Die Folgen der Anschläge auf die USA

Der Elefant auf dem Dach

Die islamistischen Massenbewegungen können nicht ausschließlich mit dem Verweis auf ihre antimoderne Ideologie erklärt werden.

Ein Ärgernis stellte das Dossier der vorletzten Ausgabe dieser Zeitung dar, in dem es um die Terroranschläge in den USA vom 11. September und deren absehbare oder mögliche politische Folgen ging. Vorgeblich jedenfalls, denn einige Beiträge beschäftigten sich mit Erwägungen über die »heroische« oder »postheroische« Ästhetik der Anschläge und fanden »eine direkte Linie von Wagner über Jünger zu Stockhausen«, die haarscharf an den Problemen vorbei ging.

Denn das Grundproblem ist politischer Natur. Und aus ihm resultiert, dass die Mehrheit der AutorInnen in jener Ausgabe der Jungle World einen US-geführten Militärschlag im Mittleren Osten wohl mit Gleichgültigkeit oder gar Zustimmung beobachten würden. Dass dies für den Autor dieser Zeilen nicht zutrifft, liegt mitnichten daran, dass er den Anschlag von New York als irgendwie doch gerechtfertigte Rache der Enterbten mit klammheimlicher Genugtuung betrachtet hätte. Im Gegenteil.

Doch mit den Opfern wird heute bekanntlich Politik gemacht. »Verständnis und Mitgefühl« für die Ermorderten des 11. September, die Thomas Heinrich einfordert, sind notwendig und legitim - wenngleich nicht mehr und nicht weniger als für alle anderen gewaltsam zu Tode gekommenen Menschen auf dieser Welt, und ohne sie gegeneinander aufzurechnen. Doch Verständnis und Mitgefühl können die ebenso notwendige Reflexion über Ursachen und die aktuelle politische Verarbeitung des Geschehens nicht ersetzen.

Die erste Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist jene nach der Motivation der - wahrscheinlichen - Täter und damit auch nach der Natur des dahinter stehenden politischen Projekts. Aus der Sicht eines Kritikers der Verhältnisse kann es dabei nur darum gehen, zu klären, wie denn bitteschön der Elefantenkot aufs Hausdach kommen konnte. Und nicht, darüber zu entscheiden, in welcher Form und in welchem Ausmaß die Verwalter dieser Verhältnisse jetzt zu reagieren haben.

Gehen wir also von dem wahrscheinlichen Fall aus, dass eine Bewegung radikaler Islamisten für die Attentate verantwortlich ist. Präziser gesagt, besteht das Netzwerk des Ussama bin Laden aus transnational operierenden und hoch technisierten Kleingruppen, die mit den real existierenden islamistischen Massenbewegungen äußerstenfalls in loser Verbindung stehen. Um die gesellschaftliche Natur dieser Bewegung zu charakterisieren schreibt Joachim Rohloff von »hirnlosen Werkzeugen islamischer Steinzeittheologen«. Heike Runge spricht von einer »antimodernen Botschaft«, davon, »der Welt den Strom abzusperren«, und einer Bedrohung für »die Moderne und die Emanzipation«. Für die Emanzipation ist der Islamismus mit Sicherheit tödlich. Aber gebrauchen die zitierten AutorInnen den Begriff der »Moderne« nicht in einer ideologisch determinierten Weise?

Christian Y. Schmidt wiederum begrüßt in seinem Beitrag, der bestimmt nicht zu den schlechtesten im Dossier gehört, »die globale Zerstörung ethnischer und religiöser Identität, die Vernichtung des (oft gewalttätigen) Idylls der Doofen und Zurückgebliebenen«, dessen quasi letzte Mohikaner die Islamisten seien. Hat diesem Autor - der die Argumentation im Nachhinein selbst relativiert, sobald er auf das globale Wirtschaftssystem zu sprechen kommt - schon mal jemand gesagt, dass die Zahl national, »rassisch« oder konfessionell definierter Identitätsbewegungen in den letzten 20 Jahren sprunghaft zugenommen hat? Oder dass es heute mehr Grenzen und Kleinstaaten als vor zehn Jahren gibt, etwa in Ost- und Südosteuropa? Karl Marx hatte sich noch von der Bourgeoisie und dem internationalen Handel erhofft, dass sie »alles Idyllische« entzaubern und zerstören würden.

Die damalige Ära aber ist definitiv vorüber, und es gibt heute keinen idyllischen Flecken mehr, der nicht den Regeln und - vor allem im Trikont - den Verheerungen des internationalen kapitalistischen Wirtschaftssystems unterliegen würde. Das bedeutet freilich nicht, dass ein vollkommen abstraktes und globales Dominanzverhältnis sich gleichförmig über alle Länder erstrecken würde. Als ob die USA und Haiti, die Bundesrepublik Deutschland und Afghanistan oder Burkina-Faso das gleiche Gewicht in der Weltpolitik und -wirtschaft hätten.

In jedem Fall aber geht es völlig in die Irre, wenn AutorInnen bewusst oder unbewusst eine Strömung wie den Islamismus mit der Antimoderne schlechthin verbinden. Dagegen spricht nicht nur der Gebrauch der Mittel, die die Attentäter einsetzten - diese Betrachtung bleibt an der Oberfläche -, sondern um die Entstehung des politischen Islamismus selbst. Denn er bildet im Wesentlichen nicht eine Wiederkehr verschütteter Tradition, sondern eine moderne Massenbewegung, die gewisse mit dem europäischen Faschismus verwandte Züge aufweist, der sich ja auch nicht als die reine Wiederkehr des Mittelalters darstellte.

Dennoch bestehen gewichtige Unterschiede zwischen beiden. Vor allem ist der Islamismus in den meisten seiner Spielarten nicht angetreten, um die Welt zu erobern, sondern um die aus seiner Sicht zerrüttete innere Ordnung der muslimischen Gesellschaften wieder herzustellen.

Die wohl wesentliche Erfolgsgrundlage des Islamismus beruht auf dem subjektiven Erlebnis der Form, in der die kapitalistische »Moderne« in die entsprechenden Länder eingedrungen ist - mitsamt dem von ihr instrumentalisierten Diskurs des politischen Liberalismus, der Errungenschaften der Französischen Revolution, der Aufklärung. Nämlich in der Regel in Gestalt europäischer Großmächte, deren Repräsentanten diese Begriffe verwandten und zugleich viele der Länder in ihrer Entwicklung zurückgeworfen haben. Die Kader des politischen Islamismus in Algerien zum Beispiel rekrutierten sich oft an den natur- (und nicht geistes-) wissenschaftlichen Fakultäten, wo diese Strömung mehrheitsfähig ist. Die Anwendung moderner Technologie ist ihnen keineswegs fremd.

Aber sie leben in der Vorstellung, dass - wenn der so genannte Westen schon auf technischer und wirtschaftlicher Ebene dominiert - die muslimischen Länder des Südens dann wenigstens ihre eigene Interpretation der Welt behalten müssten. Denn das kollektive Gedächtnis der Kolonisierung hat verhindert, dass sich in diesen Gesellschaften ein Prozess bis zum Ende vollzog, der im 19. und 20. Jahrhundert

in vielen europäischen Ländern zum Abschluss kam.

Dort sorgten die wissenschaftlichen Entdeckungen und die moderne Technik dafür, dass das alte Weltbild mit Gott als im menschlichen Leben präsentem Ausgangs- und Endpunkt nachhaltig erschüttert wurde. Noch im 17. Jahrhundert nahmen viele EuropäerInnen rätselhafte Krankheiten als »Strafe Gottes« an, um wenigstens über eine Erklärung und eine Handlungsanleitung zu verfügen, statt zu verzweifeln. Nachdem der Cholerabazillus und der Pockenvirus identifiziert worden waren, vertraute der moderne Europäer dann doch lieber der Medizin.

In einer Gesellschaft jedoch, die den Anbruch der europäischen Moderne subjektiv in Form einer äußeren Aggression erlebt hat, wurde dieser eigentlich in allen menschlichen Gemeinwesen zu erwartende Prozess dauerhaft blockiert. Kräfte und Sichtweisen, die unter anderen Umständen wohl als rückständig oder reaktionär kritisiert worden wären, konnten sich dadurch legitimieren, dass sie sich als »Widerstand gegen die äußeren Aggressoren« auswiesen.

Das macht diese Ideen bestimmt nicht besser, erklärt aber in manchen historischen Momenten ihre Anziehungskraft. Weitere Faktoren kommen hinzu: Das Versagen des größten Teils der Linken, das Scheitern staatssozialistischer Entwicklungsmodelle, die rapide Verschlechterung der ökonomischen und sozialen Situation der Bevölkerungen während der letzten 15 Jahre.

Und vor allem auch die kollektive Erinnerung an die durch einen kulturellen Filter interpretierte, aber eine materielle Grundlage besitzende Aggression, etwa in Gestalt des Kriegs gegen den Irak im Jahr 1991, der quer durch die muslimischen Gesellschaften eine extrem starke Rezeption erfuhr. Eventuelle militärische Repressalien der USA und verbündeter Mächte können heute dieses verzerrte Bewusstsein nur stärken. Nichts wäre dadurch gewonnen im notwendigen Kampf gegen den Islamismus als das reaktionäre Projekt, das er in Wirklichkeit ist.

Dieser Kampf kann nur durch innergesellschaftliche Prozesse in den betroffenen Ländern vorankommen. Grundlagen dafür sind vorhanden, da sowohl im Iran unter nunmehr 22jähriger islamistischer Herrschaft als auch beispielsweise in Algerien, dessen Bevölkerung mit der autoritären und repressiven Natur des Islamismus ihre Erfahrungen gemacht hat, der Rückgang der Sympathie für sein Gesellschaftsmodell längst begonnen hat. Für alle, die eines dieser Länder besucht haben, ist diese Realität spürbar. Was keinesfalls bedeutet, dass diese politische Strömung heute schon auf Dauer erledigt wäre.