Retrospektive des syrischen Films in Leipzig

Repression und Depression

Das Leipziger Dokumentarfilmfestival widmete dem syrischen Film eine Retrospektive. Manche der gezeigten Filme erlebten ihre Welturaufführung.

Zurückblicken macht Arbeit: Retrospektiven werden langfristig vorbereitet. Es dauerte drei Jahre, bis die Werkschau des syrischen Dokumentarfilms auf dem diesjährigen Internationalen Festival für Dokumentarfilm in Leipzig gezeigt werden konnte. Bei den kleinen nationalen Kinematografien, die ein Dasein fernab von den Zentren des Weltkinobetriebs fristen, muss oft erst einmal der Bestand erfasst werden. Dann gilt es herauszufinden, ob die gewünschten Filme zur Verfügung stehen. In Syrien existiert keine Kino-Infrastruktur, so wie wir sie kennen: Kopierwerke, Filmarchive, filmwissenschaftliche Seminare oder ähnliche Bereiche können sich die lokalen Filmschaffenden nicht einmal in Ansätzen leisten.

Was es gibt, ist die National Film Organisation (NFO), eine Art staatlich-zentralistischer Produzent. Eine vierköpfige Delegation dieser NFO gleitet in Leipzig durch die Flure, graumelierte Herren in den Fünfzigern. Das diskrete Quartett strahlt verhaltene Geschäftigkeit aus - das passt gut zur Messestadt Leipzig -, aber auch etwas Rätselhaftes. Weht da ein Hauch von Kontrolle oder Zensur? Liegt eine Andeutung von Geheimdiplomatie in der Luft? Oder ist es doch einfach nur mühsam unterdrückte Schwermut? Syrien ist kein Musterbeispiel für ein offenes politisches System, das dürfte ebenso bekannt sein wie die Tatsache, dass Repression Depression fördert.

Dazu dann der große aktuelle Zusammenhang von Attentaten und Kriegsbeginn, und fertig ist eine Atmosphäre allgegenwärtiger Bedrückung. Versuche sprachlicher Vermittlung von kreativen Entscheidungen erscheinen fruchtloser denn je. Eine große Niedergeschlagenheit verweigert den wenigen noch für möglich gehaltenen Sprechanstrengungen die Überzeugungskraft. Vollkommen zu schweigen erlaubt der Rahmen der Veranstaltung nicht, deshalb werden Worthülsen bemüht. Sie gaukeln schnellen Konsens vor, so kann rasch zum Anschauen des nächsten Filmes übergegangen werden.

Drei Jahre Arbeit also, geleitet vom Filmemacher, Cutter und Archivar Kais al-Zubaidi. Eine Biografie mit viel Nachglanz panarabischer Ideale: Ein Iraker, der nach einer Ausbildung in Babelsberg in Syrien Filme macht und dessen Arbeit »Fern der Heimat« vom Leben in einem palästinensischen Flüchtlingslager bei Damaskus handelt. Heute lebt al-Zubaidi, der sich um den Aufbau eines nationalen Palästina-Archivs kümmert, in Berlin.

»Fern der Heimat« bekam 1969 die Silberne Taube in Leipzig zugesprochen. Die Auszeichnung, als internationale Ermutigung aufgefasst, setzte in Syrien eine verstärkte Arbeit am Dokumentarischen in Gang.

Der Beitrag eröffnet die Retrospektive, ein Film zum gleichen Thema beschließt sie. Eine trotzige Klammer. Ansonsten hat man sich in Leipzig für eine Gliederung in vier Blöcke entschieden, sie tragen Titel, die wie Buchkapitel wirken. So etwas zu deuten, darin sind wir inzwischen geübt, das ist ja spätestens seit den arte-Themenabenden medialer Breitensport. Nach der Lektüre des Festival-Katalogs und endgültig nach al-Zubaidis einleitenden Worten zur Eröffnung der Reihe verspreche ich mir das folgende didaktische Programm: Dokumente einer jungen Filmnation über ihr anfängliches Ringen um Themen (Block I, »Suche«), Entwicklungslinien für gestalterische Experimente (Block II, »Versuche«), Filme über die Rolle der Frau zwischen Moderne und Tradition (Block III, »Rituale über sie«) und gleichnishafte Verfahren in der Auseinandersetzung mit politischen Restriktionen (Block IV, »Allegorie«).

Es fällt schnell auf, wie unkonzentriert und ungenau über die Beiträge gesprochen wird. Da werden schöne Filme aus dem ersten Block über einen Kamm geschoren, mit der Bemerkung, sie seien am Neorealismus orientiert, da sei es vorrangig um Inhalte gegangen. Als ob der Neorealismus nicht eine überaus bewusst gewählte Ästhetik gewesen wäre, mit dem Ziel, eine Technik von ihrer Apparathaftigkeit zu befreien. Oder zumindest existierende Spielräume für ihre Verschlankung zu nutzen, um zu Alternativen des Erzählens und Erklärens zu kommen, zu Alternativen der Propaganda- und Manipulationsbegehrlichkeiten, denen jedes Kino immer ausgesetzt ist.

Ein größeres Missverständnis erlebe ich beim zweiten Block. Er war als Plattform für die besonders an formalen Fragen interessierten Filmbeispiele vorgestellt worden. Zu sehen bekommen wir schließlich überwiegend Animationsfilme. Das hat einen leicht philologischen Charakter und soll wohl dem Gastgeber schmeicheln - Leipzig ist auch immer schon ein Festival des Zeichentrickfilms gewesen. Meine durch keinen Hinweis im Katalog gebremsten Erwartungen, dass es jetzt stärker in Richtung einer ästhetischen und thematischen Aktualität gehen könnte, bleiben mit Karacho auf der Strecke. Weder teilt sich mir ein neueres Syrien mit noch ein Bemühen um Diskursanschluss oder andere Austauschversuche. Dem notorischen Symbolismus einer eher an den »kurzen« Formen von Plakatkunst, Karikatur und Sketch orientierten Vorgehensweise, mit ihrem Overkill an Botschaft und Pointe, fühle ich mich schutzlos ausgeliefert. Nicht gut.

Aber so kann es halt gehen. Jeder Versuch, Ordnungen herzustellen, wird eben ständig bedroht von der Willkürlichkeit der eigenen Maßnahmen. Andere Systeme erscheinen da schnell genauso sinnvoll (oder -los). Wer schon mal vorhatte, seine Platten oder Bücher nach Genres zu kategorisieren, kann ein Lied davon singen. So überraschend ist es also nicht, dass sich die abgesteckten Begriffsfelder überschneiden. Es findet sich viel Suche in der »Allegorie«, einige Versuche im »Ritual«. Die Kategorien sind durchlässig, ihre Inhalte fließen durcheinander. Die Frau - sie - steckt überall. Allerdings befindet sie sich sehr selten unter den Filmemachern. Von den 22 gezeigten Beiträgen stammte gerade mal einer von einer Regisseurin.

Ein paar Worte mehr zu drei Filmen: »Melodie für verschiedene Jahreszeiten« von Adnan Madanat aus dem Jahre 1974 ist eine 16minütige Skizze über Kinder, beinahe ausschließlich Jungen, meist auf der Straße gefilmt, in schwarzweiß. Man sieht sie arbeiten, spielen, raufen, anderen Unsinn machen. Anstrengend ist wieder die Musik, »Alle Vöglein sind schon da«, gespielt von einem hypermotorischen Orchester. Der durch den Gegensatz von Musik und Bild womöglich erwünschte Effekt des Grotesken kommt aber nicht zum Tragen, weil die Aufnahmen ihn überhaupt nicht benötigen. Das Fußballspiel in der Gasse ist dynamisch und leicht zugleich, bis es ein Erwachsener unterbricht. Auf dessen autoritär verzerrtem Gesicht ruht die Kamera eine Weile, bevor sie zur nächsten Szene übergeht.

Ein ähnlicher gerontokratischer Eingriff ereignet sich beim Ringen auf dem Bürgersteig. Danach schiebt sich das Kinderknäuel, feixend und weitertretend wie im Slapstick, aus dem Bild.

Das Schaukeln auf einem Auto, das, brutal ausgeschlachtet, vor einer Großstadtkulisse wie das bleiche Tierskelett in der Wüste wirkt, ist einfach ein tolles Bild für Metropolen, für Zeitvertreib ohne Mittel, auch für kaputte Träume und dafür, wie das Leben trotzdem weitergeht.

Es werden auch Kinder gezeigt, die zunächst lustig mit Dartpfeilen werfen, dann mit Spielzeuggewehren, schließlich mit einer Art Luftdruckgewehr schießen, wie wir sie von Kirmesbuden kennen. Ganz am Schluss sind junge Männer zu sehen, bei der Arbeit, auf der Straße.

Vielleicht will der Film etwas Eindeutiges sagen, in der Richtung: »Wir müssen und werden aus denen da taugliche Mitglieder unserer Gesellschaft machen.« Vielleicht will er sogar andeuten, dass das Militär die Blackbox sein wird, in der diese Fabrikation von guten männlichen Staatsbürgern vonstatten gehen wird.

Aus einer Position heraus, die sowohl zeitlichen als auch räumlichen Abstand zu diesen Aufnahmen hat, kann ich nur feststellen: Es steckt in diesen Bildern so viel Schwung, dass jede spekulative Absicht, jede denkbare Autorenintention zurücktritt vor dem intensiven Eindruck einer gewesenen Realität. Wenn so Suche aussieht (aus diesem Block kommt der Film), dann braucht es kein Finden.

Der schönste Film der Retrospektive beendet sie auch. Er stammt von Mohammed Malas und heißt »Der Traum«. Er wurde 1981 gedreht, in libanesischen Lagern für palästinensische Flüchtlinge, vorwiegend in Sabra und Shatila. Ein Jahr später, daran erinnert nach 45 Minuten der Abspanntext, werden die Lager von der israelischen Armee unter Scharons Kommando bombardiert. Der Text berichtet auch, dass zu keinem der im Film sich äußernden Protagonisten nach dem Massaker ein Kontakt herzustellen war. Der Schnitt für den »Traum« ist schließlich nach sieben Jahren fertig gestellt worden. 1988 gewann der Film in Cannes einen Preis für den besten Dokumentarfilm.

Obwohl 1981 gedreht, wirkt der »Traum« seltsam zeitgenössisch. Er besitzt oft diesen pastellenen Realismus, den man von französischen Spielfilmen der Neunziger kennt. Seine Farben leuchten, das macht ihn weich, dicht und intim und rückt ihn von der Bildintensität her tatsächlich in die Nähe von Traumbildern, von inneren Bildern.

Der Film besitzt eine ganz einfache Grundkonstruktion. Das Gerüst des Films bilden die Menschen, die von ihren Träumen erzählen. Meistens sind es »echte« Träume, Bilder, auf die zu schauen erst möglich wird, wenn das Bewusstsein ruht. Immer wieder tauchen die Toten und Vermissten in ihnen auf. Albträume. Für Wunschträume hat der Film wenig Zeit, sie sind auch zu naheliegend. In einem Wort: Rückkehr - so rechtfertigt sich auch der Singular des Titels.

Immer wieder Fluchtgeschichten, Kampfgeschichten. Sie bilden das Pendant zu den Szenarien des Schlafes und alternieren mit ihnen, denn natürlich sind beide untrennbar miteinander verknüpft.

Männer sind zu sehen und Frauen, Junge und Alte, Uniformierte und Zivile. Ihre »Auftritte« sind ohne penetrante Dramaturgie-Hampelei auf der Zeitachse eines Tages angeordnet. Das erste Bild nach den Titeln zeigt ein leeres Bett. Es steht in einem Garten und ist in mildes Morgenlicht getaucht. Durch den Schleier eines Moskitonetzes erkennen wir im letzten Moment, dass eine Maschinenpistole auf dem Laken liegt.

Nach einer Sequenz, die die Bewohner eines mehrstöckigen Hauses beim Zu-Bett-gehen zeigt, endet der Film mit jungen bewaffneten Männern in Kampfanzügen, die gemächlichen Schrittes im schützenden Schwarz verdunkelter Straßen verschwinden. Dazwischen erzählen sich die Träume und Anekdoten in Verrichtungen und Situationen des Alltags, bei der Arbeit oder in Unterständen, bei der Essenszubereitung, bei der Kindererziehung usw.

Wenige, sehr konzentrierte Landschaftsbilder: eine Autofahrt, begleitet von einem Kampflied aus dem Radio, oder ein 180-Grad-Schwenk von einer Anhöhe, mit einem doppelläufigem Geschütz, das mitschwenkt, wie eine Zielvorrichtung in der Mitte des Bildes zentriert, und das anzeigt, welche Funktion dem Blick hier üblicherweise zugedacht ist.

Von den diversen Protagonisten eine kleine Auswahl: Die verhärmte hagere Mutter hält das Eigenbaugewehr ihres, wie sie sagt, als Märtyrer gefallenen Sohnes in der Hand. Eine bittere Begeisterung funkelt in ihren Augen, als sie vehement darauf besteht, dass das Ding funktioniere. Sie weiß, die Waffe hat sieben Schuss, und wenn man sie benutzt, wird sie ganz heiß.

Eine junge Frau sitzt in einem gekachelten Flur, wünscht sich mit gelassenem Lächeln, auf dem Land ihr eigenes Obst und Gemüse anbauen zu können und verteilt en passant Anweisungen an ihre Kinder, die ab und zu durch das Bild tapern. Mit ungetrübter milder Souveränität begründet sie ihren harschen Ton gegenüber den Kindern damit, dass man Angst haben müsse vor Autos und Bomben, draußen auf der Straße.

In einem kargen Zimmer steht ein Mann vor dem Fenster, auf dem Bett sitzt eine Frau. Ein Liebespaar, das erkennen wir sofort, noch bevor wir den schlaff herabhängenden linken Pulloverärmel des Mannes bemerken. Der Mann erzählt die Geschichte vom Verlust seines Armes, und er erwähnt auch, dass von den Brüdern seiner Freundin einer tot sei und ein anderer nur noch ein Bein habe. Dann essen die beiden, der Mann sagt: »Essen, das heißt ein normales Leben führen.«

Ein anderer junger Mann steht in ähnlich rudimentärer Einrichtung vor einem Che Guevara-Plakat. Es ist irgendwie zu bunt, und Ches Pupillen sind zu klein gemalt, sein Blick hat etwas wildentschlossen Wahnsinniges. Davon hat nicht viel auf den jungen Mann abgefärbt. Wie sediert beschreibt er seine Eindrücke von einer Bombenexplosion mitten auf einem Gemüsemarkt.

Schließlich noch die junge Frau, die in einem Klassenzimmer vor leeren Schulbänken Aufstellung bezogen hat: In ihrem Traum hat sie einen Staatsstreich durchgeführt und dafür das Hauptquartier der Polizei besetzt. Allein vor einem riesigen leeren Blatt Papier fällt ihr einfach kein Text für eine Deklaration ein. Schließlich schreibt sie mit einem ebenfalls überdimensionierten Kuli: Für Demokratie!

Die Moderation dieses letzten Blocks der Retrospektive übernimmt Omar Amiralay. Er gilt als der bekannteste Regisseur des syrischen Kinos und ist in diesem Jahr Mitglied der Wettbewerbsjury in Leipzig. In der Retro-Reihe laufen gleich mehrere Filme, an denen er beteiligt war. Für Malas' »Der Traum« fungierte er als Produzent. In der anschließenden Diskussion betont Amiralay, dass die Aufnahmen 20 Jahre alt sind und dass sich die Träume der Menschen seitdem verändert hätten. Das wird sich inzwischen auch so manche westliche Regierung sagen: »Das waren noch Zeiten, als dem Konzept der Demokratie eine so wichtige Rolle zukam bei den Überlegungen zu einem palästinensischen Staat, dass es sogar im kollektiven Unterbewussten konkurrenzlos dastand.«

Heute, so Amiralay, wohne die ganze Welt der letzten Etappe eines großen Albtraumes bei, so oder so. Da ist es wieder, dieses Depressive. Der längere Interview-Film »Almuderes«, ein Künstlerporträt aus dem seltsamen »Versuche«-Block, kommt mir in den Sinn. Amiralay hat diese Auftragsarbeit 1997 für das Institut du Monde Arabe in Paris gemeinsam mit Malas und einem dritten Freund und Kollegen, dem Regisseur Osama Mohammed, angefertigt. Offenbar eine schnelle Sache: Video, talking head des Künstlers als alter Mann, von einem mehr oder weniger starren Aufnahmestandpunkt aus, zwischendurch Details seiner Ölbilder, einige Male schnüffelt die Kamera durch sein Atelier, das die in ihm beherbergten Dinge nur ungern aus seiner höhlenartigen clair-obscur-Beleuchtung preisgibt. Sicher, das hat auch eine gewisse konspirative Intimität, schöne Bilder sehen aber trotzdem anders aus.

Das Ganze hat viel mit Fernsehen und sehr wenig mit Kino zu tun. Egal. Was der Mann zu sagen hat, ist bewegend, seine Art, sich über die eigene Auseinandersetzung mit der Malerei mitzuteilen, ist eindrücklich. So spricht er von den Farben wie von Kindern, stattet sie mit Charaktereigenschaften aus. Als es um Komposition und Rhythmus geht, formuliert er die Forderung, die gleichzeitig den Reichtum des Malens ausmache: Man muss die Zeit neu erfinden.

Soll »Almuderes« ein Modell sein für Intellektualität in Syrien? Ist der Rückzug, diese Askese und beinahe esoterische Beschäftigung mit einem Spezialgebiet, vorbildhaft für die drei Filmemacher? Etwas, worum sie, stellvertretend für alle enttäuschten »Kämpfer«, den Maler beneiden? Fast sieht es so aus. Da schöpft einer und erhält etwas, mithilfe dessen er durch den Schmerz der Welt hindurchgehen kann. »Almuderes« scheint kraft der Malerei in einem entvölkerten und verdinglichten Reich angekommen, in einer Sphäre der Abstraktionen und Begriffe.

Im Raum hinter der Kamera, die den Maler beobachtet hat, steht die Frage: Wenn die soziale, die unmittelbar politische Welt einem die Mitarbeit am Tagesgeschäft der Bedeutungsherstellung zu selbstgewählten Bedingungen verweigert, welche Optionen bleiben dann für den Film?