Ende der Visionen

Leben im Jahr 2001

»Vor uns liegen 25 Jahre Reichtum und Freiheit - Haben Sie ein Problem damit?« Das fragte vor vier Jahren herausfordernd Wired, das Fachblatt für durchgeknallten Zukunftsoptimismus, seine Leserinnen und Leser. Offensichtlich hatte niemand ein Problem damit, im Gegenteil. Reichtum für alle klang gut, Freiheit - warum nicht?

Und auch die theoretische Voraussetzung erfreute sich allgemeiner Akzeptanz. Dass der Mensch seine schnöde physische Daseinsform, in der ohnehin alle Bedürfnisse sattsam abgedeckt waren, ad acta legen und fürderhin als reines Geisteswesen existieren und konsumieren würde. Er würde auf Schritt und Tritt »Informationen« über diverse mobile »Devices« abrufen und sich fast ausschließlich von »Content« ernähren - jenem magischen Elixier der New Economy, das an das Spice aus dem Film »Der Wüstenplanet« erinnert.

Als souveräner Herrscher über die Geräte würde der homo novo economicus seinen Lebensmittelpunkt im virtuellen Netz aufschlagen und dem »digitalen Lifestyle« huldigen. Liest man heute die frenetischen Zukunftsvisionen der letzten Jahre revue, wirken sie merkwürdig naiv, verstrahlt und wie aus einer anderen Epoche. So wie die rührend euphorischen Utopien der Fünfziger, in denen fliegende Autos herumdüsten und Roboter den Haushalt machten. Wie konnte es kommen, dass eine ganze Branche, deren Beobachter aus der Finanzwelt und zum Schluss die gesamte börsenspekulierende Normalbevölkerung den Unfug lange Zeit für bare Münze nahmen und jede Plausibilitätsprüfung unterblieb?

Es muss etwas mit Autosuggestion und dem Glauben an die self fulfilling prophecy zu tun gehabt haben. Wenn nur alle, die daran verdienen, fest daran glauben, dass demnächst das Gros der Bevölkerung mit GPRS-Orientierungschip im Gehirn herumläuft, dann wird es auch so kommen. Um den Börsenkurs des Filmanbieters EM.TV zum Zeitpunkt des Höchststandes zu rechtfertigen, hätte die Firma allerdings mittelfristig das gesamte Deutsche Fernsehprogramm rund um die Uhr bestreiten müssen. Oder ein nicht zu knapper Anteil der Bevölkerung hätte sich in jeder freien Minute Spielfilme aus dem EM.TV-Fundus aufs Handydisplay herunterladen müssen.

Statt dessen zeigt sich nun, was jeder Soziologe weiß und ein ernsthafter Realitätscheck zu jedem früheren Zeitpunkt offenbart hätte. Gesellschaften sind behäbige Gebilde und verändern sich sehr langsam oder gar nicht. Nur wenn das Heer der dummen Kleinanleger die Produkte der Firmen, von denen sie Aktien besaßen, verstanden hätte und bedienen hätte können, hätte das Ganze eine Chance gehabt. Es war grob fahrlässig, die Exzesse einer technophilen Oberschicht für Realität zu halten. Oder Moden für nachhaltige Prozesse.

In den USA ist die Internetnutzung unter Jugendlichen derzeit rückläufig. War ja ganz nett hier, aber jetzt gehen wir lieber wieder an den Strand. Man hätte es ahnen und, wenn man gewollt hätte, auch nachlesen können. Bereits 1997 wartete die Zeitschrift Titanic mit dem Titel auf: »So leben wir im Jahr 2000«. Auf dem Cover sind drei alte Frauen mit einer Plastiktüte in einer stinknormalen deutschen Einkaufszone zu sehen. Genau so ist es gekommen.