Abschied von Diego Maradona

Trau keinem über dreißig

Diego Armando Maradona macht endgültig Schluss.

Nach dem 10. November wird nichts mehr so sein wie vorher. Keine Angst, es folgt nicht das Szenario einer, sagen wir mal, 1:5-Niederlage der Deutschen samt den dazugehörigen psychohistorischen Folgen für die Fußball-Ehre der Nation, die DFB-Präsident Mayer-Vorfelder bereits Wochen vor dem Relegationsspiel gegen die Ukraine beschwört. Am 10. November spielt die deutsche Elf zwar um das WM-Ticket - vor allem aber gibt am 10. November der beste Fußballspieler, den die Welt je gesehen hat, seinen Abschied: Diego Armando Maradona.

Leider elf Jahre zu spät, denn von all dem, was von Maradona seit 1990 auf und neben dem Fußballplatz zu sehen und zu hören war, will in ein paar Jahren niemand mehr etwas wissen: Dopingsperren, verschossene Elfmeter in Serie, Rücktritt, Rücktritt vom Rücktritt, Entziehungskuren, Schüsse auf Journalisten, Abmagerungskuren, Flucht aus Neapel, erfolglose kurze Gastspiele beim FC Sevilla, bei den Newell's Old Boys Rosario und den Boca Juniors Buenos Aires usw. usf.

Jahrzehnte und Jahrhunderte überdauern wird jedoch seine Spielkunst, mit der er die gesamte fußballinteressierte Welt erfreute. Oder, um es mit den Worten des französischen Ausnahmekickers Eric Cantona auszudrücken: »Im Laufe der Zeit wird man sagen, dass Maradona für den Fußball das war, was Rimbaud für die Dichtkunst war.«

Der Vergleich taugt, hinkt aber trotzdem. Denn Rimbaud verschwand schließlich beizeiten nach Nordafrika, und so blieb ihm erspart, einem großen Publikum vorzuführen, wie ein in blutjungen Jahren zum Genie Erkorener im Erwachsenenalter stürzen kann.

Der 30. Oktober 1990, sein 30. Geburtstag, wäre der passende Termin für Maradonas Abschiedsspiel gewesen. Doch tun wir einfach so, als schrieben wir das Jahr 1990, hätten alles vergessen, was danach gekommen ist, und schauen einfach nur zurück.

Im Achtelfinale der Weltmeisterschaft 1990 gegen Brasilien galt die argentinische Mannschaft als krasser Außenseiter. Nur mit Mühe hatte sie die Vorrunde überstanden, und zudem quälte Maradona eine Verletzung. »Mein linker Knöchel war eine Kugel, ja, das war er, ein kleiner Fußball«, heißt es rückblickend in der Autobiografie »El Diego«. Maradona trainierte folgerichtig verstärkt seinen schwachen rechten Fuß. »Ich spielte den Ball immer wieder gegen die Wand, wie ich das als Junge gemacht habe.« Und es half. Gegen die drückend überlegenen Brasilianer, die einen Ball nach dem anderen an den Pfosten setzten und unglaubliche Chancen versiebten, schüttelte er zwei, drei Bewacher ab und spielte aus dem Fußgelenk den tödlichen Pass, mit rechts. Den Claudio Caniggia, das Kaninchen, verwandelte, mit links.

Ja, bereits als kleiner Junge hatte sich El pelusa, der Zottelkopf - so nannte ihn seine Mutter Tota -, ganz allein viele Tricks beigebracht. »Jeder Schritt«, erzählt Maradona, »den ich unternahm, hatte mit dem Fußball zu tun.« Verwundert blickten ihm die Leute hinterher, wenn er eine Orange auf seinem linken Fuß jonglierte, während er mit dem rechten die Stufen der örtlichen Eisenbahnbrücke hinaufhüpfte. Und bald darauf bekam er auch Gelegenheit, sein Spiel auf großer Bühne darzubieten. Als neunjähriger Balljunge schnappte er sich in der Halbzeitpause der Partie Argentinos Juniors gegen Boca Juniors gierig einen der erstklassigen Bälle und begann sein gewohntes Spielchen. Vom linken auf den rechten Fuß, vom Absatz auf den Kopf, in den Nacken, von dort aufs Knie, wieder und immer wieder. Die Zuschauer klatschten und riefen »Da-bleiben, da-bleiben, da-bleiben, da-bleiben!«, als die Mannschaften wieder einliefen. Von da an nannten sie ihn in Argentinien nur noch pibe de oro, was wörtlich übersetzt Goldjunge bedeutet.

14 Jahre später musste Maradona einen Fußball oft nur ein einziges Mal berühren, um das Publikum zu verzücken. Bei der offiziellen Vorstellung im Stadion San Paolo sagte er: »Guten Abend, Neapolitaner, ich freue mich sehr, bei euch zu sein« und drosch den Ball auf die Ränge. 80 000 Zuschauer tobten vor Begeisterung.

Am 16. September 1984 lief Diego Maradona zum ersten Mal im Trikot des SSC Neapel auf, in Verona, wo seinerzeit Hans-Peter Briegel, die Walz aus der Pfalz, sein Unwesen trieb. Maradona blickte auf die Tribüne und sah Transparente mit der Aufschrift »Willkommen in Italien«. Sofort begriff er: Das war keine ihm gewidmete freundliche Begrüßung, die Neapolitaner waren gemeint. »Es spielte der Norden gegen den Süden, die Rassisten traten gegen die Armen an.«

Die Vereine aus dem Norden, Juventus Turin, Inter und AC Mailand, meinten, den Scudetto für sich gepachtet zu haben. Gut, einer der römischen Clubs durfte hin und wieder diese Phalanx durchbrechen, aber Neapel? Undenkbar. Doch Maradona führte den Club, der in Italiens Liga bis zu seinem Erscheinen etwa die Rolle spielte, die dem FC St. Pauli in der Bundesliga vorbehalten ist, zwischen 1987 und 1990 zu zwei Meisterschaften, zwei Vizemeisterschaften und einem Pokalsieg.

Den Uefa-Cup holte sich der SSC Neapel 1989 im Finale gegen den VfB Stuttgart. Und wie den Lombarden blieb auch den Schwaben die Häme im Hals stecken, mit der sie Maradona bedachten. Als letzter seiner Mannschaft betrat er, begleitet von einem gellenden Pfeifkonzert, das Neckarstadion. Maradona nahm sein liebstes Spielzeug auf den Fuß, jonglierte es über den Kopf auf die Hacke und wieder zurück, drosch den Ball dann 15 Meter senkrecht in die Höhe und fing ihn mit dem Spann auf. Daraufhin herrschte ehrfurchtsvolle Stille im Stadion. Ein Sieg des VfB schien unmöglich - und das war er letztlich auch.

Nun werden Fußballspiele allerdings bekanntlich nicht mit artistischen Einlagen gewonnen, aber genauso wie diese beherrschte Maradona auch das Spiel auf dem großen Rasenplatz. Für die FAZ versuchte damals der Sportjournalist Hans Blickensdörfer, hinter das Geheimnis seiner Kunst zu kommen, ganz materialistisch. Das Ergebnis: Wie bei Gerd Müller und dem legendären Brasilianer Garrincha liege Maradonas Körperschwerpunkt extrem weit unten, was in Kombination mit seinen kurzen Unterschenkeln das virtuose Dribbling auf engstem Raum ermögliche. Dazu habe er, neben einer perfekten Freistoßtechnik im Stile Platinis, die Fähigkeit besessen, eine »Idee, die zwischen Kopf und Fußspitze zuckt, in einer halben Sekunde noch dreimal zu wechseln«.

Unvergessen bleiben Maradonas Alleingänge, während deren er mit dem Ball am Fuß in die Gegner hineinlief wie ein junger Stier im Format einer gepanzerten Herrenhandtasche und so alle Grätschen und Zangen durchbrach. Sein berühmtestes Tor, das nicht nur Franz Beckenbauer zum schönsten des vergangenen Jahrhunderts erkor, steht dafür als einmaliges Exempel. Maradona erzählt selbst, was er 1986 im WM-Viertelfinale gegen England vollführte: »Ich startete von hinten, von der Spielfeldmitte (...), lief zwischen Beardsley und Reid hindurch. Mit einem Schlenker nach innen zog ich an Butcher vorbei. (...) Wenn Fenwick mich angriff, würde ich auf Valdano spielen, und der stünde dann frei gegen Shilton. Aber Fenwick griff mich nicht an! Darauf legte ich mir den Ball vor, täuschte nach innen und ging nach außen. (...) Ich machte was, und Shilton fiel auf die Täuschung herein. (...) Dann lief ich auf die Torlinie zu und drosch ihn, zack, rein. (...) Ich hatte das Tor meines Lebens geschossen.« Ein Tor, wie es ihm sein damals siebenjähriger Bruder Turco bereits im Jahr 1981 prophezeit hatte.

Damals wollte Diego Maradona im Alter von 21 Jahren mit dem Fußball Schluss machen. »Es macht keinen Spaß mehr, Idol zu sein«, bekannte er gegenüber der argentinischen Sportzeitung El Gráfico. »Mein größtes Verlangen ist es, wieder einmal mit kleinen Jungen Fußball spielen zu können, in einem Stadion voll von kleinen Jungen.« Dieser Wunsch wird wohl nicht in Erfüllung gehen, wenn er am 10. November zum letzten Mal das Stadion der Boca Juniors Buenos Aires, La Bomboñera, zu deutsch: die Pralinenschachtel, betritt. Obwohl die Verwirklichung dieses Traumes vielleicht auch nur eine Frage der Sichtweise ist.

Denn ein kleiner Junge wird mit Sicherheit mitspielen. Einer, den Maradona mehrmals als seinen besten Gegenspieler bezeichnet hat. Einer, der zu einer Zeit, als er noch weit entfernt von einer vorangeführten Drei im zweistelligen Altersergebnis war und kurz vor seinem Wechsel zu Borussia Mönchengladbach stand, in seinem ersten Interview auf die Frage, wer denn seine Fußballschuhe putze, in breitem Fränkisch erwiderte: »Meine Mutter.« Einer, der Lothar Matthäus heißt und wahrscheinlich heute noch von den technischen Möglichkeiten Maradonas träumt.