Russisches Militär gibt Übergriffe zu

Krieg in der Krise

Die russischen Militärs haben erstmals massive Übergriffe in Tschetschenien zugegeben, und in der Bevölkerung schwindet die Zustimmung zum Krieg.

An Ideen zur endgültigen Befriedung des rebellischen Tschetschenien mangelt es Malika Gasimijewa, der bisherigen Leiterin der Zivilverwaltung von Tschetscheniens zweitgrößter Stadt Gudermes, nicht: »Wir sollten dazu übergehen, auch weibliche Zivilistinnen in Tschetschenien zu eliminieren. Denn sie gebären ohnehin nur die nächste Generation von Extremisten«, meinte die Beamtin kürzlich. Doch an derartigem Konfliktmanagement ist die russische Politik derzeit nicht interessiert. Kurz nachdem Gasimijewa den Vorschlag zu dieser seltsamen Facette der Geburtenkontrolle gemacht hatte, wurde sie abgesetzt.

Dabei sprach die Bürokratin eigentlich nur aus, was russische Truppen schon seit Jahren in der Unruheprovinz vorexerzieren. Jungle World liegt ein noch unveröffentlichter Bericht des Moskauer Helsinki-Komitees für Menschenrechte vor, der recht detailgetreu die massiven Übergriffe russischer Truppen in der kaukasischen Provinz während des zweiten Tschetschenien-Krieges beschreibt (www.geocities.com/storiestexte).

Trauriges Fazit der 58 Seiten langen Darstellung: Große Teile der russischen Truppen handeln in Tschetschenien nicht nach militärischen Maßstäben, sondern terrorisieren die Zivilbevölkerung nach Lust und Laune. »Am 17. Januar des letzten Jahres betraten sechs russische Soldaten meine Wohnung in Grosny. Sie vergewaltigten meine Schwiegertochter und meine beiden Töchter und erschossen sie. Danach haben sie meinen Sohn erschossen. Danach gingen sie und wünschten mir noch ein schönes Leben«, erzählt der 71jährige Sharpuddin Bakajew. Die Opfer waren Zivilisten und hatten nie mit den Rebellen zusammengearbeitet.

Das Helsinki-Komitee deckte in seinem hier erstmals zitierten Bericht auch auf, dass die russischen Truppen dazu übergegangen sind, Rebellenangriffe mit Massakern an der Zivilbevölkerung zu beantworten. So bombardierten sie am 8. Januar des letzten Jahres die Stadt Shali nach einigen Angriffen tschetschenischer Rebellen in den Tagen zuvor. An diesem kalten Januartag sollten in der Stadt die Renten ausgezahlt werden, und hunderte Pensionisten versammelten sich auf dem Hauptplatz, um rechtzeitig zu ihrem Geld zu kommen. Als der ganze Platz voller Menschen war, schossen russische Einheiten gezielt eine Rakete ab. 150 Zivilisten starben.

Das Helsinki-Komitee kommt in seinem Report zu dem Schluss, dass gerade die Entwicklung des offenen Krieges zum Guerillakrieg die Menschenrechtssituation wesentlich verschlechtert habe und dass eigentlich vollkommenes Chaos herrsche.

Wenig hilfreich zur Entspannung der Lage erweisen sich die in die Berge zurückgedrängten Guerillas. Inzwischen greifen sie nicht bloß russische Soldaten aus dem Hinterhalt an, sondern gehen auch verstärkt gegen Mitarbeiter der zivilen Administration und echte oder vermeintliche Kollaborateure vor. So veröffentlichte die nicht anerkannte tschetschenische Regierung unter Aslan Maschadow einen Beschluss, wonach »mobile Einsatzkommandos in Tschetschenien unterwegs sind, um Informationen über Verräter in den Dörfern und Städten der Republik zu sammeln«. Diese Einheiten wurden von der Regierung auch gleich ermächtigt, die Strafverfolgung nach eigenem Gutdünken zu gestalten. »Das Recht, die nötigen Strafen zu verhängen, kann von jedem Mitglied der Kommandos nach eigenem Wunsch ausgeübt werden«, heißt es in der Proklamation.

Ein allzu großes Repertoire an Sanktionen aber haben die Kommandos nicht. Die sofortige Erschießung der »Verdächtigen« ist die gängige Strafe. Dass die Abgesandten der Rebellen mit ihren Opfern in der Regel kurzen Prozess machen, zeigt eine mörderische Episode vom 9. November. Zwei junge Männer betraten das Verwaltungsgebäude des Städtchens Alkhan-Kala in der Nähe Grosnys und fragten nach dem Büro des Leiters der Zivilverwaltung, Tsujew Yusha. Sie betraten das Zimmer, fragten nach dem Namen des Mannes und erschossen ihn. Eine zufällig anwesende 60jährige Frau wurde schwer verletzt. Ähnlich geht es in Tschetschenien auch Zivilisten, die von den Rebellen für Informanten der Russen gehalten werden.

Das Faustrecht und die unkontrollierbaren Zustände in der Provinz machen nun auch der russischen Regierung zu schaffen. Präsident Wladimir Putin ist unter Druck geraten, denn er hatte schon bei seinem Amtsantritt als Premier im Herbst 1999 versprochen, der Tschetschenien-Krieg werde »binnen zwei Wochen beendet«. Ein Jahr später verkündete er den endgültigen Sieg über die Rebellen, doch noch immer ist von einer Beruhigung der Lage nichts zu merken.

Ganz im Gegenteil. In der vergangenen Woche warnte der militärische Führer der tschetschenischen Milizen die Russen vor dem baldigen Beginn einer sauber vorbereiteten sommerlichen Offensive. »Unsere mobilen Einheiten arbeiten derzeit sehr effektiv. Unsere militärischen Pläne für den Sommer haben wir schon im Winter ausgearbeitet, und wir werden sie auch ausführen«, kündigte Schamil Basajew vollmundig an.

Es kann sein, dass er nicht übertrieben hat. Erst am vergangenen Wochenende erschossen Rebellen elf russische Polizisten, die nach Tschetschenien gekommen waren, um den Tod zweier Kollegen aufzuklären. Und es kann auch sein, dass solche Angriffe die Vorboten einer abermalige Offensive der Rebellen an einem bedeutsamen Tag sind. Denn jeden 6. August feiern die Rebellen die Einnahme der Hauptstadt Grosny im ersten Tschetschenien-Krieg. Die Russen erwarten deshalb für die laufende Woche massives feindliches Feuer.

Wenn die russische Regierung nun erstmals Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien zugibt, so könnte das ein erstes Anzeichen für ein mäßigeres militärisches Vorgehen sein. »Jede Operation sollte ausschließlich im Rahmen der Gesetze durchgeführt werden«, antwortete Putin Ende Juli auf harte Vorwürfe des russischen Generals Wladimir Moltenskoi, einige Truppen hätten in den tschetschenischen Städten Kurchaloj, Sernowodsk und Assinowskaya Massaker an der Zivilbevölkerung verübt.

Es ist weniger plötzliches Mitleid mit den Opfern des Krieges als vielmehr politische Taktik, die die russische Führung plötzlich zahmer erscheinen lässt. Wladimir Putin wird von der russischen Bevölkerung mit dem Tschetschenien-Krieg identifiziert, und er selbst hat zu Beginn seiner Amtszeit als Präsident Tschetschenien ganz bewusst zum Exempel seiner Entscheidungsfreude gemacht. Sein Flug in die Provinz zum russischen Neujahr 2000, sein dortiger Truppenbesuch und die Versorgung einiger ausgewählter Truppenkommandeure mit Dolchen, die Putins Namenszug trugen, waren starke Signale für die russische Öffentlichkeit. Putin erschien als Retter aus einer jahrelang andauernden Krise.

Im Jahr 1999, nach der Exkursion tschetschenischer Warlords ins benachbarte Dagestan und nach den Bombenanschlägen in russischen Städten, die 300 Tote zur Folge hatten, lag die Zustimmung zu seinem Feldzug in der Kaukasusrepublik bei rund 70 Prozent, inzwischen ist sie zusammengeschmolzen. Im Juni votierten dem Allrussischen Zentrum zum Studium der öffentlichen Meinung zufolge nur noch 35 Prozent für eine Fortsetzung des Krieges, während sich 58 Prozent für sein Ende und für Friedensverhandlungen aussprachen.

Gleichzeitig weiß man im Kreml, dass ein Guerillakrieg nicht zu gewinnen ist und dass Massaker an der Zivilbevölkerung erstens militärisch sinnlos, zweitens nicht unbedingt populär und drittens ein Ansporn für die Rebellen sind, ihren Kampf aus dem Hinterhalt weiterzuführen. In Zeitnot könnte der Präsident wegen eines Abkommens geraten, das sein Vorgänger Boris Jelzin mit dem tschetschenischen Präsidenten Maschadow 1997 schloss; es wurde vereinbart, den endgültigen Status der Provinz bis zum Ende des Jahres 2001 zu klären.

Zwar ist die Abmachung inzwischen etwas in Vergessenheit geraten, doch die russische Öffentlichkeit wird sich ihrer erinnern, wenn weiterhin Woche für Woche junge russische Soldaten in diesem Krieg sterben. Aber Putins flexible response auf die Stimmung in der russischen Bevölkerung wird nicht von jedem Mitglied der Moskauer Regierung bejaht. So meinte der Verteidigungsminister Sergej Iwanow erst in der letzten Woche: »Für die Rebellen werden wir schon den richtigen Platz finden, zwei Meter unter der Erde.«