher wieder an? +++