Absturz einer russischen Passagiermaschine

Terror, Unfall, Sabotage?

Nach dem Absturz einer russischen Passagiermaschine mehren sich die Spekulationen über die Unglücksursache.

Das Flugzeug war direkt vor mir in einer Höhe von rund 11 000 Metern. Dann sah ich eine Explosion und als das Flugzeug ins Meer stürzte, sah ich erneut eine Explosion«, berichtet Garik Ovanisian, ein Pilot der Armenischen Fluggesellschaft von seinem Linienflug von Simferopol in die armenische Hauptstadt Jerewan. 66 Passagiere, 51 von ihnen jüdische Emigranten aus Sibirien, sowie zwölf Mitglieder der Bordcrew kamen bei dem Absturz in der vergangenen Woche ums Leben.

Garik Ovanisian gilt bislang als der einzige und wohl wichtigste Augenzeuge, der die letzten Minuten des Passagierflugzeuges vom Typ Tupolew 154 der russischen Fluglinie Sibir von Tel Aviv nach Novosibirsk beobachtete. Danach folgte das große Spekulieren. Ein Sprecher der russischen Schwarzmeerflotte meinte: »Das Flugzeug ist von der ukrainischen Armee bei einem Manöver irrtümlich abgeschossen worden.«

Doch nicht einmal dessen Oberbefehlshaber schenkte diesen Worten zunächst Glauben. Nach hektischen Telefonaten mit dem ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma, der eine fehlgeleitete ukrainische Rakete als Unfallursache definitv ausschloss, verdächtigte Russlands Präsident Wladimir Putin erstmals andere: »Es ist möglich, dass es ein Ergebnis eines terroristischen Aktes ist. Was ich derzeit weiß, basiert auf den Aussagen unserer ukrainischen Partner, und ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln.«

Kurz darauf sah die Sache jedoch anders aus. Als auch aus US-amerikanischen Geheimdienstkreisen verlautete, dass eine fehlgeleitete Boden-Luft-Rakete aus der Ukraine für den folgenschweren Absturz verantwortlich sein könnte, schwenkte Putin um. »Es könnte ein Unfall sein. Es könnte Sabotage sein. Wir schließen keine Möglichkeit aus.«

Nach einem derartigen Übermaß an Spekulation wusste man 48 Stunden nach dem Absturz genauso viel wie Minuten danach. Immer unwahrscheinlicher aber wurde die These, dass die Tupolew 154 Ziel eines terroristischen Anschlages gewesen sein könnte. Ein direkter Zusammenhang mit den Anschlägen vom 11. September ist nicht zu erkennen, die Strecke Tel Aviv-Novosibirsk ist nicht gerade das attraktivste Ziel, und ein Absturz im Schwarzen Meer auch nicht besonders spektakulär.

»Wäre die Maschine auf den Kreml geknallt, würde es anders aussehen, aber das Schwarze Meer als Ziel ist ein bisschen langweilig«, sagt der Polit-Analyst Victor Gobarev des US-Stratego-Think-Tanks Stratfor und präsentiert noch eine andere These: »Die Fluglinie Sibir gilt als schärfster Konkurrent der Aeroflot. Es kann durchaus sein, dass da jemand Sibir nachhaltig desavouieren wollte. Immerhin saß in der Maschine sogar der für Sicherheitsfragen zuständige stellvertretende Präsident von Sibir.«

Ein simpler Anschlag, organisiert vom Konkurrenten? Zu jedem anderen Zeitpunkt könnte das eine logische Erklärung sein, aber wegen der Anschläge in New York und Washington sieht es eben anders aus. Putin reagierte in der ihm eigentümlichen Weise und beauftragte die zuständigen Behörden mit Untersuchungen wegen terroristischer Aktivitäten und hielt sich somit alle Wege offen.

Ein derartiger Zickzack-Kurs Putins entspringt freilich nicht nur seinem gesteigerten politischen Harmoniebedürfnis, sondern ist vor allem von Staatsinteressen geleitet. So hätte Moskau im Falle eines Terroranschlags einen weiteren gewichtigen Trumpf im Kampf gegen die tschetschenischen Rebellen in der Hand. Auch in der sich formierenden Allianz gegen den internationalen Terrorismus würde Moskaus Mitspracherecht gesteigert. Wenn Russland nämlich tatsächlich Ziel zum eines terroristischen Anschlages geworden wäre, hätte es das Land leichter, seine Position in der von US-Präsident geführten »Allianz gegen den Terror« aufzuwerten.

»Solange keine bildlichen Beweise vorliegen, muss man von einem Bombenattentat ausgehen«, meint der israelische Sicherheitsexperte Schlomo Shpiro. »Die Amerikaner bevorzugen naturgemäß die Raketentheorie, müssten sie doch bei einem Anschlag einen Alleingang der Israelis befürchten.« Und noch eines wäre gerade jetzt unangenehm für die US-Amerikaner: Sollte sich die Anschlagsthese bewahrheiten, würde der Nahost-Konflikt plötzlich in der komplizierten Koalitionsbildung gegen den fundamentalistischen Terror eine Rolle spielen - was die USA unbedingt vermeiden möchten. So hat Präsident George W.Bush zwar eine Liste mit 22 Terrororganisationen veröffentlicht, die etwas mit den US-Attentaten zu tun haben könnten, palästinensische oder den Palästinensern nahe stehende Terrornetzwerke wie Hamas, der Dschihad oder die Hisbollah sind darauf aber nicht zu finden.

Einstweilen nämlich verstärkt Bush vor allem seine Versuche, punktuelle Allianzen mit einigen Ländern in unmittelbarer Nähe Afghanistans zu schmieden. So befand sich sein Verteidigungsminister Donald Rumsfeld Ende vergangener Woche in der usbekischen Hauptstadt Taschkent, um Präsident Islam Karimow zu einer verstärkten Zusammenarbeit zu überreden. Die Übung scheint geglückt zu sein. Usbekistan stimmte zu, eine seiner Luftwaffenstützpunkte für die US-Amerikaner zu öffnen und erlaubte die Stationierung von 1 000 US-Soldaten auf seinem Territorium. Sie sollen im Notfall jene US-Soldaten unterstützen, die in Afghanistan selbst an Sondereinsätzen und verdeckten Operationen teilnehmen werden. Auch in anderen Staaten Zentralasiens wie etwa Tadschikistan werden wohl US-Soldaten oder zumindest logistische Einheiten stationiert werden.

Währenddessen versucht Russland, seine Rolle in der von Bush geschmiedeten Allianz neu zu definieren. So meinte Wladimir Putin am Mittwoch nach einem Treffen mit Nato-Generalsekretär George Robertson gar, Russland könne sich unter Umständen eine Mitgliedschaft in der Nato vorstellen. Selbst bei US-Außenminister Colin Powell reicht die Fantasie für solch einen neuen Bündnisfall aus: »In diesen Tagen ist nichts undenkbar.«

Ein bisschen aus dem Ruder lief in dieser Hinsicht abermals Verteidigungsminister Rudolf Scharping, der sich so etwas nicht vorstellen konnte. Trotzdem möchte Putin die EU als Vermittlerin einer engen Zusammenarbeit mit der Nato benutzen. Bei einem Treffen mit Belgiens Premier Guy Verhofstadt, der derzeit die Ratspräsidentschaft der EU innehat, wurde allgemein von einem neuen »Meilenstein in den Beziehungen zwischen der EU und Russland gesprochen«.

Das neue und manchmal seltsame Einverständnis zwischen der Nato, der EU und Russland - von einigen Ausreißern wie den Statements Rudolf Scharpings abgesehen - hat vor allem einen Hintergrund: Russland befindet sich jetzt in einer noch nie dagewesenen Position gegenüber den USA und der Nato. Der Westen braucht - zum ersten Mal in der Geschichte des Verteidigungsbündnisses - Russland als Partner, um seine militärischen Drohungen gegenüber dem Taliban-Regime wahr machen zu könnnen. Das geht nicht gegen Russland, sondern nur mit Russland, und Putin ist sich dessen bewusst.

Was nun beginnt, ist das Spiel des steten Gebens und Nehmens. Dabei agiert Putin recht geschickt. Vorerst hat er der Nato Genehmigungen für militärische Flüge über russisches Territorium verweigert und nur Überfluggenehmigungen für »humanitäre Flüge« in Aussicht gestellt. Seine Haltung dürfte sich ändern, wenn die Nato ihm in der Frage ihrer Erweiterung nach Osten Zugeständnisse macht. Russland wird sich seine militärische Unterstützung der afghanischen Nord-Allianz vom Westen versilbern lassen. Schließlich könnte das afghanische Abenteuer russische Truppen aus Tschetschenien zwingen und Putin zu einem Ausstieg aus dem Feldzug bewegen. Schon in der letzten Woche ließ er anklingen, Friedensgespräche mit dem Tschetschenen-Führer Alsan Maschadow beginnen zu wollen. Die dort dann frei werdenden russischen Truppen könnten dann etwa in Tadschikistan an der Grenze zu Afghanistan eingesetzt werden.