Supplemento

Hellblau

Ein Auszug

Im Ernstfall solle ich mich einfach flach auf den Boden werfen. Mein koreanisches Transistorradio vermeldet, in beunruhigender, durch einen schrillen Pfeifton angekündigter Unterbrechung seines Programms, wie ich mich eventuell schon binnen kurzer Zeit zu verhalten hätte. Nicht nur flach auf den Boden werfen, sondern, nach Möglichkeit, zusätzlich unter dem Tisch Deckung suchen. Dann wird das nachmittägliche Musikprogramm mit Musik von Mariah Carey fortgesetzt. Ich stoße das Mückengitter auf, trete auf die Veranda hinaus, versuche auszumachen, wie sich meine Nachbarn verhalten, kann aber in keinem der umliegenden Häuser ein Lebenszeichen erkennen. Ich springe in meinen Mietwagen und rolle im Schrittempo durch das Dorf. Denke an die Fernsehbilder von der letzten Evakuierung. Sehe einige Männer vor dem Gemischtwarenladen stehen und ihre Gesichter zum Himmel recken; erkenne, daß der älteste von ihnen mit den Schultern zuckt. Keinerlei Abreiseaktivitäten vor den Hotels. Ich halte an, drehe die Scheibe hinunter, empfinde die ungewohnte Windstille als unheimlich. Bei der Küstenwache kann ich in Erfahrung bringen, daß von offizieller Seite keine Evakuierungsmaßnahmen eingeleitet worden sind. Ich kehre zu meinem Haus zurück, höre beim Einbiegen in die mit Muscheln gekieste Einfahrt das im Innern noch immer laufende Radio. Am Ende der Wiese hat, früher als sonst, seit ich mich hier eingemietet habe, der Leuchtturm den nächtlichen Betrieb aufgenommen, schickt sein gelbes Licht, über mein Dach hinweg, aufs schwarze Meer hinaus. Ich ziehe mir ein T-Shirt über, öffne eine Dose Bier und mache mich wieder an meine Arbeit.

Der Mann ist an Händen und Füßen gefesselt. Den Mund hat er verklebt bekommen, nachdem er sich gegen seine Abschiebung gewehrt hat. In der Linienmaschine wird er hinter einem Vorhang in der letzten Reihe plaziert. Da er zunächst völlig ruhig bleibt, nehmen die ihn begleitenden Beamten das Pflaster über seinem Mund ab. Daraufhin beginnt der Mann sofort zu schreien, um die anderen Passagiere auf sich aufmerksam zu machen. Bei einer Zwischenlandung in Kamerun reißen daraufhin rund zwanzig Passagiere den Vorhang weg, schlagen und treten auf die Polizisten ein und befreien den jungen Asylbewerber. Die Behörden in Kamerun lassen die Maschine erst weiterfliegen, nachdem die Swissair zugesagt hat, den Kongolesen wieder mit nach Zürich zu nehmen. Ich kopiere mir diese Meldung, frage mich während des zügigen elektronischen Vorgangs kurz, weshalb ich gern wüßte, welcher Herkunft die mutigen Swissair-Passagiere in Kamerun waren, und drehe den Kopf dem Mückengitter zu, worauf sich meine Gedanken vorübergehend verflüchtigen. Eine leichte Brise ist aufgekommen, läßt draußen die hohen Gräser rauschen. Auch die Brandung am Sund wirkt jetzt lauter. Ich betrachte meinen beim Öffnen der Bierdose eingerissenen Fingernagel; ich finde alle meine Fingernägel zu lang. Helle Blitze flackern über das nunmehr grünliche Firmament und lassen meinen Bildschirm zwischenzeitlich erlöschen. Bevor ich den Rechner ausschalte, ist noch ganz schnell, in einer Maschine der Lufthansa, kurz hinter Frankfurt am Main, von wo aus das Flugzeug gestartet war, ein Mann zu Tode gekommen, nachdem ihm, der gleichfalls gefesselt war, Beamte des Bundesgrenzschutzes den Kopf, der sich in einem sogenannten Integralhelm befand, auf die Brust hinunter gedrückt haben. Zwischenlandung in München, Obduktion des sudanesischen Asylbewerbers. Besorgte Miene des verantwortlichen deutschen Innenministers nach Bekanntwerden des Zwischenfalls. Download. Abwahl.

Das Zentrum des Zyklons hat sich, um einiges südlich von meinem Aufenthaltsort, auf das karolinische Festland um die Stadt New Bern zubewegt. Ohne daß der Rundfunk Entwarnung gegeben hätte, finde ich mich unter einem deutlich aufgehellten Wolkenhimmel in der jetzt erst wirklich anbrechenden Abenddämmerung an der Fernsprechsäule vor dem Silbersee wieder, im nur noch tröpfelnden Regen, die Pelikane beobachtend, auf das Signal im Hörer lauschend. Yolanda scheint noch nicht zu Hause zu sein, also spreche ich ihr die folgenden Worte aufs Band: In der israelischen Zeitung Ha'aretz vom 27. November letzten Jahres entdeckte ich heute einen Aufsatz Admiel Kosmans, in dem sich dieser, von Dana Internationals Sieg beim Grand Prix Eurovision de la Chanson 1998, den ich dir letztes Jahr als Video geschickt habe, sowie den damit verbundenen politischen Unruhen in Israel ausgehend, einer Beantwortung der Frage zu nähern versucht, inwiefern ein ehemaliger Junge als Frau den Staat Israel zu repräsentieren berechtigt sei, und zwar im religiösen Sinn, nach Maßgabe der Torah. Schicke ich dir, Yolanda, in den nächsten Tagen zusammen mit Shlomo Katz' Negro and Jew von 1967 zu, das ich inzwischen, mit gemischten Gefühlen, durchgelesen habe. Dieses Jahr übrigens wurde die Bundesrepublik Deutschland bei dem erst kürzlich aus Dana Internationals Heimatstadt Tel Aviv übertragenen Grand Prix von einer Formation vertreten, die aus sozusagen in Deutschland geborenen Türken bestand, die in deutschen Massenmedien als deutsch-türkisch apostrophiert wurden; logischer schiene mir, wenn schon, denn schon, und loosely according to your very own definition of African-American, die Zuschreibung türkisch-deutsch, jedoch ich komme, Yolanda, an diesem Punkt, den ich so gern überhaupt ganz überwunden hätte, momentan sowieso nicht weiter. Was mich auch zur zentralen Frage meines Anrufs, die mich durch widrigste Unwetter zu diesem öffentlichen Fernsprecher trieb, bringt: Welche Farbe hat Mariah Carey?

Im Bus lese ich, über die Schulter einer älteren Dame hinweg, daß die britische Königin Elisabeth II. afrikanische Vorfahren hat. Eine afrikanische Linie führe über eine deutsche Prinzessin, eine noch zusätzliche andere über den russischen Dichter Alexander Puschkin und Prinz Philip direkt ins Königshaus. Die Frau des von 1760 bis 1820 regierenden Königs Georg III., die deutsche Charlotte von Mecklenburg-Strelitz, stamme direkt vom portugiesischen König Alfonso III. ab, der einen Sprößling mit einer afrikanischen Geliebten namens Madalena Gil gehabt habe. Auch der Ehemann der Königin, Prinz Philip, besitze einen afrikanischen Vorfahren, da er mit Alexander Puschkin verwandt sei. Puschkins Urgroßvater sei Ibrahim Petrowitsch Gannibal gewesen, ein Äthiopier, der Zar Peter dem Großen zum Geschenk gemacht worden sei. Gannibal sei dann in Frankreich ausgebildet und im Anschluß an seine Rückkehr nach Rußland General geworden. Mein Bus passiert die Reihe der gespenstischen Robert Taylor Homes. Abermals habe ich nicht den Jeffrey Express an der Küste entlang genommen, sondern den 55er und State Street Bus durch die South Side. Kinder kommen aus einem der Hauseingänge gelaufen und werfen johlend Steine auf unser Fahrzeug. Den Fahrer läßt dies völlig ungerührt. Die ältere Dame vor mir hingegen faltet ihre Zeitung zusammen, murmelt etwas Unverständliches, zupft an ihrem Haarnetz herum. Im Radio habe ich heute morgen beim Ankleiden gehört, unten in Feuerland sei jetzt im hohen Alter der letzte Indianer gestorben; von nun an gebe es nur noch Mischlinge. Als ich nach Hause komme, ist Tillmann auf dem Anrufbeantworter und fragt mich nach Mariah Careys Hautfarbe.

Mir fällt ein, daß meine Nachbarin Mariah Careys Augenbrauen trägt. Sie hatte sich bei Eyebrowz entsprechende, nach der populären Sängerin benannte Schablonen bestellt; mußte zunächst ihre Brauen zurechtstutzen, nämlich in sowohl schmalere als auch kürzere Form bringen, sie blond einfärben, dann die Schablonen anlegen und ein bräunliches Puder auf die freien Flächen Haut und Haar auftragen. Nach Abnehmen der Schablonen besaßen Shanices Augenbrauen exakt die sanft geschwungene Form derjenigen Mariah Careys. Großformatige Fotografien, die Shanice bei sich hatte, als sie an meiner Tür klingelte, bewiesen es. Ob ich die tollen Schablonen nicht auch einmal ausprobieren wolle, fragte sie und kickte übermütig eine ihrer plüschbesetzten Pantoletten in mein Wohnzimmer. Das mitgelieferte Puder verleihe der zunächst ungewohnten Form ein weiches, natürliches Aussehen. Zumal du ein ebenso ovales Gesicht wie Mariah hast, Yolanda. Auch ihre Augenfarbe. Ich aber hatte Mariah Careys Züge noch nie genau studiert. Hatte in ihr, wenn sie im Musikfernsehen auftauchte, immer nur eine weitere landläufig gutaussehende Blondine gesehen. Dann aber sagte Shanice, mit ihren Hochglanzfotos wedelnd, gänzlich unvermittelt: Na, was denkst du, is she or isn't she? Ich wußte gar nicht, worauf meine Nachbarin hinauswollte. Yes, she is, triumphierte Shanice mit einem Luftsprung. Und damit war Mariah Carey schwarz.

RuPaul sagt: Who says black people have to be black? Mariah Carey wurde am 27. März 1970 in Long Island, New York, geboren. Ihr Name entstammt angeblich einer amerikanischen Eingeborenensprache. Jedenfalls wurde sie nach dem Lied They Called the Wind Mariah aus dem Western Musical Paint Your Wagon getauft. Mariahs Mutter war eine weiße irische Opernsängerin, ihr Vater ein schwarzer venezolanischer Flugzeugingenieur. People say: Wer nicht ganz weiß ist, ist schwarz. Mariah Carey sagt: I am black. Sie bekennt aber auch: Coming from a racially mixed background, I always felt like I didn't really fit in anywhere. Die gesamte Familie hatte unter der rassistischen Intoleranz ihrer Umgebung zu leiden. Als Mariah drei Jahre alt war, ließen sich ihre Eltern scheiden. Schwester Alison hatte von allen drei Geschwistern die dunkelste Haut; also bot sie das häufigste Angriffsziel für explizite Erniedrigungen. Bruder Morgan litt unter Epilepsie. Mariah und Morgan blieben bei der Mutter, Alison ging mit dem Vater. Mariah stürzte sich total in die Musik. Verdiente sich nebenbei etwas Geld als Kellnerin und Garderobiere, kehrte die abgeschnittenen Haare in einem Friseurladen zusammen, hing aber meistens in diversen Studios herum und schrieb schon früh eigene Songtexte. Sie sagt: What I write is all from my imagination. I put myself in other women's shoes. I can feel their pain and joy when I think about it. It's all the same, we're all women. Mit achtzehn Jahren fiel Mariah als Hintergrundsängerin für die Rhythm & Blues-Interpretin Brenda K. Starr positiv auf. Tommy Mottola, Präsident von Columbia Records, nahm sie unter seine Fittiche und heiratete sie. 1990 gewann sie einen weißen Grammy als beste Pop-Sängerin, 1992 einen schwarzen American Music Award als beliebteste R&B-Künstlerin. Seitdem veröffentlicht Mariah Carey ein erfolgreiches Album nach dem anderen. 1995 sang sie ein Duett mit dem Wu-Tang Rapper Ol' Dirty Bastard; das hätte uns eigentlich schon aufhorchen lassen können, Tillmann. Die Leute sagen, Tommy Mottola habe versucht, totale Kontrolle über seine Ehefrau zu erlangen, ihr restlos vorzuschreiben, mit wem sie Umgang haben dürfe, wohin sie gehen dürfe, was sie anzuziehen habe. 1997 trennte sie sich von ihm und arbeitete von nun an in musikalischer Hinsicht immer häufiger auch mit schwarzen Künstlern und Künstlerinnen wie Puffy Combs und Missy Elliott zusammen. Sie sagt: I love a lot more hard-core stuff that people don't think I listen to. In the past, people have been concerned, some songs were too R&B. Everybody would say: Don't do that. People might think there's a rapper on there. Das Haus, in dem Mariah und Tommy gelebt hatten, wurde für 20 Millionen Dollar verkauft. Mariah Carey spendet regelmäßig und großzügig Geld für wohltätige Zwecke, unter anderem für ihre eigene Organisation Camp Mariah, die American Foundation for Aids Research sowie den United Negro College Fund. Sie sagt: If you see me as just the princess then you misunderstand who I am and what I've been through.

Vielleicht ergibt sich bei genauerer Untersuchung, daß Schwärze und Finsternis in gewissem Grade schon vermöge ihrer natürlichen Wirkungsweise schmerzvoll sind. Cheselden hat uns die sehr merkwürdige Geschichte eines Knaben überliefert, der blind geboren war und bis zum dreizehnten oder vierzehnten Jahre blind blieb; dann wurde ihm der Star gestochen, und durch diese Operation gewann er das Augenlicht. Neben vielen anderen bemerkenswerten Eigentümlichkeiten, die seine ersten Wahrnehmungen und Beurteilungen visueller Objekte begleiten, erzählt uns Cheselden auch, daß dem Jungen das erste schwarze Objekt, das er sah, großes Unbehagen verursachte und daß er einige Zeit später, als er zufällig eine Negerin sah, über diesen Anblick in großen Schrecken geriet. Also schrieb Edmund Burke 1759 in seiner Philosophischen Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen. Ich finde diese bezeichnende Stelle in Paul Gilroys Aufsatz über Cultural Studies und ethnischen Absolutismus in einer Ausgabe der Halbjahresschrift für Politik und Verbrechen, Die Beute, zitiert; wenige Seiten, bevor ich abermals auf mein Drexciya-Motiv stoße, dessen komplizierter Entwicklung halber ich mich nicht zuletzt hierher, an die karolinische Atlantikküste, begeben habe. Atlantik auch wie Atlantis. Platon.

Ende des achtzehnten Jahrhunderts habe sich schätzungsweise ein Viertel der britischen Marine aus Afrikanern zusammengesetzt. Auch in Amerika seien erstaunlich viele Schwarze zur See gefahren. Paul Gilroy spricht von einer Poetik der Schwarzen Atlantischen Welt. Beschreibt Turners Gemälde eines Sklavenschiffs, von dessen Deck aus die Kranken ins Meer geworfen werden, streift Marcus Garvey sowie Langston Hughes und zitiert Peter Linebaughs These, daß das Schiff das wahrscheinlich wichtigste Mittel panafrikanischer Kommunikation vor der Erfindung der Langspielplatte gewesen sei, Meeresschiffe demnach nicht einfach als abstrakte Verkörperungen des Handels, sondern als komplexe Vehikel des politischen Dissenses und einer auf ganz besondere Weise transatlantischen kulturellen Produktion zu begreifen seien. Die Verbindungen zum Kampf um die Abschaffung der Sklaverei seien dabei unübersehbar, schreibt Gilroy, der diese erste internationale Bewegung als Vorläufer einer postmodernen politischen Vernunft einstuft. Paul Gilroys Black Atlantic, in einem kurz vor meiner Abreise aus Chicago erhaltenen Attachment Cordulas, als klasse verwobenes Netzwerk zwischen den USA und Afrika, Lateinamerika und Europa, Großbritannien und der Karibik, an dem entlang Informationen, Menschen und Schallplatten sowie irre Dematerialisierungssysteme schon seit Beginn der transatlantischen Sklaverei, gleichzeitig dem Beginn der Moderne, transportiert, zurückgesandt sowie kreuzweise hin und her verschifft worden seien. Ich vergegenwärtige mir einige Titel der Drexciya-Platten, die ich in Mannheim stehen habe: Deep Sea Dweller. Sea Quake. Nautilus 12. Aquatic Invasion. Aquabahn. Water Walker. Bubble Metropolis. Danger Bay.

Die Bedienung mit dem zierlichen Davidstern an der Halskette fragt mich, ihr Trinkgeld einstreichend, ob ich die im Norden der Insel eingepferchten Wildpferde schon gesehen hätte. Sie selbst, auf dem Festland, nahe Virginias Grenze, am Rand des Great Dismal Swamp aufgewachsen, glaube nicht, was sich die Inselbewohner erzählten, wonach die heute unter Naturschutz stehenden Rösser auf ein hier vor Jahrhunderten gestrandetes Segelschiff aus Arabien zurückzuführen seien. I have no idea, Vermilion, gebe ich zu, da wird die freundliche Kellnerin auch schon in die Küche gerufen. Nach meinem Imbiß im Café Atlantic schlendere ich ein bißchen durch die verschlafenen Straßen von Ocracoke und sehe, vollkommen unvermittelt, die Flagge Großbritanniens durch das schattenspendende Eichenlaub wehen. Wenige Augenblicke später stehe ich wie angewurzelt vor einem Schild, auf dem in antiquierten Lettern British Cemetery geschrieben steht. In modernen darunter: Cared for by the crew of Coast Guard Station Ocracoke. Daneben ein weiß gestrichener Lattenzaun, ein Karree mit vier weißen Grabsteinen einfriedend. Zwischen diesen eine alte Frau mit verzinkter Gießkanne. Sie erklärt mir, daß der Boden unter ihren Füßen der englischen Krone gehört. Erst kürzlich hätten die örtlichen Pfadfinder hier einmal wieder richtig aufgeräumt; die Engländer selbst kümmerten sich kaum um ihren Friedhof. Obwohl die in eine am Friedhofszaun angebrachte Bronzeplakette gravierte Inschrift lautet: If I should die think only this of me that there's some corner of a foreign field that is forever England. Im August 1976, zur Zweihundertjahrfeier der Vereinigten Staaten, habe North Carolina diesen Flecken ehedem kolonialer Erde an das englische Königshaus zurückgegeben; zuvor hatte es der hiesigen Familie Williams gehört. Ein komplizierter bürokratischer Akt, führt die Alte aus, du kannst ja nicht einfach so Land an eine fremde Macht veräußern. Seit 1942 lägen die vier Briten hier begraben. Einer von ihnen, Lieutenant Cunningham, habe einen pechschwarzen Bart gehabt. Deutschland habe sie, alle vier, auf dem Gewissen.

Ich erfahre, daß Deutschland die atlantischen Küstenstreifen der Outer Banks ganz unmittelbar in die Kampfhandlungen des letzten Weltkriegs hatte verwickeln können; Ocracoke war dabei sogar verdunkelt worden. Ein Mister Naisawald habe alles fein säuberlich aufgeschrieben. Etwas ganz anderes: Wo ich denn eigentlich her sei. From Germany, sage ich, und schon ist meine Gesprächspartnerin im Wacholdergebüsch verschwunden. Im Gemischtwarenladen erhalte ich L. Vanloan Naisawalds Broschüre, angestaubt, für 5 Dollar und 95 Cent. Gleichzeitig mit dem Wagen von Federal Express treffe ich vor meiner Hütte ein und halte kurz darauf, vor Neugier fiebernd, einen ganzen Stapel vor wenigen Tagen bestellter, druckfrisch duftender Bücher in den Händen. Am liebsten würde ich alle zugleich durchlesen. Womöglich werde ich Jeffrey Melnicks Untersuchung A Right to Sing the Blues, African Americans, Jews, and American Popular Song untertitelt, gegen Shlomo Katz' Negro and Jew in Stellung bringen können, denke ich und trage den ungeduldig aufgerissenen FedEx-Karton nach drinnen. Ganz wichtig auch die Frage: Wann werde ich nach Nags Head fahren, um mir ein paar Mariah Carey CDs für die Boom Box zu besorgen? Boom Box, auch Ghetto Blaster.

Naisawald schreibt, daß die vier Toten von der HMS Bedfordshire stammen, einem notdürftig zu Zwecken der intensivierten U-Boot-Bekämpfung umgerüsteten britischen Fischdampfer im zeitweiligen, von Churchill nicht zuletzt auch dem Schutz der Commonwealth-Handelsflotte eingeräumten Dienst der US-amerikanischen Kriegsmarine. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, wohnten an den Küsten Virginias und North Carolinas Menschen mit noch immer lebhaften Erinnerungen an brennende Schiffe und angetriebene Wracks als Folge deutscher U-Boot-Aktivitäten von 1918. Hitlers Admiral und Nachfolger Dönitz, der bereits im Ersten Weltkrieg U-Boot-Kommandant gewesen war und 1945 die deutsche Kapitulation vor den Alliierten vollendete, hatte einen kühnen Plan mit Namen Paukenschlag entwickelt, den er ab dem 14. Januar 1942 in die Tat umzusetzen trachtete und der die nordamerikanische Atlantikküste von Halifax bis Hatteras unter eiserne reichsdeutsche Kontrolle bringen sollte. Rudeln grauer Wölfe gleich würden deutsche Unterseeboote, pechschwarze bis hellblaue, die fernen Küstengewässer durchkreuzen und dort die unzähligen Frachtschiffe torpedieren, welche, unter Land von Hafen zu Hafen ziehend, die feindliche Rüstungsindustrie belieferten. Obwohl Dönitz von Hitler, wegen dessen nordeuropäischer und nordafrikanischer Operationen, weitaus weniger U-Boote zur transatlantischen Verfügung gestellt bekam, als er sich erhofft hatte, es sollen zunächst nur sechs bis acht, später um die zehn gewesen sein, sah sich die US-amerikanische Küstenwache auf Anhieb überfordert, dieser ganz unmittelbaren nautischen Bedrohung erfolgreich entgegenzutreten. Dabei ist die See um das Cape Hatteras, wo kalte nordische auf warme Meeresströmungen aus dem Süden treffen, schon von Natur aus besonders tückisch. Mehr als fünfhundert auf dem Meeresboden, der hier Graveyard of the Atlantic genannt wird, liegende Schiffswracks machen die sogenannte Ghost Fleet of the Outer Banks aus, das älteste von 1585, als Sir Walter Raleigh an dieser Küste Land betrat. Fast vierhundert Wracks mit rund fünftausend Toten gehen, nach offiziellen Verlautbarungen Washingtons, auf das Konto der deutschen U-Boot-Angriffe allein vom Januar bis zum Juli 1942. Weshalb in jenem Jahr auch an Ocracokes ausgebaggertem Silver Lake Harbor eine fünfhundert Marinesoldaten beherbergende Basis der U.S. Navy eingerichtet wurde, von der heute nur noch die weiße Zisterne nahe der Küstenwache steht. Bereits der legendäre Seeräuber Blackbeard, Edward Teach bürgerlichen Namens, hatte hier einst die Küstenschiffahrt terrorisiert, Virginias Gouverneur Spotswood daraufhin den Leutnant der königlichen Marine Maynard, mitsamt zwei schwer bewaffneten Schiffen, nach Ocracoke gesandt. Maynard hatte Blackbeard am 22. November 1718 zu Wasser enthaupten können, seinen bärtigen, bluttriefenden Kopf auf den Bugspriet seines Schiffs gespießt und den Torso des Piraten in den heutigen Teach's Hole Channel, jenen Sund und offene See verbindenden Meeresarm, den ich von meinem Haus aus sehen kann, geworfen. Edward Teach soll daraufhin, kopflos, ganz wild noch siebenmal um das siegreiche königlich englische Kriegsschiff herumgeschwommen sein. Dann erst hätten ihn seine Kräfte und Geister verlassen. Der Ortsname Ocracoke, der Sage nach auf Oh crow, cock, einen verzweifelten Ausruf Blackbeards, zurückgehend, sei in Wahrheit indianischen Ursprungs und habe im Lauf der letzten dreihundert Jahre die Schreibweisen Wokokon, Woccocon, Woccocock, Occocock, Ocacoe, Ocacock, Occacock und Ocreecock durchlaufen.

The Great American Hunting Season: Die deutschen U-Boote lauerten ihren Opfern häufig in den Schatten längst gesunkener Wracks auf und waren deshalb von oben kaum auszuloten. Tauchten sie nächtens in kriegerischer Absicht auf, nahmen sie ihre beweglichen Ziele vor den fahrlässig illuminierten Silhouetten der ostamerikanischen Küstenstädte ins Visier. Die Jagdgründe der deutschen Unterwasserkräfte erstreckten sich bis unmittelbar vor die Häfen von Boston, New York und Norfolk. Tote Seeleute wurden regelmäßig an die Strände von Ocracoke Island gespült. Es wurde kolportiert, daß ein Mann aus Swansboro, North Carolina, verdächtige Ausflüge zur einsam gelegenen Bear Island am Bogue Inlet unternahm, um von dort aus deutsche U-Boote zu kontaktieren und mit Treibstoff beziehungsweise Proviant zu versorgen, daß Ölhändler Öl von karolinischen Häfen hinaus aufs Meer zu den U-Booten schmuggelten, fremdartige Lichtsignale über einem Wasserturm bei Manteo aufblitzten und so weiter. Nachdem die HMS Bedfordshire den weiten Atlantik überquert hatte, wurde sie im Brooklyn Navy Yard erst einmal grau übertüncht; auf Naisawalds Abbildung sieht sie ohnehin wie ein Seelenverkäufer aus. Später, in einem überfüllten Restaurant in Norfolk, Virginia, lernten zwei Männer von den Outer Banks zufällig Lieutenant Cunningham kennen, jenes Besatzungsmitglied der Bedfordshire, dessen Leiche sie wenige Wochen später am Strand von Ocracoke, ihres schwarzen Vollbarts, ihres mit schwarzen Onyx-Initialen bestückten Rings und ihrer nicht minder exzentrischen Armbanduhr halber, identifizieren würden.

Chapter III: The U 558 Against the Bedfordshire. Kapitänleutnant Krech hatte sein U-Boot westlich der Azoren bei einer der dort kreuzenden sogenannten Milchkühe aufgetankt. An Bord sein legendäres seetüchtiges Aquarium; darin Zierfische, die klangvolle Namen im Weltkrieg mit Deutschland befindlicher Premierminister und gekrönter Häupter trugen. Krech hatte, nach Naisawalds Recherchen, wahrscheinlich versehentlich, auf jeden Fall aber gegen Hitlers damals noch bestehendes Verbot, bereits im Oktober 1941 das erste US-amerikanische Kriegsschiff im nördlichen Atlantik torpediert. Nach einigen ereignislosen Tagen vor den Bermudas lenkte Krech sein Angst und Schrecken verbreitendes U-Boot am 4. Mai 1942 in Richtung Outer Banks. Am 11. Mai um 23 Uhr 40 versenkte ein Torpedo der U 558 die HMS Bedfordshire östlich des Cape Lookout. A heavy detonation ripped the night open, and the German skipper saw the little vessel hit square amidships. Her stern rose high out of the water and plunged almost instantly from sight. Gunther Krech pulled down his scope, made the entry in his log, and resumed his southward course. Erst kürzlich habe ich Cordula den Text auf dem rückseitigen Etikett der Drexciya-Schallplatte Aquatic Invasion übersetzt. Ich erhebe mich aus dem Schaukelstuhl, gehe nach drinnen, suche mir die entsprechende Diskette aus dem Karton, schiebe sie in meinen betriebsbereiten Rechner und lese: Am 1. Februar 1995 erhielten die drexciyanischen Seestreitkräfte vom UR-Kampftruppenkommando Befehle bezüglich einer letzten Mission. Die gefürchteten drexciyanischen Bataillone Stachelrochen und Pfeilhecht wurden von den Bermudas aus entsandt, um ihre Aufklärungs- und Zerstörungsmission gegen die Programmiererfestungen zur winterlichen Tagundnachtgleiche von 1995 durchzuführen. Auf ihrer Heimreise in die unsichtbare Stadt werden sie einen finalen Schlag gegen die Programmierer landen können. Aquatisches Wissen denen, die Bescheid wissen. Gezeichnet: Der Unbekannte Verfasser. UR, as you know, für das Detroiter Techno Label Underground Resistance, auf dem Drexciya in erster Linie veröffentlichen. Per E-Mail an Cordula abgesandt am 16. April aus Yolandas Wohnung, Wicker Park, Chicago, Illinois.

Lieber Tillmann, herzlichen Dank für die wertvollen Materialien. Heinrich besuchte im November 1997 eine Veranstaltung in der Volksbühne, zu der auch der englische Publizist Kodwo Eshun eingeladen war. Eshun redete dabei wohl in erster Linie über die afrikanisch-amerikanischen Unterwasserwelten des enigmatischen Duos Drexciya aus Detroit. Heinrich meint, Du solltest mal Kontakt zu ihm aufnehmen; er kenne einen, der Kodwo Eshun kennt. Nachdem ich gestern noch einmal den in diesem Haushalt einzigen Drexciya-Tonträger, die Doppel-CD The Quest, durchgehört habe, finde ich es absolut irre, wieviel die uns mit ihren abstrakten, wortlosen Kompositionen zu erzählen in der Lage sind. Gerade durch die Abwesenheit konkreter Samples, denke nur an die gräßlichen Kontrabässe in Drum & Bass, stehen ihnen gleichsam alle Formulierungsmöglichkeiten offen. Interessant dabei ist, daß uns Techno, dessen tatsächlich unsichtbare Stadt praktisch gar keine Straßen hat, no street, no street credibility, fernab also auch aller von Rap perpetuierten Mythen einer sozialen Realität existiert, dennoch als radikal dissidentes politisches Medium erscheint. Liegt es an begleitenden Texten wie jenem, den Du mir geschickt hast? An den verschwörerischen poetischen Parolen aus den Mastering Studios, welche in die Zwischenräume der Auslaufrillen von Underground Resistance-Platten geritzt wurden? An den intellektuellen, eleganten, selbst in ausgedienten Militärklamotten angenehm unmännlich wirkenden Typen, die diese Musik produzieren und die uns weißen europäischen Mittelstandskindern irgendwie ganz vertraut erscheinen? Weshalb wir auch in erster Linie zu dieser Musik, die ja ihrerseits auf deutscher Elektronik fußt, tanzen? Was mich nach wie vor nicht losläßt: Afrodiasporische Amerikaner im desolaten postindustriellen Detroit machen sich ihren revolutionären Reim auf die alten Platten der Düsseldorfer Gruppe Kraftwerk. Ist Detroit Techno Black Music? Was will uns Marc Floyd alias Chaos, GI zu Heidelberg, UR Recording Artist, mit seinem sensationellen Titel Afrogermanic sagen?

Heinrich kopierte mir einen Website-Ausdruck, auf dem steht: Resistance to the economic malaise that continues to grip Detroit. Resistance to the seemingly continuous erection of barriers between people without any thought towards the future. Resistance to the oppressive stereotypes that segment cultures that would otherwise unite. UR is about moving beyond the linguistical pitfalls that limit expressive communication by the use of a more natural lexicon based on tones, rhythms, and melodies. UR is techno music. Ziemlich toll auch die alten Platten Kelli Hands auf ihrem eigenen Acacia Label. Yolanda wird sie alle haben. Womöglich auch Du. Wir haben hier leider nur zwei CDs von ihr stehen. Die nach wie vor überfällige Anschaffung eines Plattenspielers in dieser Wohnung. Du bist ja alt genug, ganz selbstverständlich einen besessen zu haben, als House und Techno aufkamen. Ich erinnere mich, wie wir in Deinem ungeheizten Mannheimer Zimmer saßen und unser Urteilsvermögen dahingehend trainierten, bereits nach wenigen Sekunden entscheiden zu können, welche Plattenseite auf 45 und welche auf 33 Umdrehungen pro Minute abzuspielen ist. Auf den ersten Blick zu erkennen, welches Stück von außen nach innen und welches von innen nach außen läuft. Entsprechend zielsicher den Tonarm aufzusetzen. Heinrich ist mal wieder nach Bitburg abgereist; ich treffe mich heute abend mit drei portugiesischen Taucherinnen. Wir wollen diesen Sommer vor den Azoren tauchen. Im Attachment kannst Du, neben Kodwo Eshuns von Christoph Gurk ins Deutsche gebrachtem Text, ein Foto von mir im noch aus Deiner Zeit stammenden hellblauen italienischen Badeanzug öffnen, letzten Sommer von Heinrich aufgenommen an einem von Nazis völlig unbehelligten brandenburgischen Weiher.

Kodwo Eshun: Ähnlich wie Underground Resistance auf dem X-103-Album Atlantis, asphaltieren Drexciya ihr Unterwasserparadies und machen das Bermuda-Dreieck zur Bühne für die permanente Neuaufführung ihres Krieges. Die moderne Wissenschaft besitzt mehr Erkenntnisse über den Roten Planeten als über die Schlachtfelder auf dem Meeresgrund. Deshalb bieten solche unerforschten Abgründe die perfekte Umgebung für Konzepte, die tief im Tracklisting verborgen oder in die unteren Schichten des Vinyl gepreßt sind, für Vorstellungen und Ideen, nach denen du tauchen mußt. George Clinton fällt mir ein, der schon 1978, nach der geglückten Landung seines extraterrestrischen P-Funk-Mutterschiffs, auf einer Parliament LP gesungen hatte: I can do my thing under water. Bestens gelaunt im weißen Cowboy Dress, silbernen Ghetto Blaster geschultert, auf anthrazitfarbenen Delphinen über den Atlantik surfend. Zu Titeln wie You're a Fish and I'm a Water Sign, Aqua Boogie, Liquid Sunshine oder Deep. Parliament auch als jene P-Funk Band, die ihr 1974er Album Chocolate City benannt hatte. Das Kapitol, der Obelisk, Lincolns Denkmal: komplett mit Schokolade überzogen. Washington als afrikanisch-amerikanische Stadt. Der begleitende Text zur CD-Version von The Quest fragt: Könnte es Menschen möglich sein, unter Wasser zu atmen? Und antwortet: Ein Fötus im Mutterleib lebt ganz gewiß in einer aquatischen Umgebung. Schwangere afrikanische Sklavinnen wurden auf ihrem Weg nach Amerika zu Tausenden über Bord geworfen, weil sie krank und zu einer lästigen Fracht geworden waren. Ist es möglich, daß sie Babys im Meer entbunden haben, die keine Luft brauchen? Bei einem Laborversuch konnte zuletzt ein menschlicher Fötus vor seinem sicheren Tod gerettet werden, indem ihm flüssiger Sauerstoff in die unterentwickelten Lungen gepumpt wurde. Sind die Drexciyaner die unter Wasser mutierten Nachkommen dieser unglücklichen Opfer menschlicher Habsucht?

Mein, neben UR, liebstes Detroit Techno Label: Red Planet. Produced by The Martian. Yolanda sagt, die Menschheit solle sich nicht wundern, wenn diejenigen, die sie in der Fremde zu leben zwang, sich fortan als Fremde definierten. Wenn diejenigen, denen sie Menschenrechte nie zuerkannte, sich zunehmend auf posthumane, extraterrestrische, astronautische bis aquanautische Tugenden beriefen. Siehe auch Atlantis, die Doppel-LP von X-103 aus dem Jahr 1993. Die OBX-A EP von X-102 hatte 1992 noch, den Kreis von Sun Ra bis UR schließend, den Untertitel The Rings of Saturn getragen. Ihre Stücke fanden sich im Vinyl den Ringen des Saturns entsprechend angeordnet. Kodwo Eshun sagt: Drexciya verlegen dieses außerirdische Diskontinuum zurück auf die Erde und, dort angekommen, unter Wasser. Anstatt den Boden der Tatsachen zu berühren, sinkt ihre Sonic Fiction mit der unsichtbaren Kraft eines optischen Magnetrons durch den Asphalt. Der Esoterrorist, der seinen Schrecken mit Hilfe esoterischer Mythensysteme ausübt, infiltriert die Welt, indem er logische Bomben legt, um danach wieder zu verschwinden. Er läßt, mit Kodwo Eshuns Worten, konzeptuellen Sprengstoff detonieren und multipliziert Löcher innerhalb der Wahrnehmung, die das gesamte Universum austrocknen. So berichten die drexciyanischen Hüllen- und Etikettentexte von Begegnungen mit Kiemenmenschen und Sumpfmonstern an der Küste im Südosten der Vereinigten Staaten, die Drexciyas trans- beziehungsweise subatlantische Theorie von den Sklavenverschleppungen erschreckend logisch klingen lassen. Sind die Drexciyaner vom Golf von Mexiko über den Mississippi an den Lake Michigan gewandert? Wurden sie, fragt Eshun, von Gott verschont, damit sie uns belehren? Oder uns terrorisieren?

In das schwarz glänzende Vinyl im Umfeld der Auslaufrille von UR 37, The Return of Drexciya, 1996, fand ich die Formulierung You don't know what lurks in the fog geritzt und überlegte mir, ob die in Techno Clubs so verbreitete Nebelmaschine, und mit dieser das Trockeneis, das wir einatmen, womöglich als Bindeglied trockener und feuchter Subkulturen betrachtet werden könnte. Der Unbekannte Verfasser schreibt: Wandeln sie unter uns? Sind sie weiter fortgeschritten als wir? Wie und warum machen sie diese merkwürdige Musik? Was ist ihr Streben? Vier Landkarten fand Cordula im Deckel der Jewel Box von The Quest vor. Erstens, den Atlantik sowie die Ränder der ihn begrenzenden Kontinente abbildend: Der Sklavenhandel, 1655 bis 1867, mit schwarzen Punkten, die ein Dreieck zwischen Portugal, Senegal und dem Cape Hatteras markieren. Zweitens, eine Karte der USA: Migration der ländlichen Schwarzen in nördliche Städte, erkennbar dabei Los Angeles, Chicago, Detroit und New York, dreißiger bis vierziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Drittens, mit gleichem Kartenausschnitt: Techno verläßt Detroit, dehnt sich weltweit aus, datiert auf 1988, mit über die Landesgrenzen hinausweisenden Pfeilen in alle Himmelsrichtungen. Viertens, die Karte zeigt jetzt beide Amerikas, den Atlantischen Ozean, Europa und Afrika: Die Heimreise, Zukunft, gebündelte Vektoren ohne Richtungsanzeige zwischen den beiden Amerikas und Westafrika. Alles ziemlich einleuchtend. Wo Kodwo Eshun allerdings danebenzuliegen beginnt, urteilte Yolanda, während ihr Drucker Cordulas Attachment ausspuckte, wo er, ganz Europäer, sagte sie, eventuell über den Rand seiner Londoner Kaffeeschale nicht hinauszublicken vermag, ist, wenn er in seinem Vortrag behauptet, die akustischen Fiktionen der Drexciyaner trieben die Entmenschlichung auf die Spitze, indem sie die Welt mit emotionslosen Halluzinationen bevölkern, die dir den letzten Nerv rauben. Ich fragte: Was hört der wohl zu Hause für Platten? Und führte aus: Für mich sind Drexciyas Einspielungen ebenso tief beseelt wie die von King Oliver's Creole Jazz Band. Für mich auch, befand Yolanda, nach einer teuren Sonnencreme kramend, die sie mir, der ich bereits gepackt hatte, mit nach Ocracoke geben wollte.

Anzeigentext vom Juni 1924: Weird, bohemian and excitingly different. King Oliver's Original Creole Band. Brunswick Recording Artists. Direct from New Orleans. Der Evening American schrieb: A pinch of Greenwich Village and a dash of the Parisian Underworld. The Tribune: Atmospheric as the devil. Joe Oliver war auf die fatale Schließung des New Orleanser Vergnügungsviertels Storyville hin, wie viele seiner Kollegen, nach Chicago gezogen, dessen rasant expandierende und ekstatisch pulsierende South Side unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg das größte Zentrum urbaner afrikanisch-amerikanischer Kultur bildete. Als ich die Gegend letztes Jahr zum ersten Mal aufsuchte, kam der Busfahrer, es mag beim vierten oder fünften Halt gewesen sein, jedenfalls südlich des Illinois Institute of Technology, in dem einst die theoretischen Fundamente für die sogenannte Modernisierung der South Side gelegt wurden, mit deutlich besorgter Miene den Mittelgang seines Fahrzeugs entlang nach hinten gelaufen, um mich, unter den neugierigen Blicken aller anderen, wie ich urplötzlich feststellte, ausschließlich afrikanisch-amerikanischen Fahrgäste, zu befragen, wo ich denn, ja, ich, hinwollte. Ob ich mich nicht in der Linie geirrt hätte. Beziehungsweise in deren Fahrtrichtung. Kurzum: Was mein Streben sei. Ich bemühte mich, unbeirrt freundlich in die Runde zu lächeln, wedelte ein bißchen verlegen mit den drei, vier Schallplatten, die ich mir eben auf dem Flohmarkt gekauft hatte, darunter, erinnere ich ganz genau, DJ Chips EP South Side Cum'n, und stieg schließlich an einer bestimmten Straßenecke aus, die ich, mitreißenden Berichten aus der Jazz- und R&B-Geschichte zufolge, als den vitalen Mittelpunkt so vieler wertvoller kultureller Errungenschaften aus der Windy City, die auch mein Plattenregal zierten, begriffen hatte. Doch weit gefehlt; ich stand, kaum daß sich der Bus aus dem Staub gemacht hatte, nur unter einer einsamen, im Wind quietschenden Straßenlaterne. Die Grundstücke rundum wie leergefegt. Einige wenige Häuser, verfallen und, falls nicht, vernagelt, trostlos aus dieser posturbanen Ödnis ragend.

Flechten einer Steppe gleich hatten sich Gräser und Gestrüpp das Land zurückerobert. Trampelpfade, hier und dort kreuzend. Wer ging dieser Wege? Weit und breit war niemand zu sehen. Dabei erzählten noch die jüngsten Platten des hiesigen Dance Mania Labels voller Stolz von der lebendigen South Side, die Disko Baller Clique bewarb ihre 12-inches sogar mit dem Slogan: Ghetto Music South Side Worldwide. Ich lehnte mich an den Kotflügel eines Autowracks, beobachtete ein paar räudige Hunde, die um einen Haufen alter Wolldecken streunten. Vor meinen Füßen eine ausgelaufene Batterie. Im Hintergrund die endlose Silhouette der Robert Taylor Homes. Ghetto Style als das Dance Mania am häufigsten verliehene Prädikat. Dann endlich doch noch, auf dem verwaisten, unebenen Bürgersteig, ein menschliches Wesen mit Kapuze, unklar, welchen Geschlechts, womöglich jenseits aller Geschlechtlichkeit, mühselig einen Einkaufswagen voller leerer Getränkedosen vor sich herschiebend. Auf mich zu. An mir vorbei. Desillusioniert schlug ich mich in Richtung Dr. Martin Luther King, Jr. Drive durch und nahm an der 43rd Street zwischen Prairie und Calumet die nächste Hochbahn zurück nach Norden. Keine Seele außer mir auf dem Bahnsteig. Als der Zug einfuhr, saßen sämtliche Passagiere in einem Waggon. Also stieg auch ich in diesen. Damals wußte ich noch nicht, daß inmitten dieser als die desolatesten der gesamten USA apostrophierten Slums der noble Campus von Chicago liegt, westlich, östlich sowie südlich begrenzt durch breite, segregierende Grünanlagen, nach Norden hin durch eine sogenannte integrierte Nachbarschaft namens Hyde Park, in welcher besserverdienende afrikanische und europäische Amerikaner neben- und übereinander wohnen. Die Universität, mit ihren antikisierenden Anwesen im altenglischen Stil, ihren penibel gepflegten Gärten, ihrer ganzen preziösen Idylle, inmitten der offen verzweifelten South Side einen unglaublichen Akzent setzend. The University of Chicago, in deren auf zwei Gebäude verteilter, unterirdischer, anheimelnd verwinkelter Campus-Buchhandlung ich später anregende Funde wie Arnold R. Hirschs Making the Second Ghetto, Untertitel: Race and Housing in Chicago, Frank Kofskys Black Music, White Business oder den Materialienband zu Zora Neale Hurstons Sweat tätigen würde. Nicht zuletzt: Chicagos Universität, in deren Joseph Regenstein Library Yolanda seit vergangenem Jahr an fünf Nachmittagen pro Woche arbeitet.

Charles Ford und Parker Tyler: The Young and Evil, Obelisk Press, Paris 1933. 5. Kapitel: The Party. The next night Julian was expecting people he knew and people he did not know. He had told those he knew to come by for a raid-party and they were prepared to be taken to the station in the Black Maria. He had borrowed a portable victrola from Theodosia. She had records of Duke Ellington's timed primitiveness, King Oliver's trumpets and clarinets and Bennie Moten's natural rhythms. Julian wore a black shirt and light powder-green tie. His dark hair had been washed to a gold brown and fell over his forehead. Karel, as he had promised, came by three hours before the others bringing his box of beauty that included eyelash curlers, mascara, various shades of powder, lip and eyebrow pencils, blue and brown eyeshadow and tweezers for the eyebrows. Julian submitted to his artistry, only drawing the line at his eyebrows being plucked. Karel never did badly by his own face. He put an infinitesimal spot of lip salve in each nostril and almost invisible lines of black running vertically in the center of each eyelid. His eyelashes, as Frederick Spitzberger always predicted, were long enough now to catch in the boughs. His mouth, though not long, was made smaller sometimes by his raising the lower lip and pushing in the upper lip with it. Of course his eyebrows often looked the same as the week before. They could be pencilled into almost any expression: Clara Bow, Joan Crawford, Norma Shearer, etc. He thought he would choose something obvious for tonight. Purity.

Tillmann schickt mir, auf unsere Diskussion über Dana International Bezug nehmend, einen konfusen israelischen Zeitungsartikel über Geschlechtswechsel und jüdische Gesetzgebung sowie, unser gemeinsames Projekt betreffend, ein Taschenbuch namens Negro and Jew: An Encounter in America, in dem sich siebenundzwanzig ausgesuchte US-amerikanische Juden gegen den Antisemitismus der Black Power-Bewegung verwenden. Auf einem Symposion der Theodor Herzl Foundation basierend und wohl erstmals im Dezember 1966 in der Zeitschrift Midstream abgedruckt. Ich habe Tillmann ein Manuskript Orator Cooks aus unserer Handschriftenabteilung kopiert und packe ihm das, mit nassen Haaren, halb angezogen, an meinem Schreibtisch sitzend, vorsichtig ein, verspreche ihm mit einigen wenigen hingekritzelten Zeilen, sobald die Umbauten, das leidige Regenstein Reconfiguration Project, dies zulassen würden, historische Regierungsunterlagen zum atlantischen Sklavenhandel, die wir archiviert und systematisch auf Mikrofilm übertragen haben. Zwischen zwei Pappen klemme ich, aus dem umfangreichen Nachlaß meines Urgroßvaters, als kostbare Dreingabe eine afrikanisch-kubanische Schellack-Platte des Orquestra de Félix González aus dem Jahr 1916 mit dem Titel El Deutschland, der sich, laut Cristóbal Díaz Ayala, auf ein kaiserlich deutsches U-Boot bezieht, das während des Ersten Weltkriegs durch die Karibik kreuzte.

Ich ziehe mir ein Kleid über, treffe unten auf der Damen Avenue zufällig Lee, mit dem ich kurzentschlossen frühstücken gehe. Lee, der eine unmögliche Flokati-Weste trägt, erzählt mir von seiner neuen Band Butterfly, die ausschließlich Songs von Mariah Carey nachspielen wird. Ich schlage ihm meine Nachbarin Shanice als Sängerin vor. Lee sagt: Ich singe selbst. Well, okay, denke ich. Anschließend nehme ich die Blue Line zum Loop, gehe dort ein bißchen bummeln, kaufe mir kostspielige Kosmetika, exotische Zeitschriften aus Europa und nehme die Green Line bis Garfield. Spaziere durch den Washington Park zur Universität hinüber, sehe das Bibliotheksgebäude, dessen Baulärm ich bereits beim Überqueren der Cottage Grove Avenue hören kann, in der seit Monaten obligatorischen Staubwolke liegen. Ich gehe zu Deborah ins Jazz-Archiv und lasse mir Slim Gaillards Lebensdaten heraussuchen. Bulee Slim Gaillard, klassischer Hipster, nach verschiedenen Angaben zwischen 1911 und 1916 als Sohn eines afrikanischen Amerikaners und einer jüdischen Amerikanerin in Detroit geboren, von Kerouac in On the Road besungen, 1991 in London, England, gestorben, wo Tillmann ihn in den Achtzigern noch getroffen und interviewt hat. Ein gigantischer Kerl, so Tillmann, ein sanfter Riese, Negro and Jew, im weißen Anzug, weiße Baskenmütze auf dem Haupt. Slim Gaillard, in Tillmanns Worten, als unser gemeinsames Baby. Dabei ist gar nicht klar, ob Tillmann auch nur im entferntesten jüdischer Abstammung ist. Sein Großvater hatte sich wohl eines Tages im Luftschutzbunker lautstark gegen Hitler geäußert, geäußert im Sinn von geoutet, und daraufhin einen Nachweis seiner arischen Abstammung erbringen müssen. Nach mehreren Generationen sei da ein Leinweber namens Israel aufgetaucht. Aber das heiße eigentlich noch gar nichts, behauptet Tillmann. Sein Großvater mußte jedenfalls für den Rest des Krieges Leichen aus den zerbombten Häusern seines Viertels bergen. Wahrscheinlich gibt es kaum Deutsche, in deren Adern nicht auch jüdisches Blut fließt. Ich denke kurz über die hierzulande weitverbreitete soziale Praxis nach, selbst blasseste Juden nicht als weiß zu klassifizieren. Dann gibt mir Deborah noch einen aktuellen Essay über den von mir hochgeschätzten schwarzen Klarinettisten Don Byron und dessen exzentrisches Faible für Klezmer und jiddischen Jazz mit. Nach wie vor wundere ich mich über Tillmanns Zuversicht, daß uns ein deutscher Verlag das ganze Konvolut abkaufen wird.

Kapitänleutnant Rose in seinem Kriegstagebuch zum offiziellen Besuch des unter seinem Kommando stehenden U-Boots U 53 im Hafen von Newport, Rhode Island, am 7. Oktober 1916: Um 4 Uhr 30 nachmittags kam Admiral Gleaves persönlich mit seinen Damen zur Besichtigung des Bootes. Ich habe ihn, wie auch vorher mehrere jüngere Offiziere, durch das Boot hindurchgeführt. Neidvolle Begeisterung erweckten vor allem die Dieselmaschinen. Es kamen sehr viele Offiziere mit ihren Damen, Zivilisten, Berichterstatter und ein Fotograf an Bord. Die Mannschaften erhielten allerhand kleine Geschenke. 5 Uhr 30 nachmittags Anker gelichtet. Ausgelaufen 6 Uhr 30 nachmittags. Prüfungstauchen, Kurs Nantucket-Feuerschiff, 270 Umdrehungen gleich 9 Seemeilen Fahrt. Admiral Scheer, die folgenden Ereignisse in seinen Kriegserinnerungen zusammenfassend: Nantucket-Feuerschiff wurde am 8. Oktober morgens um 5 Uhr 30 erreicht. Sehr sichtiges, ruhiges Wetter. Der Kommandant beschloß hier, außerhalb der Hoheitsgrenze den Handelsverkehr zu untersuchen und Kreuzerkrieg zu betreiben. An diesem Kreuzungspunkt zahlreicher Verkehrsstraßen konnte das Boot im Laufe des Tages sieben Dampfer anhalten und versenkte, nachdem die Besatzungen durchweg vorher ihre Schiffe verlassen hatten, den britischen Dampfer Strathdene aus Glasgow, den norwegischen Dampfer Chr. Knudsen, mit Gasöl nach London bestimmt, den englischen Dampfer Westpoint, den holländischen Dampfer Blommersdyk, dessen Ladung durchweg aus absoluter oder relativer Konterbande bestand. Roses Kriegstagebuch: Um 10 Uhr 30 abends trat das Boot den Rückmarsch an. So wünschenswert es gewesen wäre, die Wirksamkeit an der amerikanischen Küste möglichst lange auszudehnen, so machte die Rücksicht auf den Brennstoffvorrat jeden weiteren Aufenthalt zu einem den Ausgang des ganzen Unternehmens gefährdenden Entschluß.

Heinrich hat Schallplatten von Hardwax für 400 Mark, zwei Technics-Plattenspieler und ein Mischpult in unsere Wohnung geschleppt, alles sorgfältig verkabelt und ist nun überhaupt nicht mehr ansprechbar; möchte alles mit allem mischen, was ihm aber nicht recht gelingen will. Was hat er nun im Sinn, wenn er auf seinem linken Plattenteller Maurizio laufen hat und, gleichzeitig hörbar, auf dem rechten Albert Ayler? Das läßt sich in Worten eben gar nicht ausdrücken, sagt Heinrich und stellt unsere Anlage, sichtlich verunsichert, auf Kopfhörerbetrieb um. Zu seinen Füßen, neben den Hardwax-Tüten, ein Stapel Langspielplatten, die er kürzlich aus dem Bitburger Elternhaus mitgebracht hat: The Red Crayola komplett, Robert Wyatt und sehr viel Jazz. Ich verlasse die Wohnung, sehe mich in der Stadt nach einem neuen Tauchanzug um. Probiere einige an. Finde alle irgendwie unbequem. Ein Verkäufer attestiert mir die ideale Taucherinnenfigur. Und rollt dabei mit den Augen. Was will er zum Ausdruck bringen? Das Vorhandensein bestimmter Körperformen? Oder deren Abwesenheit? Beides wäre unverschämt. Ich setze mich in ein Straßencafé, lese in der Zeitung, eine Hirnforschergruppe aus Ontario habe jetzt herausgefunden, daß Albert Einsteins Gehirn ungewöhnliche Ausmaße, eine ungewöhnliche Form sowie ungewöhnliche Strukturen besessen habe, die sein Genie endlich erklärbar machten. Ihm habe zum Beispiel eine ganz bestimmte, sonst übliche Furche in der Gehirnregion gefehlt. Demnach läßt sich, denke ich mir, sogenanntes Genie auch aus einem Mangel herleiten, Intelligenz aus Dekadenz; und plötzlich tut mir Albert Einstein leid, der auch auf dem Zeitungsfoto gar nicht wie sonst, irrwitzig erleuchtet und fröhlich, sondern deutlich betrübt dreinblickt. Ein Kranker. Ein am genialen Syndrom erkrankter Jude. Erst vor wenigen Jahren hatten Hirnforscher feierlich verkündet, europäisch-amerikanische Gehirne seien größer, stärker, denkfähiger als afrikanisch-amerikanische. Frauen besäßen sowieso, in allen Völkern, kleinere Gehirne. Die Hirngröße sei also ein primäres Geschlechtsmerkmal.

In einer Bücherkiste vor einem Antiquariat finde ich, für nur eine Mark, einen bemerkenswerten Band aus der Reihe Frauen fremder Völker, 1958 herausgegeben von einem Professor Dr. A. Ch. de Guttenberg: Die Amerikanerin. Im Vorwort gibt sich Guttenberg, der hier die bekannte Funktion des Frauen vermessenden Gynäkologen erfüllt, als Kulturhistoriker aus. Siehe auch: Sittengeschichte, Sittenpolizei. Durch die moderne Entwicklung, schreibt Guttenberg, rückten die Völker einander immer näher. An einem einzigen Tage könne man nach Amerika oder Afrika oder Asien fliegen. Wenn man es darauf anlege, könne man sogar Menschen aller Rassen innerhalb von vierundzwanzig Stunden in ihrem Heimatland aufsuchen. Auf meine S-Bahn wartend, blättere ich Die Amerikanerin auf. Zahlreiche Fotos bebildern das Buch. Titel: Das Call Girl. Striptease. Die erste Verabredung. Das Weekend. Der moderne Wohnwagenanhänger. Das Drive in. Der Swimming-Pool. Ein schwarzes Liebespaar, an irgendeiner überfüllten Strandpromenade, womöglich Coney Island. Er mit einem Cowboy-Hut aus Stroh, sie in einer weißen Bluse mit aufgemalten Sätzen wie Look But Don't Touch oder Keep Off. Bildunterschrift: Die Rassengegensätze in Amerika sind groß. Doch wenn die schwarze Liebe unter sich bleibt, hat niemand etwas einzuwenden.

Titel: Negermädchen in Harlem. Bildunterschrift: Unbeschreibliches Elend herrscht in den dunklen Straßen des Negerviertels in New York. Ein nächtlicher Spaziergang ist für Weiße nicht ratsam. Titel: Negerhotels. Ein Rasseweib in Satin rekelt sich auf ihrer gemieteten Bettstatt. Bildunterschrift: Negerhotels gibt es in vielen Städten der Vereinigten Staaten. Sie sind ebenso luxuriös eingerichtet wie andere Hotels und verfügen über den gleichen Komfort. Titel: Ekstatische Negerschau. Bildunterschrift: Bekannt für ihre hohe künstlerische Leistung und ihr natürliches Ausdrucksvermögen sind die Negerballetts. Titel, weiße Amerikanerinnen ausstellend: Flirt am Strand. Bildunterschrift: Sei es, um dem Freund oder Verlobten zu gefallen, sei es der Versuch, auf dem Weg über ein Pin-up-Foto zu einer beruflichen Karriere zu gelangen, der Badeanzug ist ein wichtiges Kleidungsstück der Amerikanerin. Und ich habe Tillmann ein Foto von mir im Badeanzug geschickt. Dem mit dem modischen Beinabschluß. Ein besonders vorteilhaftes Foto. Mit welcher Absicht? Welchen Vorteil soll mir mein ehemaliger Liebhaber einräumen? Wer wäre ich, wenn ich nachteilhafte Fotos von mir verschickte? Ob Tillmann sich mein fotografisches Attachment ausgedruckt hat? Attachment: Das Angeheftete. To pin up: Anheften. Auch: Den Saum abstecken. Ein Kleid abstecken. Die Haare aufstecken, die Haare hochstecken. Ich steige in meine S-Bahn. Ein Mann, mir gegenüber sitzend, trägt seinen Pferdeschwanz so hoch am Kopf, wie es sonst nur Frauen tun. Eine auffallend junge Polizistin entfernt ihrem tumb wirkenden, kaum älteren Kollegen eine Wimper von der Wange. Er bläst sie von ihrer manikürten Fingerspitze und darf sich nun etwas wünschen. Etwas Verrücktes. Er behauptet, sich etwas total Verrücktes gewünscht zu haben. Nicht verraten, sagt seine Kollegin und nimmt einen gerade eingestiegenen Ausländer ins Visier. Beide kommen mir vor wie die Hauptdarsteller in einem neuen deutschen Spielfilm. Ich frage mich: Seit wann gibt es eigentlich Polizistinnen? Der Ausländer zeigt seinen Ausweis. Mir fällt ein, wie nachdrücklich ein Bekannter Heinrichs neulich betont hat, auf heutigen Studentendemonstrationen sähen die Polizistinnen besser aus als die weiblichen Demonstrierenden. Das sei zu seiner Zeit absolut andersherum gewesen. Titel: Amerikanische Studentin. Bildunterschrift: In Amerika gibt es fast genauso viel Studentinnen wie Studenten, weil die amerikanische Studentin weniger einen Studienabschluß anstrebt als das Kennenlernen des künftigen Gatten. Als ich nach Hause komme, schallt mir bereits im Treppenhaus The Quest in nie gehörter Tiefe, nie gehörter Wärme und nie gehörtem Volumen entgegen. Save the vinyl. Wie haben wir es nur so lange allein mit unserem CD-Spieler aushalten können?

Henry Orenstein: Dear Mr. President, I am a survivor of five concentration camps. My parents, my brother, and my little sister were brutally murdered by SS stormtroopers. These SS stormtroopers were not just following Hitler's orders. All over Europe, wantonly and willingly, they killed innocent children, old and helpless people, the sick, men and women in the prime of their lives, Gentiles as well as Jews. These SS stormtroopers also massacred in cold blood American prisoners of war. I know about your personal feelings regarding the horrors of the Nazi atrocities. I have watched you speak about them. I saw the tears in your eyes. I came to live in this great country as a free man. I am, and will forever be, grateful to it for opening its gates to me. I voted for you in both elections for President. I admire you for inspiring all of us to believe in ourselves and renew our faith in our country. The news of your planned visit to a German cemetery containing graves of SS stormtroopers came as a shock to me. I was not able to sleep that night. A President of the United States should not be honoring the remains of the butchers of Europe. It would be inconsistent with your record and commitment to freedom. Adding a visit to a former concentration camp site is welcome but does not bear on the visit to the Bitburg cemetery. One cannot memorialize sadistic killers and compensate for it by honoring their victims as well.

Nach einer Meldung der Deutschen Presseagentur ist gestern, am 23. Juni 1999, ein achtundsiebzigjähriger Mann der Beihilfe zum grausamen Mord an Juden für schuldig befunden worden. Von einer Bestrafung habe das Landgericht Braunschweig aber abgesehen. Die Begründung des Urteils durch den Richter: Wir müssen zu seinen Gunsten davon ausgehen, daß der Angeklagte zum Tatzeitpunkt zwanzig Jahre alt war, und deshalb das Jugendstrafrecht anwenden. Yolanda schreibt mir, daß Slim Gaillard von seinem Vater, der als Steward auf einem Ozeandampfer arbeitete, aus Versehen einmal sechs Monate lang auf Kreta ausgesetzt wurde. Gaillards Flat Foot Floogie sei auf der New Yorker Weltausstellung 1939 in eine Zeitkapsel geschweißt worden, damit spätere Epochen einmal einen Begriff davon bekämen, wie die damalige Musik geklungen habe. Slim in London zu mir, eine verkleinerte Reproduktion der ursprünglichen Notation aus seinem Portemonnaie fingernd: In Wirklichkeit heißt es ja Flat Foot Floozy. Plattfußflittchen. Plattfußschickse. Schickse: Jiddisch für nichtjüdisches Mädchen, Christenmagd. Aus orthodoxer Sicht: Schickse für unfromme Jüdin. Yiddish as a Germanic language; Yolanda hatte das auf Anhieb gar nicht glauben wollen. Robert Wiener am 5. März 1999: Ich habe aus zuverlässiger Quelle erfahren, daß, neben Cab Calloway, einige afrikanisch-amerikanische Musiker, die in Nachbarschaften aufgewachsen sind, in denen viel Jiddisch gesprochen wurde, selbst ein bißchen Jiddisch sprechen konnten. Das sollte nicht weiter verwundern. Wiener nennt Willie the Lion Smith, Dinah Washington und Slim Gaillard. Und fragt abschließend an, ob ihm jemand in dieser Sache weiterhelfen könne.

Ingemar Johansson am 11. März 1999: Ich habe irgendwo gelesen, daß auch der Sänger und Schlagzeuger Leo Watson sich manchmal im Jiddischen hervortat. Klingt plausibel, da er sich in denselben Zirkeln wie Slim Gaillard bewegte. Und wäre einmal eine nähere Betrachtung wert. Hat hier etwa Ingemar Johansson, der schwedische Boxweltmeister im Schwergewicht, geschrieben? Der seinen Titel 1959 dem afrikanischen Amerikaner Floyd Patterson abrang? Von dem er ihm aber 1960 wieder abgeknöpft wurde? Und den, woher ich, der ich mich für den Boxsport nicht interessiere, diesen Fall überhaupt gegenwärtig habe, Eldridge Cleaver, damals Informationsminister der Black Panthers, in seinem Buch Seele auf Eis, Kapitel Weiße Frau, schwarzer Mann, im Zusammenhang des Sieges von Joe Louis, Sklave, Körper, schwarz, über Max Schmeling, Herr, Hirn, weiß, erwähnt? Max Schmeling besiegte Joe Louis 1936, Joe Louis Max Schmeling 1938. Eldridge Cleaver schrieb dreißig Jahre danach: Und als Cassius Clay, der großmäulige Clown, sich von seinem Image als Körper befreite und zu Muhammad Ali, dem Gehirn, wurde, konnten die Scheißweißen ihre Dreckschnauzen nicht halten. Sieh mal, Junge, wir haben noch eine kleine abschließende Berichtigung vorzunehmen. Ich werde weiter das Gehirn sein, und du bleibst weiterhin der Körper. Du arbeitest, und ich ficke. Das Gehirn muß den Körper kontrollieren. Um meine Allgewalt zu beweisen, muß ich dich zum Hahnrei machen und deine Bulleneier zügeln. Ich habe mir dazu etwas überlegt. Ich werde sexuelle Freiheit haben. Ich werde Umgang mit der weißen Frau haben, und ich werde Umgang mit der schwarzen Frau haben. Die schwarze Frau wird Umgang mit dir haben, aber sie wird auch Umgang mit mir haben. Ich verbiete dir den Umgang mit der weißen Frau. Die weiße Frau wird Umgang mit mir, dem Allmächtigen Administrator, haben, aber ich verweigere ihr den Umgang mit dir, dem Supermaskulinen Knecht. Indem du deine Männlichkeit der Kontrolle meines Wissens unterwirfst, werde ich dich in der Hand haben. Im Nachwort: Eldridge Cleavers verzweifelte Maxime, möglichst viele weiße Frauen zu vergewaltigen. Cleavers grüne Augen als die des Teufels. Aus heutiger Sicht: Muhammad Alis tragische Erkrankung. Alis Parkinsonsche Krankheit. Robert Cohen am 11. März 1999: Slim Gaillard nahm auch eine wunderbare, ganz reizende Jump Blues-Nummer namens Matzo Balls auf. Matzo balls, gefilte fish, best ol' dish I ever, ever had. Meine Quelle verrät mir aber auch, daß er einen Song mit dem Titel Dunkin Bagel aufgenommen hat. Leo Watson nahm Ot Azoi auf und buchstabierte es Utt Da Zay. Ingemar Johansson am 11. März 1999: Danke, Robert. In einem früheren Schreiben habe ich den Mishugana Mambo erwähnt, von dem ich annahm, daß er einige jiddische Untertöne besitzt. Stimmt aber gar nicht. Bleibt also die Frage, ob Slim Gaillard wirklich Jiddisch sprechen konnte. Womit ich nicht sagen will, daß Slim überhaupt keine Ahnung vom Jiddischen gehabt hätte.

The Jewish Internet Consortium dokumentiert diese Debatte leider nicht über den 11. März hinaus. Ist niemandem mehr etwas zu dem Thema eingefallen? Per Suchmaschine lande ich auf der Homepage eines schwedischen Fotografen namens Ingemar Johansson. Ich klappe meinen Rechner zu, springe in den Wagen und hole Vermilion von ihrer Arbeit ab. Sie sieht super aus; ich freue mich, sie neben mir sitzen zu haben. Ihr T-Shirt besitzt keinen Aufdruck; Vermilion trägt einfach nur ein weißes T-Shirt. Und einen zinnoberroten Wickelrock. Dazu schwarze Kunststoffsandaletten mit Klettverschlüssen. Zinnoberrote Zehennägel. Ich schaue an mir herunter, versuche mir vorzustellen, was für einen Eindruck ich auf meine Beifahrerin mache. Mein luftiges, hellblaues Hemd flattert im Fahrtwind. Wir passieren den Air Strip. Vermilion behauptet, daß sie fliegen kann. Ihr Großonkel habe, am Rand des Great Dismal Swamp, die Äcker beflogen, nachts auch die Ortschaften, um die Mücken zu exterminieren, und habe sie, Vermilion, dabei öfter mal auch an den Steuerknüppel gelassen. Fliegen sei eigentlich ganz leicht. Sie habe in Lynchburg noch eine Schwester namens Magenta. Ihre Mutter, die auf den Namen Rosa getauft sei, rede ihren Vater, der in Wirklichkeit Rod heiße, mit Red an. Ihre Familie sei total anglo. Jiddisch habe sie erst an der Uni gelernt. Ob sie auch einmal Jiddisch mit mir reden dürfe. Bisher hätten wir fast ausschließlich Englisch miteinander gesprochen. Okay, sage ich, nur zu, doch ich befürchte, daß ich nicht alles verstehen werde. Und schon legt Vermilion los; etwas offenbar Lustiges, ein pointierter Witz womöglich, mit Luftmensch als zentralem Terminus. I'm sorry, I didn't get it. Von meinem Hochdeutsch bekommt Vermilion hingegen fast alles mit. Sie verspricht mir gelegentlichen Einblick in ihre Brooklyn-Papiere. Wo die Insel ganz schmal wird und von der Straße aus sowohl der Sund als auch die offene See zu sehen sind, halten wir an und gehen auf der Atlantikseite schwimmen. Als wir wieder Land betreten wollen, reißt uns eine Welle um, und wir liegen, für einen kurzen, aber eindringlichen Moment, einander wie ein Liebespaar umschlingend, in der Brandung. Wow, that was fun, lacht Vermilion und frottiert sich, mit schräg geneigtem Kopf, die Haare. Ihr Davidstern glitzert im Sonnenlicht. Wow, sage auch ich, nachdem ich meine nasse Badehose mit den trockenen Bermudas vertauscht habe. An meinem rechten Oberschenkel erkenne ich eine leichte Verletzung; spüre das Salz des Meeres in ihr brennen. Die Küste der Outer Banks steht unter Naturschutz. Gleichzeitig wandert sie, von Wind und Flut bewegt, nach Westen. Der alte Leuchtturm am Cape Hatteras will deshalb gleich ins Wasser fallen. Woanders hätten sie die Küste befestigt, damit so ein Leuchtturm nicht ins Wasser kippt. Eine Küste zu befestigen sei eigentlich ganz einfach, sagen die Leute im Café Atlantic. Doch da ist hier nun mal der Umweltschutz dagegen, sagt Vermilion, mit der ich am nördlichen Ende der Insel stehe und auf die Autofähre nach Hatteras warte.

Vermilion fragt vorsichtig, ob vielleicht sie mir die Schramme am Oberschenkel, etwa mit ihren Fingernägeln, beigebracht haben könnte. Der Gedanke scheint ihr zu gefallen. Amerikanerinnen lassen ihre Fingernägel ja länger wachsen als europäische Frauen. Womöglich war es auch, antworte ich, während der Fährhafen von Hatteras vor uns auftaucht, eine Muschel, ein Glassplitter, eine Schraube aus einem gesunkenen, einem versenkten Schiff. Vermilion kann mir die irre Geschichte von einem Laden für Tauchausrüstungen am Festland erzählen, der sein gesamtes Schaufenster mit den Knochen reichsdeutscher U-Boot-Matrosen dekoriert hatte. Ein paar von den Amerikanern für immer versenkte deutsche U-Boote lägen da draußen auch auf Grund. Und seien natürlich bevorzugte Ausflugsziele der hiesigen Taucher. Vermilion nimmt eine Strähne nassen Haares zwischen ihre Lippen. Das bundesdeutsche Auswärtige Amt höchstselbst hätte schließlich interveniert und die Gouverneure der Carolinas massiv darauf hingewiesen, daß auf dem Meeresboden liegende Kriegsschiffe, sofern sie ihre Mannschaft, und wenn auch nur Teile derselben, mit in die Tiefe gerissen hätten, als Soldatengräber zu betrachten seien; die ewige Ruhe der Gefallenen also nicht gestört werden dürfe. Woraufhin der in diplomatische Verwicklungen geratene Dive Shop die ganzen Knochen aus dem Schaufenster wieder entfernen mußte.

Thomas Meinecke, geboren 1955 in Hamburg, lebt seit 1994 in einem oberbayrischen Dorf. Er ist Musiker bei der Band FSK, Radio-DJ und Schriftsteller. Zuletzt hat er die Romane »The Church of John F. Kennedy« (1996) und »Tomboy« (1998) veröffentlicht. Sein neuer Roman »Hellblau« erscheint am 29. August im Suhrkamp Verlag, hat 340 Seiten und kostet 39,80 DM