Gipfeltreffen der EU in Belgien

Fahne im Wind

Die EU hat auf ihrem Gipfeltreffen in Brüssel den ersten Einsatz einer europäischen Armee beschlossen.

Für »mehr soziales Europa«, gegen das Anti-Terror-Paket der EU und gegen den Krieg in Afghanistan gingen am vergangenen Donnerstag rund 80 000 Menschen in Brüssel auf die Straße. Am Vortag des EU-Gipfels hatte der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) dazu aufgerufen, und vor allem seine belgischen und französischen Mitglieder waren erschienen.

Aber auch die Fahnen von Solidarnosc, des Deutschen Gewerkschaftsbundes oder von slowakischen und kroatischen Gewerkschaften wehten im kalten Brüsseler Wind. »Seit dem Gipfel in Nizza vor einem Jahr gab es Fortschritte, doch das soziale Europa kommt nur mit kleinen Schritten voran«, stellte der Generalsekretär des EGB, Emilio Gabaglio, verhalten optimistisch während der Auftaktkundgebung fest.

Zugleich wurde jenseits der Mauern des Laekener Schlosses am Brüsseler Stadtrand etwas ganz Anderes erörtert: der erste offizielle Militäreinsatz einer gesamteuropäischen Armee. »Ich denke, dass man von einem Wendepunkt in der Geschichte der Europäischen Union reden kann«, jubelte Belgiens Außenminister Louis Michel, als er am Freitagabend der überraschten Presse von einem unmittelbar bevorstehenden »wichtigen Präzedenzfall« berichtete.

Alle 15 Mitgliedsstaaten würden zusammen eine Friedenstruppe von 4 000 Soldaten nach Afghanistan entsenden. Mit dem Gipfel in Schloss Laeken geht Belgiens Präsidentschaft der Europäischen Union zu Ende, eine Aufgabe, die alle sechs Monate ein anderes EU-Mitglied übernimmt. Bevor Spanien an der Reihe ist, wollte Michel offensichtlich historische Akzente setzen.

Seine beherzte Initiative war jedoch selbst den ungeduldigsten Kriegsbefürwortern unter seinen Kollegen etwas zu voreilig. »Selbst wenn wir wollten, könnten wir nicht«, sagte der deutsche Außenminister Joseph Fischer vor Journalisten. »Diese Angelegenheit wird innerhalb des UN-Sicherheitsrates geregelt.« Fischer meinte, zwar müsse die EU in Afghanistan sichtbar sein, noch aber sei »man nicht so weit mit den Strukturen« der eigenen Verteidigungspolitik.

Es gebe in diesem Punkt keine Kontroverse, sondern ein »Missverständnis«, stellte Bundeskanzler Gerhard Schröder am Freitagabend fest. Auch dass der Einsatz vom Beschluss des UN-Sicherheitsrates abhängt, der Zeit und Raum bestimmt. Deutschland wird möglicherweise mit 1 500 Mann an der Aktion beteiligt sein. Die EU werde keine eigene Truppe entsenden, aber in Gestalt der militärischen Einheiten ihrer Mitgliedsstaaten dabei sein, so Schröder.

Dennoch hat Europa seit dem Laekener Gipfel faktisch eine eigene Armee. Bis 2003 soll ein Heer von 60 000 Soldaten für Kriseneinsätze bereitstehen. Bei Bedarf soll es innerhalb von 60 Tagen einsatzfähig sein und bis zu einem Jahr in einem Umkreis von 3 000 Kilometern aktiv sein können.

Die Europäische Schnelle Eingreiftruppe ist seit Jahren ein Thema, über das sich die 15 Mitgliedsstaaten lange Zeit nicht einigen konnten. Doch seit dem 11. September kommen sie sehr zügig voran, vor allem in der Frage, welche Aufgaben die Truppe übernehmen soll.

Bislang ist sie lediglich für die so genannten Petersberg-Aufgaben vorgesehen. Dazu gehören humanitäre Einsätze, friedenserhaltende und friedensschaffende Maßnahmen im Krisenmanagement. »Wenn wir sagen, die Eingreiftruppe ist funktionsbereit, meinen wir, dass ihre wesentlichen Aufgaben darin bestehen, humanitäre Missionen zu erfüllen«, hatte der britische Europa-Minister Peter Hain noch kürzlich betont. »Und nicht, dass die Truppe befugt ist, sich an friedenserzwingenden Maßnahmen zu beteiligen.«

Doch nach den Attentaten in den USA würden manche EU-Minister das Betätigungsfeld der Truppe gerne ausdehnen. »Die Idee ist Schritt für Schritt entwickelt worden«, sagte Belgiens Premierminister Guy Verhofstadt Anfang Dezember. »Der 11. September war das Element, das die Sache beschleunigt hat.« Im Gespräch sind die Beteiligung an Bombardements wie in Afghanistan und die Schaffung von Spezialeinheiten. Am vergangenen Samstag beschlossen die Regierungschefs der EU dann, eine 4 000 Personen starke Friedenstruppe nach Afghanistan zu entsenden.

Diese Entscheidung war bis kurz vor dem Gipfel noch umstritten. Griechenland wollte sich an der Einheitstruppe nicht beteiligen, weil die EU ein Abkommen mit der Türkei getroffen hatte. Um die Truppe aufzustellen, muss die Union auf Strukturen und die Ausrüstung der Nato zurückgreifen. Doch dies wurde in den letzten zwei Jahren, trotz intensiver Verhandlungen, von der Türkei blockiert, die ein Vetorecht bei Operationen in ihrer Sicherheitssphäre verlangte.

Die EU hat sich zwar bereits mit der Türkei auf ein Mitspracherecht bei den Aktivitäten der schnellen Eingreiftruppe geeinigt, doch nun macht Griechenland Schwierigkeiten: Man brauche eine Garantie, erklärten seine Vertreter in Laeken, dass die Vereinbarungen die strategischen Interessen Griechenlands nicht gefährden.

Belgiens Premierminister Guy Verhofstadt hatte zwar am Rande des Gipfels angekündigt, dass »die letzten Hürden, um eine Einigung über das EU-Nato-Abkommen zu erreichen«, schon in den nächsten Wochen und Monaten überwunden würden. Dennoch fiel die groß angekündigte Geburtsstunde der EU-Armee etwas weniger feierlich aus als geplant. Denn ohne einen Zusatzpakt, in dem festgehalten ist, dass die EU die Nato-Logistik grundsätzlich nutzen kann, schwindet die Glaubwürdigkeit der neuen Truppe.

Insbesondere das Abkommen mit der Türkei dürfte einem schnellen Einsatz noch längere Zeit im Weg stehen. Jedes Mal, wenn in einer Operation der Eingreiftruppe auf die Nato zurückgegriffen werden soll, müssen die Mitglieder des Nordatlantik-Bündnisses darüber entscheiden. Eine äußerst umständliche Prozedur.

Und der Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei dürfte nicht das einzige Problem bleiben. Ob die EU-Truppe überhaupt mit den US-Streitkräften mithalten können, ist ungewiss. Auch wenn es kaum an Soldaten fehlen wird, ist die Mängelliste des gesamteuropäischen Kriegsmaterials lang.

Die verschiedenen Armeen verfügen über unterschiedliche, zum Teil nicht kompatible Waffensysteme. Es hapert an einem abhörsicheren Kommunikationssystem, es gibt keine europäische Satellitennavigation. Im Arsenal fehlen zudem Präszisionswaffen wie Cruise Missiles oder Abwehrgeschosse sowie adäquate Transportkapazitäten auf dem Wasser oder zu Land.

Demnach wäre die EU gar nicht in der Lage, ihre Rapid Reaction Force schnell in die anvisierten Krisengebiete zu befördern. Nach Meinung von Experten wären dazu mehr als 60 Seetransporter notwendig, bislang stehen aber nur sechs bereit. Um die größten Lücken zu schließen, wäre es notwendig, die militärischen Aufgaben und die dazugehörige Materialbeschaffung in ganz Europa zu verteilen. Doch die Finanzierung der Truppe sowie des gemeinsamen Arsenals ist immer wieder ein Streitthema zwischen den 15 EU-Staaten.

Das International Institute for Strategic Studies (IISS) kam im Oktober in seiner Untersuchung »The Military Balance 2001-2002« zu dem Schluss, dass die europäischen Staaten ihre Budgets und Strukturen den militärischen Realitäten anpassen müssen. Dafür liefere die in Deutschland geführte Debatte über eine Modernisierung der Armee viele Anregungen.

Das Fazit dieser Studie: Für eine effiziente Truppe müssen die EU-Staaten künftig viel Geld aufbringen. Nicht nur deswegen wird sie ein fester Punkt auf der Tagesordnung der EU-Gipfel sein.