»Berliner Barbaren« von Uwe Rada

Die Russen kommen

Schon heute leben mehr osteuropäische als türkische Zuwanderer in Berlin. In seinem neuen Buch richtet Uwe Rada den Blick nach Osten.

Sprechen »die Berliner« von Frankfurt, ist auch zwölf Jahre nach dem Mauerfall wie selbstverständlich die Stadt am Main gemeint, nicht aber Frankfurt an der Oder. Immer den Westen fest im Blick, bemerkt kaum jemand die neuen Migranten, die in den letzten beiden Jahrzehnten aus der entgegengesetzten Richtung die Stadt erreicht haben.

So lautet die zentrale These des neuen Buches des taz-Autors Uwe Rada: »Berliner Barbaren - wie der Osten in den Westen kommt«. Etwa 200 000 russischsprachige Menschen leben heute in Berlin, schätzt die Ausländerbeauftragte des Senats, Barbara John. Doch nur 29 000 von ihnen sind hier polizeilich als russische Staatsbürger gemeldet, die anderen sind entweder so genannte Russlanddeutsche, russisch-jüdische Kontingentflüchtlinge oder so genannte Illegale, die ohne die erforderlichen Papiere hier wohnen. Inzwischen übertreffen die in der Stadt lebenden Zuwanderer aus Osteuropa deutlich die Zahl der Berliner türkischer und kurdischer Herkunft.

Dem 1963 im schwäbischen Göppingen als Sohn tschechisch-deutscher Einwanderer geborenen Rada geht es um »Texte für die Stadt von morgen«. Da der EU-Beitritt des keine 80 Kilometer von Berlin entfernten Polen in zwei Jahren bevorsteht, werde die Migration aus Osteuropa die zentrale Auseinandersetzung der kommenden Jahre in der Stadt sein, so Rada. Daher gelte es, die Blickrichtung und damit die Perspektive zu ändern. In den letzten Jahren machte sich der seit 1990 im Ostteil der Stadt lebende Rada einen Namen als kritischer Beobachter der Berliner Stadtentwicklung. Aus der MieterInnenbewegung kommend, nahm er dabei immer einen Blick von unten ein. 1997 erschien sein Buch »Hauptstadt der Verdrängung - Berliner Zukunft zwischen Kiez und Metropole«.

Obwohl, wie schon das Telefonbuch beweist, ein Drittel der Berliner einen slawischen Nachnamen besitzt, ist der Diskurs in der Stadt von antislawischen Ressentiments durchsetzt. »Von den Kulturnationen Frankreich und Italien haben die Deutschen Käse, Wein, Olivenöl, Pasta und Pesto übernommen, von der fremden Kultur der Türkei immerhin den Döner Kebab. Am untersten Ende des 'Ethno-Rankings' stehen freilich die slawischen Länder und ihre Bewohner, die nicht mal eine fremde Kultur aufzuweisen haben, sondern scheinbar gar keine.« Osteuropäer werden vielerorts als »Barbaren« wahrgenommen, so Rada. In vielen Medien werden Worte wie »Russen« und »Mafia« oder »Rumänen« und »Bande« wie selbstverständlich miteinander kombiniert und nisten sich im Unbewussten ein. Wenn er nicht zur Ausmalung von Bedrohungsszenarien diene, wolle man »den Osten« am liebsten ignorieren.

Rada nimmt den Leser mit und führt ihn durch die »ostigen« Seiten Berlins. »Schau hier, schau da«, macht er die Leser immer wieder auf Momentaufnahmen mit Slawisch sprechenden Menschen aus dem Berliner Alltag aufmerksam. Doch die Spaziergänge führen uns nicht ins inzwischen in der offiziellen Berliner Kultur angekommene »Kaffee Burger« mit seiner »Russendisko« oder zu den russophilen Events des Berliner Bürgertums.

Es geht hinaus in den »Osten«. Zuerst zum Ostbahnhof, wo sich »Buden, Imbisse, Kioske und ein Wochenmarkt festgesetzt haben und dem Platz den osteuropäischen Charme eines zum Dauerzustand gewordenen Provisoriums verleihen«. Weiter geht's zum Bahnhof Lichtenberg. Hier kommen die Züge aus Kiew, Moskau und Saratow an. Und nach Marzahn.

Inzwischen leben in dem Ostbezirk über 14 000 Spätausssiedler. Aus Russland als »Deutsche« ausgewandert, kommen sie in Marzahn als »Russen« an. Da hilft auch der deutsche Pass nichts. In einzelnen Hochhäusern rekonstruieren sie ihr »russisches« Straßendorf, nur eben in der Vertikalen. Rada führt uns in die Havemann-Passagen in Marzahn-Nord, wo vietnamesische, russische und türkische Geschäfte sich zu einer bunten Mischung zusammengefunden haben. Zum Döner gibt es nun auch den 60prozentigen Wodka.

Weiter geht's zum deutsch-polnischen Grenzübergang in Kostrzyn und zum dortigen »Polenmarkt«, nach Görlitz, nach Lodz, der Textilstadt südlich von Warschau, auf den »Chinesenmarkt« in Budapest und schließlich bis zur Ostgrenze Polens. Hier kann man ein ähnliches Wohlstandsgefälle wie an der Oder und der Neiße und damit korrespondierende Ein- und Ausgrenzungspraktiken beobachten. In Przemsyl, der Grenzstadt zur Ukraine, befindet sich einer der größten »Russenmärkte« in Polen. Will Polen am europäischen Binnenmarkt und kontrollfreien Reiseverkehr teilhaben, muss das Land seine Ostgrenze dicht machen.

So wird der polnisch-russische Grenzfluss Bug, Europas neuer Rio Grande, nach und nach unpassierbar gemacht. Doch kaum ist eine Beobachtung in den Blick genommen, zieht einen Rada schon weiter. Manchmal ähnelt es einer Rundreise »Ganz Osteuropa in fünf Tagen«, zur Vertiefung bleibt kaum Zeit. Etwas zu einseitig hat Rada seine Gesprächspartner ausgewählt: Teilnehmer von Regierungskonferenzen und Wirtschaftskongressen oder so manch einen Bürgermeister. Ausführliche Begegnungen mit polnischen Punks und ukrainischen »Ameisenhändlern« hätten die Perspektive des Buches sicher noch erweitert.

Radas Verdienst ist es, den Blick auf die »östlichen« Realitäten, Widersprüche und Chancen Berlins zu lenken. Allein deshalb lohnt sich die Lektüre. Doch in seinen Beschreibungen bleibt er nach allen Seiten »anschlussfähig«. Sein Gestus des »schaut her, keiner sieht es, nur ich«, ist unübersehbar. Aber hier täuscht er sich. Denn inzwischen hat nicht nur das Berliner Stadtmagazin zitty »den Osten« sehr wohl im Blick, sondern auch der westeuropäische Kapitalismus.

Sicher, für die Frontstadt-Berliner beginnt der »wilde Osten« immer noch am Alexanderplatz. Trotzdem haben sich gerade andere Fraktionen des Berliner Bürgertums entschieden, den Osten in Gestalt der PDS an der Macht zu beteiligen. Wenn der Tagesspiegel die drohende »Marzahnisierung« Berlins beklagt, kann man das auch als Rückzugsgefecht der abgehalfterten Eliten Westberlins lesen. Dabei bemerkt auch Rada den geringen Unterschied zwischen der osteuropäischen selbst organisierten Subsistenzökonomie und dem Glücksrittertum der aus dem Osten eingewanderten neoliberalen Unternehmer ihrer selbst. Die Stadt Berlin dürfte, so sieht es Rada, die »einzige Chance ergreifen, die ihr bleibt«, und sich als »westlichste Stadt Osteuropas« in den Standortwettbewerb begeben. »Schließlich bestehe«, wie der von Rada zitierte Ökonom Stefan Welzk in kalter Sachlichkeit schreibt, »die einzige wirtschaftliche Chance, die Berlin, das Armenhaus der Republik«, überhaupt habe, »in eben jener informellen Ökonomie, die die neuen Zuwanderer aus dem Osten mit sich bringen. Eine Vielfalt von slawisch inspirierter Schattenwirtschaft wird die Legalökonomie überlagern, neben ihr wachsen und in sie eindringen. Berliner Firmen werden auf originelle und fast unschlagbar preiswerte osteuropäische Intelligenz zurückgreifen können.« So kann es auch aussehen, wenn im Kapitalismus »endlich der Blick nach Osten gewendet wird«.

Uwe Rada: Berliner Barbaren. Basisdruck Verlag, Berlin 2001, 248 S., DM 38 (Euro 19,40)