Der Aktivist Bill Brown über die Videoüberwachung in New York

»Aufpasser und Bullen - fuck them!«

Knapp 3 000 Überwachungskameras hat die amerikanische Bürgerrechtsinitiative American Civil Liberties Union (ACLU) allein in Manhattan gezählt. Dass man in New York inzwischen praktisch auf Schritt und Tritt gefilmt wird, hat Bill Brown so aufgebracht, dass er seinen Job als Lehrer an einem College kündigte, um sich ganz dem Kampf gegen die um sich greifende Überwachungsmanie widmen zu können. Heute arbeitet er, um Geld zu verdienen, halbtags als Korrektor bei der Werbeagentur McCann; in seiner Freizeit gibt er das anarchistische Fanzine Not bored heraus und organisiert die Inszenierungen der Surveillance Camera Players.

Was machen die Surveillance Camera Players?

Wir führen Theaterstücke vor Überwachungskameras auf. Das sieht so aus, dass wir große handgemalte Schilder mit den Dialogen hochhalten, und dazu Pantomime aufführen. Die Überwachungskameras zeichnen nämlich keinen Ton auf. Wir haben sechs Stücke im Repertoire. Einige von ihnen sind für die Aufführung an bestimmten Orten geschrieben worden, z.B. in Kirchen, die Überwachungskameras haben.

Nach welchen Kriterien wählt ihr die Stücke aus? Einige erscheinen wie eine logische Wahl, etwa »1984«, aber warum spielt ihr zum Beispiel »Warten auf Godot«?

Wir haben »Godot« als eine Art Witz über das Stück selbst ausgewählt, weil es in ihm natürlich nur Worte und keine Handlung gibt. Überwachungskameras nehmen keinen Ton auf, darum muss jede Aufführung von »Godot« ohne Ton sein. Wir spielen diese Witzstücke aber nicht mehr. Seit November 1998 führen wir nur noch Stücke auf, die wir selbst geschrieben haben und in denen es um die Themen Überwachung und Datenschutz geht.

Was habt ihr gegen Überwachungskameras?

Der Einsatz von Überwachungskameras durch die Polizei ist eine klare Verletzung des vierten Artikels der amerikanischen Verfassung. Das hat der Supreme Court 1967 in einer Entscheidung bestätigt.

Trotzdem haben sie sich in den letzten Jahren durchgesetzt, und gleichzeitig ist die Kriminalitätsrate in New York gesunken ...

Das Verbrechen in New York ist zurückgegangen, weil der Bürgermeister jede Menge arme Leute festnehmen ließ. Die Stadt und die Polizei wollen mit den Kameras politischen Protest überwachen.

Ihr sagt, euer Publikum ist der Mensch, der vor dem Überwachungsmonitor sitzt. Warum der ganze Aufwand für eine einzige Person?

Unser wirkliches Publikum sind die Leute, die uns auf der Straße zusehen, weil sie zufällig gerade vorbeikommen. In New York sind das meist ziemlich viele Menschen, weil wir in sehr belebten Gegenden auftreten. Es war ein Witz, als wir gesagt haben, dass wir unsere Stücke für die gelangweilten Aufpasser und Bullen spielen. Fuck them!

Vor diesen Kameras aufzutreten hat trotzdem etwas Absurdes, aber das ist wohl beabsichtigt.

Wir finden die ganze Logik dieser Überwachung absurd. Die Kameras machen die Leute paranoid, weil sie sich rational verhalten und keine Verbrechen begehen sollen. Aber paranoide Leute sind nicht rational.

Welchen Effekt erwartet ihr von diesen Aufführungen?

Erstens wollen wir die alltägliche Routine der Leute unterbrechen und ihnen zeigen, dass es keinen Grund gibt, sich von diesen Kameras einschüchtern zu lassen. Außerdem wollen wir zeigen, dass nicht alle Proteste laut und langweilig sind, sondern dass man das auch mit Humor tun kann und dass auch Einzelne und kleine Gruppen viel erreichen können.

Diese Strategie der Unterbrechung des Alltagslebens wird heute auch von anderen angewendet. Zum Beispiel im Marketing, und ganze Einkaufszentren werden so gebaut, dass die Besucher aus ihrer Alltagstrance gerissen werden. Warum glaubt ihr, dass eure Methode funktioniert? Und denkt ihr wirklich, dass eure handgemalten Poster wahrgenommen werden, obwohl sie sich zwischen perfektem Werbedesign im öffentlichen Raum und gegen »Schock«- oder »Guerilla-Marketing« behaupten müssen?

Marketing - auch scheinbar radikale Werbung - soll die Leute ja gerade in ihrer Trance halten statt sie aufzuwecken. Die Werbung gehört zu genau den Dingen, die zu dieser Alltagstrance führen, und die wollen wir durchbrechen. Und was den Gegensatz zwischen den Werbern und uns betrifft: Wir sehen unprofessionell, sogar absurd aus, oder? Gut!

Wie reagiert das Publikum auf eure Auftritte?

Die Überwacher finden es oft lustig, bis wir ein Plakat zeigen, auf dem steht: »Kümmert euch um euren eigenen Kram!« Der Rest des Publikums ist meist auf unserer Seite - wenigstens wenn es darum geht, dass auf die Kameras hingewiesen werden muss. Nur wenige erzählen uns den Quatsch von der Verbrechensbekämpfung.

Ist eure Arbeit von den Theorien der Situationisten beeinflusst worden?

Ja, sogar sehr stark. Was wir machen, ist ein »Détournement« des Spektakels der Überwachungskamera. Wir machen sie nicht kaputt, wie es militante Anarchisten tun würden. Wir schreiben auch nicht an unseren Kongressabgeordneten, wie es gute Linke tun würden. Wir benutzen die Kameras zu anderen Zwecken als denen, für die sie gedacht waren. Ich bin mir allerdings sicher, dass die Situationistische Internationale Einwände dagegen gehabt hätte, wie stark wir mit den Massenmedien zusammenarbeiten.

Danach wollte ich gerade fragen. Wenn ihr das Spektakel - wie die Situationisten die Massenmedien genannt haben - ablehnt, warum beteiligt ihr euch dann daran, zum Beispiel, indem ihr Fernsehinterviews gebt?

Wir füttern das Spektakel mit Gift, das wie Vogelfutter aussieht.

Seht ihr euch in der Tradition des politischen Straßentheaters der siebziger Jahre?

Ja. Wir sind große Fans des Living Theatre.

Gruppen wie das Living Theatre gibt es kaum noch, und ein Grund dafür könnte sein, dass sich unsere Wahrnehmung des öffentlichen Raums geändert hat. Vielleicht finden der wahre soziale Diskurs und das wirkliche öffentliche Leben nicht mehr auf der Straße statt, sondern in den Medien. Daher könnte man argumentieren, dass diese Art des Straßentheaters nicht mehr »die Öffentlichkeit« erreicht oder nur noch einen kleinen Prozentsatz.

Aber das Living Theatre gibt es noch, und es ist immer noch sehr lebendig. Sie treten sowohl in traditionellen Theatern wie auch in der Öffentlichkeit auf. Was deine Kommentare über »die Medien« betrifft, mag das für manche Leute wahr sein, nämlich für die mit Geld, Macht und Zugang zu den Medien. Denen mag der öffentliche Raum in der Tat unnötig oder unerfreulich und gruselig vorkommen. Aber es gibt einige Leute, für die die Straße und der öffentliche Raum buchstäblich alles sind, die Obdachlosen natürlich, aber auch andere.

Welche Rolle spielt das Internet bei dem, was ihr macht?

Es erlaubt uns, in Kontakt mit Gleichgesinnten in der ganzen Welt zu treten. Dadurch werden auch Leute auf uns aufmerksam, die Englisch nicht als Muttersprache sprechen. Über uns wurde schon auf Spanisch, Portugiesisch, Französisch, Holländisch und Deutsch berichtet.

Könntet ihr euch vorstellen, wie eure Praxis auf die Massenmedien oder das Internet angewendet werden könnte?

Die Strategie des »Détournement« kann man auf jeden Fall auf die Massenmedien anwenden. Die Situationisten selbst haben Comics, Gemälde, Filme und andere Medien umgewidmet. Wir selbst treten oft vor Webcams auf, die wir als eine Art Fernüberwachung betrachten. Das sind digitale Kameras im Gegensatz zu vielen der »richtigen« Überwachungskameras, die zum Teil noch analog sind. Wir wollen darauf aufmerksam machen, wie leicht man Webcams mit Software zur Gesichtserkennung verbinden kann.

Das Internet ist eine riesige Überwachungsmaschinerie, aber diese Überwachung kann man bis zu einem gewissen Grad auch umdrehen. Wenn das amerikanische Militär mir hinterherspioniert, kann ich das Internet auch dazu benutzen, um diese Art der Spionage aufzudecken und anzuklagen.

Das leicht gekürzte Interview entstammt dem Band »Neue Materialien zur Netzkunst«. Hrsg. vom Institut für moderne Kunst Nürnberg. 260 S., DM 63 (Euro 32)