Der Heimatbund Rotenburgs verharmlost Nazi-Verbrechen

Die Kanada-Lüge

Bis zur Errichtung eines Mahnmals im Jahre 1989 wurde im niedersächsischen Rotenburg viel über die Opfer des Nationalsozialismus in der Kreisstadt geredet, etwa über die rund 600 im Zuge des Euthanasieprogramms ermordeten Behinderten der Rotenburger Anstalten und über das Schicksal der Familie Cohn.

Nun entpuppt sich ein Beitrag in einer regionalgeschichtlichen Publikation als Versuch, die Geschichte der Judenverfolgung in Rotenburg umzuschreiben. In den vom Heimatbund herausgegebenen Rotenburger Schriften befragte Gernot Breitschuh sechs »ältere Mitbürger«: »Gibt es eigentlich Anekdoten, lustige Erlebnisse aus jener Zeit?«

Die Antworten haben es in sich. Da gab es in »jener Zeit« einmal einen »Halbjuden«, der hat geklaut, erzählten die Zeitzeugen. »Wir haben ja hier keine Juden gehabt außer Kohn und Heidelberg, äh ... Heilbronn«, fiel ihnen noch ein. »Die Alten sind ja in Berlin umgekommen.« Ein anderer korrigierte: »Der alte Kohn, so weiß ich es jedenfalls, ist nach Süddeutschland gegangen, nach Freiburg oder so. Denn hier war der ja praktisch pleite, der war zu gut für diese Welt.«

Tatsächlich gingen das Ehepaar Hermann und Gertrud Cohn 1939 nach Berlin und warteten dort vergeblich auf Papiere für die Ausreise. 1943 wurden sie nach Auschwitz deportiert und dort umgebracht.

Der Holocaust als stinknormaler Umzug? Breitschuh rechtfertigte sich, er habe das Gespräch nur abgetippt und es nicht besser gewusst. In den achtziger Jahren, als die Cohns in Rotenburg ein Politikum waren, war Breitschuh der Schulrat des Landkreises. Um die Scharte auszuwetzen, kündigte der Heimatbund zunächst für die in diesen Tagen ausgelieferte Ausgabe der Rotenburger Schriften eine Darstellung des Schicksals der Familie Cohn an.

Noch bevor die dafür vorgesehene Autorin sich an die Arbeit machte, zog der Vorstand des Heimatbundes dann aber die Entscheidung zurück. »Es geht uns darum, die Rotenburger Schriften aus politischen Auseinandersetzungen herauszuhalten, wie wir sie für den Fall einer Veröffentlichung befürchten«, wurde erklärt.

Aber welche »politische Auseinandersetzung« ist gemeint? Sabrina Tappe, die Vorsitzende des Vereins, bleibt die Antwort schuldig. Vielmehr verweist sie auf eine angeblich ungeklärte Quellenlage zur Judenverfolgung in Rotenburg und versucht die Ermordung von Hermann und Gertrud Cohn in Zweifel zu ziehen. Es gebe da verschiedene Versionen, sagt sie. »Verwandte, die auch in Auschwitz gestorben sein sollen, wurden noch letztes Jahr von Touristen in Kanada gesehen.«

In Fachkreisen ist man entsetzt über den Heimatbund. Mit »oral history«, wie der promovierte Historiker Breitschuh argumentiert, habe sein Beitrag nichts zu tun, attestieren ihm Fachkollegen. Sein »Erstaunen« und »Entsetzen« formulierte Jürgen Bohmbach, Stadtarchivar in Stade und Vorsitzender des Vereins Spurensuche, der sich mit der Geschichte der Juden in Niedersachsen und Bremen befasst, in einem Brief an den Heimatbund. Breitschuhs Vorgehen mache die Juden in Rotenburg zu »Unpersonen«.

Was die NS-Geschichte anbelangt, gingen die Uhren in Rotenburg freilich schon immer ein bisschen anders. Bis 1994 dauerte es, ehe die so genannte Stille Hilfe, ein Altnazi-Netzwerk, das von Gudrun Burwitz, einer Tochter Himmlers, unterhalten wurde, ihre Rotenburger Geschäftsstelle aufgeben musste. Selbst der Stadtdirektor hatte den Unterstützern von Kriegsverbrechern wie zuletzt Anton Malloth juristisch beratend beigestanden.